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Linke Perspek­ti­ven. Ein aktueller Litera­tur­be­richt

aus vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken, S. 221-234

Die Zukunft der Linken beginnt mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit. Diese Sonntagsredensentenz bekommt nach einem weitreichenden Machtverlust wie bei der Bundestagswahl im September 2005 eine innere Logik. Was sind die tieferen Ursachen für die Abwahl der rot-grünen Regierung nach sieben Jahren im Amt? Welche Konsequenzen lassen sich daraus ziehen? Schon am Ende der ersten Legislaturperiode analysierten die vorgänge die Politik von SPD und Grünen (vorgänge 157, Heft 1/2002: „Rot-Grün – eine Bilanz“). Seither halten sich grundsätzlich neue Deutungsversuche in Grenzen, was sich jedoch mit wachsendem Abstand alsbald ändern dürfte. Eine historische Einordnung jener ersten vier rot-grünen Jahre versuchte bereits ein junger Politikwissenschaftler, Jahrgang 1971:

Hans Jörg Hennecke: Die dritte Republik. Aufbruch und Ernüchterung, Propyläen: München 2003, 400 S., ISBN 3-549-07194-9; 24 Euro

Hinter einem großsprecherisch-irrigen Titel verbirgt sich eine nüchterne, leicht lesbare Nacherzählung der Jahre 1998 bis 2002; Thesenfreude und Interpretationsfähigkeit des Autors überschreiten an keiner Stelle mittleres Leitartikelniveau. Noch einmal kann man die Ereignisse von Lafontaines Abgang bis zum Kosovo-Krieg Revue passieren lassen; Neues erfährt man über all das nicht. Sinnvoll ist die Einbeziehung der intellektuellen Debatten in dieser zusammenfassenden Politikgeschichte.

Die konkreten Themenfelder der ersten Legislaturperiode nimmt dagegen ein sehr gelungener Sammelband Tübinger und Heidelberger Politikwissenschaftler unter die Lupe:

Christoph Egle u.a. (Hgg.): Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2002, Westdeutscher Verlag: Wiesbaden 2003, 452 S., ISBN 3-531-13791-3; 32,90 Euro

Manfred G. Schmidt bilanziert die kritisch Sozialpolitik, Lutz Mez führt die positiven Veränderungen in der Energie- und Umweltpolitik auf. In einem spannenden und theoretisch ambitionierten Beitrag wendet Wolfgang Merkel die „Vetospieler“-Theorie von George Tsebelis auf Steuer-, Renten- und Arbeitsmarktreform an. Andere Autoren beschäftigen sich mit dem Regierungsstil des Kanzlers, Rolf G. Heinze mit dem Bündnis für Arbeit, Frank R. Pfetsch positiv-sachlich mit der Außenpolitik – kein wesentliches Politikfeld wird vernachlässigt.
Wer sich speziell für die Sozial- und Wirtschaftspolitik zwischen 1998 und 2002 interessiert, sollte zu folgendem Sammelband greifen:

Antonie Gohr/Martin Seeleib-Kaiser (Hgg.): Sozial- und Wirtschaftspolitik unter Rot-Grün, Westdeutscher Verlag: Wiesbaden 2003, 361 S., 3-531-14064-7; 34 Euro

Nach theoretischen Beiträgen zu Beginn, die auch die Veränderungen der Sozialsstaatsprogrammatik in den Parteien spiegeln, steht die Empirie der vielen politischen Teilbereiche, von Finanz- bis Armutspolitik, aber auch Bildung und Migration. Eine Fortsetzung beider Sammelbände für die Zeit bis 2005 wäre zu wünschen (vgl. auch den Beitrag von Stephan Lessenich in diesem Heft).

Der tragenden Regierungspartei folgte über die Jahre stets ein kritischer Schatten: Franz Walter, der bekannte Parteienforscher in Göttingen, hat seine zahllosen Aufsätze über die deutsche Sozialdemokratie seit 1999 in einem Band vereint:

Franz Walter: Abschied von der Toskana. Die SPD in der Ära Schröder, 2. erw. Aufl., VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2005, 205 S., ISBN 3-531-34268-1; 21,90 Euro

Rechtmachen kann es der „Tanker“ (Peter Glotz) dem rastlos kommentierenden Beobachter Walter nie; sichtlich leidet der Autor am Zustand seines Objekts: Mal ist es zu unbeweglich-starr, mal zu wenig traditionsbewusst-verwurzelt; mal zu modern, mal zu unmodern. Insofern liegt Walter mit seinen Analysen fast immer richtig – es kommt eben auf den Moment an (vgl. den Beitrag von Franz Walter in diesem Heft). Der Autor erweist sich darin unter den politischen Analytikern hierzulande als immer anregender Situationist á la Gerhard Schröder, wissenschaftlich gewappnet mit Milieutheorien und parteiensoziologischer Unterfütterung.

Die SPD von unten schildert der amüsante Erlebnisbericht eines jungen Berliner Journalisten, der sich eines grauen Oktobertages 2003 zum Eintritt in die Partei entschloss:

Nicol Ljubic: Genosse Nachwuchs. Wie ich die Welt verändern wollte, DVA: München 2004, ISBN 3-421-05775-3; 17,90 Euro

Sein Porträt schildert die Krise. Misserfolge auf Delegiertenkonferenzen, widerspenstige Wähler, Mühsal der Ebene im Wahlkampf – eine Partei regiert das Land und ist dennoch verzagt. Wenn die Justizministerin zur Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen nach Wedding kommt, interessiert das nur vier Zuhörerinnen. Gänzlich abschrecken lässt sich der Autor nicht: immer wieder findet er junge Mitglieder und Funktionäre, die für ihn Aufbruch und Veränderung verkörpern.

Eine Werbung für Rot-Grün ist der folgende Reportageband des Spiegels mitnichten. Viel ist in den letzten Jahren über das Verhältnis des Hamburger Nachrichtenmagazins zum Kabinett Schröder/Fischer gerätselt worden. Immerhin hatte Begründer Augstein sein Kind einst als „im Zweifel links“ bezeichnet, wovon zuletzt kaum etwas zu spüren war. Die vielen Szenen, die die drei Reporter des Blattes aus den rot-grünen Jahren zusammenfügen, sind daher vor allem auch ein Protokoll der eigenen Desillusionierung:

Matthias Geyer/Dirk Kurbjuweit/Cordt Schnibben: Operation Rot-Grün. Geschichte eines politischen Abenteuers, DVA: München 2005, 335 S., ISBN 3-421-05782-6; 17,90 Euro

Unfreiwillig offenbart der Band, wie schwer selbst in der „deutenden Klasse“ die Ankunft in der Regierungsrealität war, wie stark auch hier der utopische Überschuss der Generation von 68 fortwirkte und Erwartungen an Rot-Grün weckte, die schwerlich einzulösen waren. Das hinter die Kulissen blickende Buch ist hilfreich für eine Phänomenologie dieser Jahre; originelle Deutungen der präsentierten Snap-Shots sucht man vergebens.

Noch verliert sich die rot-grüne Vorgeschichte gerne in Anekdoten, von Joschkas Turnschuhen bis zur Kabinettslistenspielchen in der Bonner Kneipe Provinz zu Beginn der 1980er Jahre. Eine Marburger politikwissenschaftliche Dissertation geht andere Wege:

Thomas Krumm: Politische Vergemeinschaftung durch symbolische Politik. Die Formierung der rot-grünen Zusammenarbeit in Hessen von 1983 bis 1991, Deutscher Universitäts-Verlag: Wiesbaden 2004, 287 S., ISBN 3-8244-4601-4; 35,90 Euro

Auf der Grundlage von offiziellen Reden und Dokumenten, Presseartikeln und Politikerbriefwechseln rekonstruiert Krumm, ob und wie sich damals eine rot-grüne Identität herausbildete, während der ersten Phase 1985 bis 1987 (Ministerpräsident Börner) sowie beim zweiten Anlauf 1991 (Ministerpräsident Eichel). Da es sich um den ersten Versuch einer Regierung dieser Art in Deutschland handelte, käme diesem Prozess zentrale Bedeutung zu, um auch später bei den Wählern ggf. abrufbar zu sein. Ein bemerkenswertes Ergebnis dieser theoretisch reflektierten Untersuchung: Der kleine grüne Partner war durch seine Medienwirksamkeit eminent erfolgreich bei der Schaffung einer rot-grünen Identität.

Regieren geht über studieren: So hieß das politische Sponti-Tagebuch, das der ehemalige hessische Umweltminister Joschka Fischer 1987 über seine Amtszeit publizierte. Fast zwanzig Jahre und ein paar Ämter und Bücher später verfasste der Außenminister erneut eine Bilanz einer Amtszeit, wenn auch nicht in Tagebuchform:

Joschka Fischer: Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens, Kiepenheuer & Witsch: Köln 2005, 304 S., ISBN 3-462-03035-3; 19,90 Euro

Den belesenen Autodidakten Fischer erkennt man am massiven Hang zu sentenziösen Zitaten kluger Denker. Die Weltpolitik hat sich der lebenslang Lernende mit der ihm eigenen Energie gedanklich erschlossen; zwischen Hegel und HIV-Virus bekommen sämtliche Phänomene der Moderne ihren gebührenden Platz. Ein genuin rot-grünes Erbe, eine spezifisch linke Idee von Weltinnenpolitik vermag man nur schwerlich aus dieser Schrift herauszudestillieren; zu sehr dominiert der intellektuell reflektierte Pragmatismus der Tat dieses Buch. „‚Ich habe verstanden‘, lautet das Credo aller Bücher von Fischer“ (Heinz Bude): In diesem Sinne liegt hier das Vermächtnis eines verwandelten einstigen Linksradikalen vor.

Drei sozialdemokratische Kanzler hat die deutsche Linke seit 1949 gestellt – und alle drei haben ihre eigene Visualisierung, ja Ikonisierung erlebt. Gerhard Schröder hatte einen Hoffotografen, der schon von Machtmenschen wie Mitterand und Kohl geschätzt wurde. Er machte auch vor Doris und dem Ohr des Kanzlers in edel stilisierten Schwarz-Weiß-Aufnahmen nicht halt:

Konrad Rufus Müller: Gerhard Schröder. Fotografien, Steidl: Göttingen 2003, 108 S., ISBN 3-88243-887-8; 28 Euro

Schröders rot-grüne Jahre werden in den Bildern von Müller auf eine eigentümliche Art und Weise mit Patina überzogen, gleichsam schon in der Gegenwart historisiert. Der Inszenierungswille erscheint so auch in den Szenen des Regierungsalltags und privaten Momenten; eine zusätzliche Bedeutungsebene unterlegt Müller auch noch der beiläufigen Zeitungslektüre des Kanzlers: Fotos für die Geschichtsbücher.

Ein zweisprachiger Bildband für Fans wurde dem Kanzler im Sommer 2005 gleichsam als Abschiedsgeschenk zuteil. Hier wird Schrödermanie hemmungslos ausgelebt:

Wolfgang Behnken (Hg.): Mensch, Schröder. Der Acker. Der Gerhard. Der Kanzler, teNeues: Kempen 2005, 240 S., ISBN 3-8327-9084-5; 29,90 Euro

Die Szenen einer demokratischen Regentschaft fangen wiederum Müller sowie Dieter Blum ein; kurze Essays von Weggefährten von Bodo Hombach bis Klaus Uwe Benneter machen Propaganda. Kopfschüttelnd registriert man, dass auch renommierte Hauptstadt-Korrespondenten u.a. von Stern, ZDF und Süddeutscher Zeitung sich für diese Macht Mensch-Inszenierung mitten im Wahlkampf nicht zu schade waren und willige Mitspieler in diesem Musterbeispiel für Mediokratie wurden. Dass Schröders sozialdemokratische Vorgänger keine schlechtere Figur in der visuellen Welt machten, offenbaren die drei folgenden Bände. Aus den Beständen des Spiegel-Archivs wurde ein Bildband über Helmut Schmidt zusammengestellt, der die Karriere des Hamburgers seit seinen Bonner Anfängen verfolgt:

Stefan Aust/Robert Fleck (Hgg.): Helmut Schmidt. Ein Leben in Bildern des Spiegel-Archivs, DVA: München 2005, 208 S., ISBN 3-421-05888-1; 29,90 Euro

Ob rauchend in der Kellerbar in seinem Privathaus oder im Regen mit Giscard d’Estaing, beim Segeln, in der Garage oder von Augstein mit der Axt bedroht: Die Fotos sollen den angeblich sachlichen Pragmatiker menschlich machen. Die Bildsprache hebt Schmidt nicht auf den Sockel, sondern inszeniert warme Nähe.

Willy Brandt war zweifellos derjenige unter allen linken deutschen Politikern im 20. Jahrhundert, der am meisten die Phantasie seiner Mitmenschen angeregt hat. Zwei Bände versuchen, seinen visuellen Reizen auf die Spur zu kommen. Andy Warhol, Gerhard Marcks, Johannes und Berhard Heisig, Rainer Fetting und Georg Meistermann haben den Kanzler in berühmten Werken zur Kunstfigur und Ikone gemacht:

Mirja Linnekugel/Klaus Wettig (Hgg.): Willy Brandt – Porträts, Parthas: Berlin 2002, 93 S., ISBN 3-932529-47-2; 17,80 Euro

Georg Meistermann hat in seinem Porträt aus dem Jahr 1977 jene inspirative Verschwommenheit Brandts vielleicht am besten eingefangen. Neben den Skulpturen und Bildern stehen in diesem Band Essays von und über den Entstehungsprozess der einzelnen Werke, die offenbaren, wie stark Brandts Wesenszüge kreatives Potential gebunden und entzündet haben.

Der langjährige Spiegel-Fotograf Jupp Darchinger ist diesen Eigenschaften Brandts ebenfalls desöfteren verfallen; viele berühmte Fotos des Kanzlers stammen von ihm, so vom Kniefall in Warschau oder des legendären Auftritts am Fenster seines Hotels in Erfurt:

Mirja Linnekugel/Klaus Wettig (Hgg.): Willy Brandt – Kämpfer und Visionär. Fotografien von Jupp Darchinger, Parthas: Berlin 2004, ISBN 3-936324-08-5; 29 Euro

Angesichts dieser drei Bildbände scheint zumindest nach 1945 die politische Linke visuell an- und aufregender als ihr politisches Gegenüber gewesen zu sein. Wie wird künftig das nationale Bildgedächtnis mit dieser Hinterlassenschaft umgehen?

Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen führen auch zurück in die drei Jahre, in der die linke Volkspartei schon einmal Juniorpartner in einer Bundesregierung war. 1966 bis 1969 war Brandt Vizekanzler und Außenminister in der Großen Koalition. In einem voluminösen Synthese hat der Mannheimer Historiker Klaus Schönhoven die SPD jener Jahre untersucht:

Klaus Schönhoven: Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969, Dietz: Bonn 2004, 734 S., ISBN 3-8012-5021-0; 58 Euro

Das Buch wird zum Standardwerk jener bundesrepublikanischen Sattelzeit werden. Beeindruckend ist die stupende Sachkenntnis, mit der das komplizierte Manövrieren der SPD auf dem Weg zur Macht in allen Details anschaulich geschildert wird. Es bleibt auch im Rückblick ein Phänomen, wie zwei Partner mit sehr unterschiedlichen Auffassungen auf fast allen Politikfeldern drei Jahre lang vergleichsweise erfolgreich regieren konnten. Erklärbar ist dies vor allem durch den unbedingten Machtwillen einer nach langen Durststrecken endlich in Regierungsämtern gelangten sozialdemokratischen Politikerriege: sie wollten den Erfolg, um irgendwann den Kanzler zu stellen. Es war eine SPD im Aufstieg – und gerade das ist es, was die SPD gegenwärtig in der zweiten Großen Koalition nicht ist. Eine Erfolgsgeschichte mag man unter diesen Umständen kaum prophezeien.

Einen schonungslosen Blick für die Schwächen seiner Partei hatte von jeher einer der bedeutendsten intellektuellen Köpfe der SPD: ihr ehemaliger Bundesgeschäftsführer Peter Glotz, der im August 2005 verstarb.

Peter Glotz: Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers, Econ: Berlin 2005, 342 S., 3-430-13258-4; 24,90 Euro

In seinen kurz vor seinem Tod fertiggestellten Memoiren überlagert die kühle Nüchternheit oft die Sympathie des Autors für seine Genossen, zu denen er 44 Jahre gehörte; in den letzten Jahren hatte er sich von der herrschenden „Enkelei“ (Glotz) mehr und mehr zurückgezogen. Brillant sind seine umstandslosen, zugespitzten Skizzen, so das durchaus positive, genaue Porträt von Hans-Jochen Vogel. Peter Glotz verkörperte beides: die Erfolgsgeschichte der linken Volkspartei, der es gelang, Wissenschaftler und kluge Köpfe wie ihn an sich zu binden, wie auch die Grenzen, die dem Einfluss solcher Gestalten innerparteilich letztlich gesetzt waren. Glotz‘ Erinnerungen gehören sicher zu den aussagekräftigsten Dokumenten über linke Werdegänge nach 1945.

Die meisten Linken schlugen in den 1960er Jahren einen radikaleren Weg als Glotz ein: 1968 ist die Chiffre, unter die Geschichte der Außerparlamentarischen Linken in Deutschland firmiert – diese war in wesentlichen Teilen zudem eine antiparlamentarische Linke. Nun hatte die Überwindung der parlamentarisch bemäntelten Klassenherrschaft seit jeher auf der linken Agenda gestanden. In der krisengeschüttelten Weimarer Republik war das antiparlamentarische Denken nicht nur auf der Rechten eine Selbstverständlichkeit, sondern auch die Linke kämpfte gegen die Republik. Deren Denken zusammenfassend zu interpretieren, ist das Verdienst einer Bonner Dissertation:

Riccardo Bavaj: Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Dietz: Bonn 2005, 535 S., ISBN 3-8012-4155-6; 36 Euro

Als Komplementärstück zur klassischen Studie von Kurt Sontheimer über das antidemokratische Denken auf der Rechten stellt der Autor zunächst den linken Antiparlamentarismus in der Politik (Kommunisten, Anarchisten, USPD u.a.), dann im Kulturleben vor (u.a. Gustav Landauer, Ossietzkys Weltbühne, Kurt Tucholsky, der Malik-Verlag, Johannes R. Becher). Zwar ist die ideelle Mitschuld am Untergang der Demokratie nicht von der Hand zu weisen. Jedoch wäre die historisierende Frage nach den Ursachen, warum in Deutschland der intellektuelle Radikalismus jener Jahre stärker ausgeprägt war als in anderen Ländern, wichtig gewesen. Anlass zur linken Selbstkritik bietet jedoch diese Studie einmal mehr: Denn die strukturelle Schwäche der deutschen Linken in den vergangenen Jahrzehnten hat sicher auch etwas mit dem frühen und weit verbreiteten Radikalismus zu tun, den es beispielsweise in Großbritannien nie gab, und wo Labour daher weitaus häufiger Vertrauen der Wähler erwerben konnte.

Die deutsche außerparlamentarische Linke der 1960er Jahre knüpfte jedenfalls wieder in vielem an ihre radikalen Vorläufer an: Georg Lukács‘ Geschichte und Klassenbewußtsein von 1923 wurde eifrig studiert. Einen schönen Überblick über die damalige Diskurslandschaft vermittelt ein Kompendium aus dem Hause Suhrkamp:

Rudolf Sievers (Hg.): 1968. Eine Enzyklopädie, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2004, 490 S., ISBN 3-518-12241-x; 15 Euro

Die damals (wieder) wichtigen Texte finden sich hier in Auszügen, neben Lukács Peter Weiss‘ Ermittlung, vieles von Adorno bis Habermas und Wilhelm Reich, von Dutschke, Krahl bis Enzensberger. Nostalgie mag nicht recht aufkommen; zu historisch erscheinen den Nachlebenden die aufgeregten Debatten. Ob die Zukunft der Linken sich erneut an einer aktualisierenden Lektüre von Herbert Marcuses Repressiver Toleranz entzünden könnte, darf füglich bezweifelt werden. Dass es ein Jahr des Aufbruchs war, von dem – gewollt oder ungewollt – nachhaltige Liberalisierungsschübe in den westlichen Gesellschaften ausgingen, ist mittlerweile jedoch unstrittig. Der amerikanische Autor Mark Kurlansky hat die Aufregungen jenes Jahres zusammengedacht und ein brillantes Hohelied der Emanzipation angestimmt:

Mark Kurlansky: 1968. Das Jahr, das die Welt veränderte, Kiepenheuer & Witsch: Köln 2005, 461 S., ISBN 3-462-03618-1; 22,90 Euro

Modisches 68er-Bashing will es hierzulande oft verdrängen: Hinter der Chiffre „1968“ versammeln sich nicht nur ideologische Eiferer, sondern auch die weltweiten Proteste gegen den Vietnam-Krieg oder der Prager Frühling und dessen Niederschlagung durch die Armeen des Warschauer Pakts. Kurlansky inszeniert folgerichtig eine globale Kultur- und Gesellschaftsgeschichte jenes Jahres, zwischen Chicago, Warschau, dem Wenzelsplatz in Prag und den Olympischen Spielen in Mexiko, LSD, Panzern und Rock ’n ‚Roll.

Die zentrale Figur der APO hierzulande wurde rasch zur Pop-Ikone: Rudi Dutschke. Ein Journal der taz möchte das Charisma von Rudi für die Nachlebenden reaktivieren:

Tazjournal 1/2006: Dutschke und Du. Verändern, kämpfen, leben: Was wir von Rudi Dutschke lernen können, taz Verlag: Berlin 2006, ISBN 3-937683-04-6; 8 Euro

Interviews mit Klaus Theweleit, Beate Klarsfeld und Gretchen Dutschke sollen das Phänomen Dutschke erklären, der Autor Joachim Lottmann darf Rudis legendären Strickpulli deuten (eine Strickanleitung findet sich ebenso dort). Allzuviel Erkenntnisgewinn darf man sich bei der Lektüre nicht versprechen, zumal die Gewaltfrage nonchalant abgehandelt wird – die gelungene Anmutung des Heftes wird für eine ironisch angestrebte Dutschke-Renaissance unter den Jüngeren nicht ausreichen. Nachdenklich stimmt die Lektüre des Briefwechsels zwischen Dutschke und seinem im Gefängnis sitzenden Attentäter Josef Bachmann: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Bachmann in seinem primitiven, fehlerhaften Schreiben der klügere politische Kopf ist.

Ein Zeitzeuge hat seine Erinnerungen an jene Jahre aufgeschrieben: Ulrich Enzensberger, jüngerer Bruder von Hans Magnus, war Mitbegründer der legendären Kommune I und schildert deren Existenz im aufgeregten West-Berlin jener Jahre in einem launig gehaltenen Rückblick, dessen detailfreudige Anekdotenseligkeit auf Dauer stört:

Ulrich Enzensberger: Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967-1969, Kiepenheuer & Witsch: Köln 2004, 415 S., ISBN 3-462-03413-8; 24,90 Euro

Verfremdungseffekte bei der Lektüre treten ein: die Relevanz all der (theoretischen wie praktischen, zudem in Grundzügen lange bekannten) Windungen jener Truppe erschließt sich nur schwer. Die legendären Figuren Kunzelmann, Dutschke, Teufel, Obermaier, Langhans haben alle ihren mehrfachen Auftritt. Eine Groteske war es ebenso wie eine Farce: Doch Enzensberger kann durch seine ironische Distanz kaum kenntlich machen, welche Bedeutung dieses Lebensformexperiment für die Bundesrepublik hatte.

Ein bemerkenswertes, ebenfalls autobiographisches Buch über jene Jahre hat der Schriftsteller Uwe Timm verfasst. Er war Anfang der 1960er Jahre mit Benno Ohnesorg befreundet, als beide in Braunschweig das Abitur nachholten. Jahre später hört er im Radio in Paris, dass der Freund erschossen wurde:

Uwe Timm: Der Freund und der Fremde. Eine Erzählung, Kiepenheuer & Witsch: Köln 2005, 173 S., ISBN 3-462-03609-2; 16,90 Euro

Es ist ein später Freundschaftsdienst, den Timm mit seinen persönlichen Erinnerungen an Ohnesorg in diesem Bändchen leistet. Gemeinsame Gespräche über Literatur und Liebe tauchen auf, gemeinsame Museumsbesuche; Rodins Kuß wird gemeinsam angeschaut und diskutiert. Timm forscht heute nochmals nach, fährt in ihr gemeinsames Kolleg und stellt die Frage, wer dieser junge Mann hätte werden können. Manchmal stört Pathos, doch auch das gehört wohl zum Nachhall jener Jahre.

Zur nötigen aktuellen Selbstaufklärung der Linken gehört die historisierende Frage nach der Gewalt innerhalb der 68er-Bewegung. Am Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitet sich Wolfgang Kraushaar seit Jahren ausdauernd an ihr ab (vgl. auch seinen Beitrag in diesem Heft). Seine jüngste Untersuchung ist eine mit kriminalistischem Spürsinn verfasste Milieustudie, die offenbart, wie es in der West-Berliner Szene schon 1969 eine Bereitschaft zum Bombenattentat gab, lange vor der RAF:

Wolfgang Kraushaar: Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus, Hamburger Edition: Hamburg 2005, 300 S., ISBN 3-936096-53-8; 20 Euro

Jenseits der Frage, inwiefern der Verfassungsschutz über seinen Spitzel Peter Urbach beteiligt war, erkennt Kraushaar antisemitische Züge in der linksradikalen Subkultur, vor allem bei Dieter Kunzelmann. Der „antisemitische Latenzzusammenhang“ bewirkte, dass die Tupamaros West-Berlin am 9. November 1969 im Jüdischen Gemeindehaus eine Bombe „gegen den Zionismus“ explodieren lassen wollten (was durch Zufall verhindert wurde). Minutiös rekonstruiert Kraushaar ein Milieu, das einen kumulativen Radikalisierungsprozess erlebte.

Ein kleines Bändchen des Hamburger Instituts hat 2005 für Aufsehen gesorgt:

Wolfgang Kraushaar/Karin Wieland/Jan Philipp Reemtsma: Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburger Edition: Hamburg 2005, 143 S., ISBN 3-936096-54-6; 12 Euro

Gibt es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen 1968 und dem Abgleiten in die Gewalt der RAF? Karin Wieland schildert in einem brillanten Psychogramm die – rückblickend so schwer erklärliche – Aura von Baader, die wesentlich zur Formierung der RAF beitrug, Wolfgang Kraushaar belegt die Gewaltoption im politischen Horizont Dutschkes, um die Revolution mithilfe der Stadtguerilla herbeizukämpfen. Dass der Dutschke-Mythos zur Revitalisierung einer demokratischen linken Bewegung hierzulande kaum taugt, wird überdeutlich.

Die Gewalt kulminierte ein Jahrzehnt später im „Deutschen Herbst“ 1977. Dass die Zeitgeschichte noch raucht, selbst im Gewand der Kunst, belegte zuletzt die eigenartige Vorab-Kontroverse um die Berliner RAF-Ausstellung, die zu Beginn des Jahres 2005 in den Kunstwerken gezeigt wurde:

Klaus Biesenbach (Hg.): Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF. 2 Bde., Steidl: Göttingen 2005, 710 u. 278 S., ISBN 3-86521-102-X; 50,40 Euro

Der umfangreiche Dokumentationsband führt anhand der faksimilierten Presseberichte die Geschichte von Gewalt und Gegengewalt in Deutschland von den Schüssen auf Benno Ohnsorg 1967 bis zur Auflösungserklärung der RAF 1998 vor Augen – eine eindrucksvolle Inszenierung um die jeweiligen Entführungen und Anschläge im „roten Jahrzehnt“ (Gerd Koenen). Der zweite Band präsentiert die Werke, die Künstler in Auseinandersetzung mit der RAF (u.a. Polke, Kippenberger, Gerhard Richter, Beuys) schufen, sowie zahlreiche kunsthistorische und zeitgeschichtliche Essays. Große Kunst sucht man weitgehend vergeblich, dazu war die RAF offenbar doch nicht inspirierend genug. Der zeithistorische Geleitschutz für die Ausstellung ist ohnehin unnötig gewesen. Zu den Figuren des 68er-Milieus, deren Leben dereinst verfilmt werden dürfte, gehört nicht nur Joschka Fischer. Sein Freund Otto Schily verkörpert mit seinem politischen Werdegang vom Anwalt der RAF-Terroristen bis zu seiner 7jährigen Amtszeit als in Sachen Bürgerrechten unempfindlicher Innenminister eine spezielle Entwicklung der deutschen Linken nach 1945. Der taz-Redakteur Stefan Reinecke hat diese facettenreiche Lebensgeschichte aufgeschrieben:

Stefan Reinecke: Otto Schily. Vom RAF-Anwalt zum Innenminister. Biografie, Hoffmann und Campe: Hamburg 2003, 399 S., ISBN 3-455-09415-5; 22,90 Euro

Als kultivierter Hobbypianist aus bürgerlichem Haus, mit anthroposophischem Hintergrund fremdelte „der Otto“ Zeit seines Lebens: ob als Anwalt im Berliner linksradikalen Milieu, ob als grüner Bundestagsabgeordneter mit Krawatte, ob nach seinem Übertritt in die SPD unter den bayrischen Genossen seines Landesverbandes. Vielleicht hat er erst als autoritärer Innenminister zu seiner eigentlichen Rolle gefunden: endlich nicht mehr Kämpfer für das Recht, sondern dessen Verkörperung – wie auch immer das dann aussehen mag. Für Schily selbst, der sich erstaunlicherweise immer noch als grüner Linker in der SPD fühlt, gibt es übrigens keine Brüche in seiner Vita – eine Illusion zur Lebensbewältigung, wie sein Biograf treffend bemerkt. Auf ganz andere Art und Weise bruchlos dürfte sich ein linker Anwaltskollege Schilys fühlen: Klaus Staeck, geboren 1938, seit 1960 SPD-Mitglied, seit 1983 Beiratsmitglied der HUMANISTISCHEN UNION, ist bekannt geworden als der bedeutendste politische Plakatkünstler hierzulande. Nichts ist erledigt: so hieß programmatisch die jüngste Werkschau seiner jahrzehntelangen und unermüdlichen visuellen Gesellschaftskritik:

Klaus Staeck: Nichts ist erledigt. Eine Retrospektive, Steidl: Göttingen 2004, 183 S., ISBN 3-86521-096-1; 25 Euro

Staecks Schaffen mag durch viele wiederholte Veröffentlichungen einen gewissen Übersättigungseffekt ausgelöst haben. Umso angenehmer überrascht wird man von Vielfältigkeit und Formenreichtum seiner Montagen und Fotografien, sobald man diesen Band zur Hand nimmt. Er beherrscht viele Register: von knalliger Propaganda bis zur subtilen Anspielung. Oskar Negt, ein linker Weggefährte Staecks, schildert in dem Katalog, wie er ihn 1962 im Heidelberger SDS kennenlernte.

Die Freunde Negt und Staeck arbeiten seit Jahrzehnten unverdrossen an linken Perspektiven. Dazu gehört auch der Kampf gegen die Krise der Gewerkschaften, für den Negt mit einer kleinen Streitschrift mobil machen möchte:

Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften? Eine Streitschrift, Steidl: Göttingen 2005, 175 S., ISBN 3-86521-165-8; 5 Euro

Seit Jahrzehnten mit der Gewerkschaftsarbeit eng verbunden, plädiert Negt für eine Ausweitung gewerkschaftlicher Aktivitäten über die Mitgliederinteressen hinaus. Bildung und Kultur, lokale Verantwortung und Engagement, „außerbetriebliche Erfahrungsräume“: all das seien Aufgaben für Gewerkschaften heute. Da klingt doch recht viel Nostalgie hindurch, geprägt von einer vergangenen gewerkschaftlichen Reformarbeit. Wichtiger als eine inhaltliche scheint eine räumliche Ausweitung der Kampfzone, die konsequente Internationalisierung der Gewerkschaften, um auf Abwanderungen und Verdrängungen irgendwann einmal wirkungsvoll reagieren zu können. Haben die Gewerkschaften noch eine Zukunft? Die Frage wird im folgenden Buch bejaht – falls sie zu Reformmotoren mutieren:

Gabriele Stief: Nur wer mitgestaltet, überlebt. Gewerkschaft als Motor, Aufbau: Berlin 2005, 202 S., ISBN 3-351-02604-8; 14,90 Euro

Die Autorin, Redakteurin bei der Hannoverschen Allgemeinen, hat ein eingängiges Mutmachbuch geschrieben, das vor allem die Erfahrungen der IG Bergbau, Energie, Chemie sehr gefällig-unkritisch vorstellt. Zu Beginn stehen Porträts von Hermann Rappe und Hubertus Schmoldt, dem „Lieblingsgewerkschafter“ Schröders, den beiden pragmatisch-rechten Gewerkschaftsführern unterschiedlicher Generationen. In den folgenden Kapiteln werden die Auseinandersetzungen innerhalb des DGB, das Verhältnis zur Regierung, die Konsequenzen aus der Globalisierung der Märkte geschildert und die Pionierrolle der IGBCE bei der tariflichen Altersvorsorge geschildert. Am Ende streiten Schmoldt und Oskar Negt recht zahm miteinander.

Wer alles über Gewerkschaften wissen möchte, der sollte zu folgendem Handbuch greifen, in dem kein Aspekt der gewerkschaftlichen Realität der Gegenwart ausgespart bleibt:

Wolfgang Schroeder/Bernhard Weßels (Hg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Westdeutscher Verlag: Wiesbaden 2003, 725 S., ISBN 3-531-13587-8; 42,90 Euro

Die durchweg profunden Beiträge sind allesamt von einschlägigen Experten verfasst: So schreibt Klaus Schönhoven einen Überblick zur Geschichte und Wolfgang Streeck vergleichend zur Entwicklung in den anderen Ländern Westeuropas. Tarif- und Mitbestimmungspolitik werden ebenso vorgestellt wie Rolle der Funktionäre sowie rechtliche Grundlagen, Fusionsprozessen und Mitgliederentwicklung. Am Ende beschäftigen sich mehrere Beiträge mit den Chancen und Möglichkeiten internationaler Gewerkschaftsarbeit.

Der langjährige Justitiar der IG Metall und Kasseler Emeritus Michael Kittner hat eine großangelegte Geschichte des Arbeitskampfes vom Alten Ägypten bis zur Gegenwart verfasst, angereichert mit über 65 Fallschilderungen. Sie verknüpft Rechts- und Sozialgeschichte mit den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in den verschiedenen Ländern und Kulturen:

Michael Kittner: Arbeitskampf. Geschichte – Recht – Gegenwart, C. H. Beck: München 2005, 784 S., ISBN 3-406-53580-1; 39,90 Euro

Trotz des Formwandels in den Arbeitskämpfen, den der Autor in einer beeindruckend fleißigen Anstrengung schildert, ist der Ausklang seiner Untersuchung nicht sonderlich optimistisch gestimmt: zu schwierig sei es für Massenorganisationen wie Gewerkschaften, sich auf die individualisierten Lebenswelten des 21. Jahrhunderts einzustellen. Doch gesellschaftliche Kämpfe um Anteil an erwirtschaftetem Vermögen wird es immer geben – sie werden nur auf neuartige Weise ausgetragen werden.

Auch in der Bundesrepublik waren Gewerkschaften einst Motor eines gesellschaftlichen Wandels: So sorgten sie in den 1950er Jahren parallel zur SPD für den Abschied vom alten Klassenkampfmodell, hin zu einem reformlinken Programm mit einer Akzeptanz der Marktwirtschaft. Die Historikerin Julia Angster kann belegen, wie dieser Prozess von der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung befördert wurde:

Julia Angster: Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, Oldenbourg: München 2003, 538 S., ISBN 3-486-56676-8; 69,90 Euro

Ein transatlantisches Netzwerk war durch die Emigration von Gewerkschaftsfunktionären nach 1933 in die USA entstanden. Amerikanische Kollegen unterstützen nach 1945 den Aufbau der bundesdeutschen Gewerkschaften, nicht zuletzt um ein antikommunistisches Bollwerk zu schaffen. In der Folge jedoch gelang den Gewerkschaften eine Erfolgsgeschichte, weil sie im Unterschied zur Zersplitterung in der Weimarer Zeit zu einer weitgehend einheitlichen Kraft wurden, deren Rückhalt auch in der sich langsam entproletarisierenden Arbeitnehmergesellschaft des Wirtschaftswunders wuchs. In vergleichbarem Internationalismus könnte künftig das größte Gestaltungspotential der Gewerkschaften liegen.

Braucht es hierfür noch die gesellschaftliche Organisationsform Staat? Erhard Eppler, seit vielen Jahren einer der einflussreichsten klugen Köpfe innerhalb der SPD und 19 Jahre lang Vorsitzender ihrer Grundwertekommission, hat sich den Staat angeschaut, der unter Druck von Finanzmärkten und globalen Konzernen geraten ist:

Erhard Eppler: Auslaufmodell Staat?, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2005, 230 S., ISBN 3-518-12462-5; 9 Euro

Nach dem weltweiten Siegeszug des Neoliberalismus bedarf es Eppler umso dringender einer Renaissance von Staatlichkeit. Er benennt dabei auch den Finger auf links-alternative Lebenslügen: Zu sehr hätte man dort auf die Zivilgesellschaft als sympathischen Akteur gesetzt und den Staat zu lange als Gegner betrachtet. Jedoch sei der Staat die einzige Organisationsform, die potentiell allen Beteiligten, gerade den Schwachen Teilhabe sichern könne. Epplers Plädoyer für die Zukunft des Staats als ziviler Notwendigkeit überzeugt – eine Instandbesetzung wäre ein lohnendes linkes Projekt.

Erschwerend mag dabei ins Gewicht fallen, dass die großen sozialen Ideen in Deutschland oft in einer staatskritischen Tradition stehen. Davon zeugt auch ein tausendseitiges Handbuch, das die drei großen Ideenstränge umfassend vorstellt:

Helga Grebing (Hg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, 2. Aufl., VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2005, 1.158 S., ISBN 3-531-14752-8; 69,90 Euro

Über die Hälfte des Buches widmet sich in zwei großen Überblickskapiteln dem Sozialismus, von den Frühsozialisten über Marx, Engels, Lassalle bis zur sozialdemokratischen Programmdiskussion der Gegenwart. Den verbleibenden Raum teilen sich Abschnitte zur katholischen Soziallehre sowie zum sozialen Protestantismus. Ideengeschichte wird mit der Gesellschaftsgeschichte kombiniert; zahlreiche Hinweise zur aktuellen Forschungsliteratur erleichtern den Einstieg in die Debatten, ein Sachregister erschließt dieses Kompendium. Eine Große Koalition der sozialen Ideen entsteht vor den Augen des Lesers, passend zur politischen Lage – wobei nichtsozialdemokratische Ordnungsmodelle im Abschnitt über den Sozialismus leider zu kurz kommen.

Den Anspruch einer umfassenden Gesellschaftstheorie hat jüngst Thomas Meyer mit einem umfangreichen Werk formuliert. Meyer, seit kurzem Nachfolger des verstorbenen Peter Glotz als Herausgeber der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte, lässt für sein Ordnungsmodell „Soziale Demokratie“ kein Feld unbearbeitet:

Thomas Meyer: Theorie der Sozialen Demokratie. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden 2005, 685 S., ISBN 3-531-14612-2; 39,90 Euro

Gegen die libertäre und liberale Demokratie, die von bloßer Rechtsgleichheit geprägt sind, setzt er ein Modell, das auch die wirtschaftliche und soziale Basis von Grundrechten in den Blick nimmt: eine Voraussetzung von demokratischer Teilhabe. Er dekliniert seinen Idealtypus durch die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche empirisch herunter: von Globalisierung, politische Ökonomie inklusive Sozialstaat bis zur politischen Kultur in einer sich wandelnden Mediengesellschaft. Es gehe künftig darum, die „Realwirkung von Grundrechten“ gegenüber einer bloßen „Formalgeltung“ universell gültig zu machen. Nach langen Jahren intellektueller Rückzugsgefechte geht hier eine aufgeklärte Linke – durchaus in Auseinandersetzung mit dem geistigen Gegner Liberalismus – zumindest theoretisch in die Offensive. Um linke Reaktivierung geht es auch im folgenden Sammelband, der sich mit der – um im sozialwissenschaftlichen Jargon zu bleiben – „Anschlussfähigkeit“ verschiedener Theoreme Claus Offes beschäftigt:

Anna Geis/David Strecker (Hgg.): Blockaden staatlicher Politik. Sozialwissenschaftliche Analyse im Anschluss an Claus Offe, Campus: Frankfurt/New York 2005, 302 S., ISBN 3-593-37586-9; 29,90 Euro

Claus Offe, an der Berliner Humboldt-Universität lehrend, gehört zu den einflussreichsten deutschen Sozialwissenschaftlern der vergangenen Jahrzehnte. Die jüngeren Sozial- und Politikwissenschaftler gehen nicht nur gnädig mit den Ansätzen des Altmeisters um, sondern machen sie sich meist gerne zu eigen. Man hätte sich den Band kontroverser gewünscht; vielleicht mit dem einen oder anderen Denkmalsturzversuch. So erkennen Jens Borchert und Stephan Lessenich erstaunlicherweise in Offes Strukturproblemen des kapitalistischen Staates (1972) die klügsten Ansätze für eine Krisendiagnose der Gegenwart. Es bleibt Heidrun Abromeit, Generationsgenossin Offes, vorbehalten, kritische Einwände gegen seine skeptische Demokratietheorie vorzubringen. Verdienstvoll und nachahmenswert ist der Band, weil er einen politischen Theoretiker der Gegenwart im Gespräch inszeniert: Offe geht in einer 30seitigen „Entgegnung“ auf die Beiträge der Autoren detailliert ein.

Wenn dieser Band optimistisch in Sachen linker Gesellschaftstheorie in die Zukunft schaut, so lohnt es sich dabei allemal, mit den Beständen zu rechnen. Ein schöner Briefband schaut auf die kommunikative Seite der Kritischen Theorie, der vielleicht einflussreichsten und zukunftsträchtigsten Facette linken Denkens im 20. Jahrhundert:

Walter Benjamin/Gretel Adorno: Briefwechsel 1930-1940, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2005, 434 S., ISBN 3-518-58430-8; 26,90 Euro

Benjamin war nach der nationalsozialistischen Machtübernahme nach Paris emigriert, Gretel Skarplus folgte Theodor W. Adorno 1937 nach London, wo sie ihn heiratete. Der Briefwechsel ist ein ergreifendes Freundschaftsdokument, weil er die prekäre Lage Benjamins, sein verzweifeltes Bemühen um intellektuell-wissenschaftliche Arbeitsfähigkeit und seine finanzielle Not in der Emigration schildert: „nicht zum besten“ stehe es mit ihm, schreibt Benjamin 1937. Gretel erweist sich als treue Freundin. Die enge intellektuelle Gemeinschaft, der ständige Schaffensprozess, die Diskussion von Manuskripten und Neuerscheinungen sind ein Faszinosum angesichts eines gerade für Benjamin deprimierenden Emigrationsschicksals. In einem seiner letzten Briefe vor seinem Selbstmord auf der Flucht über die Pyrenäen lässt er Gretel wissen: „Wir müssen sehen, unser Bestes in die Briefe zu legen; denn nichts deutet darauf hin daß der Augenblick unseres Wiedersehens nahe ist.“

„Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer“: das wissen wir seit Goyas berühmter gleichnamiger Radierung. In einer anderen Übersetzung heißt es „Schlaf der Vernunft“. Beide Varianten ergeben ihren Sinn im Falle Adornos, der lebenslang einzelne seiner Träume nach dem Erwachen notierte und eine Auswahl später zur Veröffentlichung vorsah. Sie sind nun erstmals erschienen, mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma:

Theodor W. Adorno: Traumprotokolle, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2005, 121 S., ISBN 3-518-22385-2; 11,80 Euro

Der Emigrant träumt häufig Hinrichtungsszenen von Nazis oder seinen eigenen Tod; ihm erscheinen Prominente wie Trotzki oder Anatole France, desöfteren tauchen Lust- bzw. Bordellträume auf, Begegnungen in Frankfurt mit Roosevelt. Die Nachtseite der im Überlebenskampf oft gefährdeten Kritischen Theorie erscheint hier in einem psychologisch beziehungsreichen Licht. In seinem letzten Traum vom April 1969 erscheint ihm sein Erbe: Jürgen Habermas. Es ist ein Glücksfall, dass diese linken Träume überdauert haben.

Alexander Cammann

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