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Staatliches Sicher­heits­recht und bürgerliche Freiheiten

Anmerkungen zum »Musterentwurf für ein einheitliches Polizeigesetz« der Innenministerkonferenz vom Februar 1985

aus vorgänge Nr.78 (Heft 6/1985), S. 113-118

Eine neue Flut von „Sicherheitsgesetzen“ kommt in den nächsten Monaten auf die Bürger unseres Landes zu; vergleichbar nur mit dem Berg von Gesetzen für die „innere Sicherheit“ zu Zeiten der Bonner sozial-liberalen Koalition der siebziger Jahre. Gemäß einer Koalitionsabsprache von CDU/CSU und FDP sind in einem Junktim folgende „Begleitgesetze“ zum Personalausweisgesetz, dessen erste Fassung noch von der sozialliberalen Koalition 1979 in den Bundestag eingebracht wurde, angekündigt:

– Gesetz über den Militärischen Abschirmdienst (MAD);
– Amtshilfe-Gesetz (Gesetz über die informationelle Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden… ZAG);
– Bundesverfassungsschutzgesetz (Novellierung);
– Bundesdatenschutzgesetz (Novellierung);
– ZEVIS-Gesetz (eine gesetzliche Regelung für die Nutzung der Datenbestände des Zentralen Informationssystems ZEVIS beim Kraftfahrt-Bundesamt durch die Sicherheitsbehörden).

Zudem hat die Innenministerkonferenz eine erneute Novellierung der Strafprozeßordnung angekündigt, um diese einer bereits vorbereiteten Änderung des Polizeirechts der Länder anzupassen[1].

Um Letztere, den sogenannten „Vorentwurf zur Änderung des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder gemäß Beschluß der IMK vom 29. November 1977“ geht es uns in diesem Artikel. Von einer IMK-Arbeitsgruppe formuliert, federführend das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen, liegt der Innenministerkonferenz eine zweite Fassung mit Stand vom 8. Februar 1985 vor (im folgenden ME, Fass. 85), die sich böse einpaßt in den Gesamtkontext der oben benannten weiteren Gesetze für die „innere Sicherheit“.

Analysiert man den ME, Fass. 85 vor dem Hintergrund dieser weiteren Gesetzesentwürfe, so wird deutlich, daß die exekutiven Gesetzesmacher – gleich welcher politischen Couleur – eine „Funktionsidentität der Sicherheitsbehörde“[2] postulieren, der gegenüber bestehende Schranken des Grundgesetzes und die vom Bundesverfassungsgericht reklamierte „informationelle Gewaltenteilung“ weitgehend irrelevant werden.

Polizei, Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst gerinnen zu bloßen bürokratischen Abteilungen der alles überformenden Staatsaufgabe „innere Sicherheit„. Speziell der uns hier interessierende ME, Fass. 85 macht schlaglichtartig deutlich, um welche Ziele es der Exekutive im Kern seit nunmehr fast einem Jahrzehnt geht – Ziele, die sie mit dem langen Atem der Bürokratie gegen immer wieder aufflackernden öffentlichen Widerstand durchzusetzen bemüht ist. Der ME, Fass. 85 ist keinesfalls Ausdruck einer „Wendepolitik“ der CDU/CSU/FDP auf dem Gebiet der „inneren Sicherheit“ – dies erweisen schon die Autorenschaft und Beschlußfassung im Jahre 1977 -, sondern vielmehr Ausfluß des permanenten Bemühens der Exekutive, seit den siebziger Jahren die überkommenen reaktiven Handlungsmuster der Polizei zu überwinden.

Deshalb darf die Auseinandersetzung um den ME, Fass. 85 sich nicht nur auf jene Paragraphen beschränken, in denen der Polizei ganz offensichtlich erweiterte Befugnisse zugestanden werden sollen, die ihr bislang verschlossene Handlungsfelder erschließen (z.B. den „Lauschangriff“). Seine politische Brisanz liegt vielmehr auch dort, wo er auf die bloße „gesetzliche Fixierung des „Ist-Zustands“ hinaus(läuft)“, wie die Allgemeine Begründung des Entwurfs (3.1) zum Charakter dieses Vorhabens vermerkt. Denn die in Rechtsformen eingegossene polizeiliche Praxis, die systematische Verrechtlichung von heute noch strittigen polizeilichen Methoden verleiht dieser Praxis selbst eine neue Qualität. Dadurch verändert sich die Funktion und das Erscheinungsbild der Polizei insgesamt. Die Beurteilung des ME, Fass. 85 läßt sich somit nicht dadurch vornehmen, daß man danach fragt, ob zur Bewältigung bestimmter Sicherheitsprobleme der Polizei bestimmte Befugnisse zugestanden werden sollen und unter welchen Bedingungen dies zu geschehen habe. Die Frage lautet vielmehr: Welche Funktion wollen wir der Polizei (und wenn überhaupt, den Geheimdiensten) in unserer Gesellschaft zuweisen?

Neuer Entwurf – alte Ziele

Das Prinzip der rechtlichen Bindung polizeilichen Handelns an das Vorliegen einer konkreten Straftat oder Gefahr, das im Polizeirecht der letzten hundert Jahre ausgebildet wurde, war den Sicherheitsexperten der AK II der Innenministerkonferenz schon
in den siebziger Jahren zunehmend zu einem Problem geworden. Denn ihre Reformbemühungen zielten darauf ab, die Polizei in die Lage zu versetzen, frühzeitig potentielle Gefahrenherde für die Sicherheit des Staates und der Bürger auszumachen und mit präventiven Eingriffen zu kontrollieren. Auch wenn in den meisten Bereichen polizeiliches Agieren sich weiterhin an der Bearbeitung des einzelnen Falles – der Straftat oder der eingetretenen Störung orientiert, so soll ihr doch dort, wo dies aus exekutiven und sicherheitstaktischen Überlegungen für notwendig gehalten wird, die Möglichkeit eingeräumt werden, potentielle „Problembereiche“, „gefährdete Orte“ oder „verdachtsnahe Personengruppen“ zu erfassen und auf eventuelle Sicherheitsrisiken hin zu überprüfen. Voraussetzung hierfür war nicht allein eine erweiterte und systematisierte Form der Informationserhebung – begleitet von technischen Neuerungen wie der elektronischen Datenverarbeitung, Videoüberwachung und leistungsfähigen Abhörgeräten -, sondern vor allem auch eine Revolutionierung polizeilicher Arbeitsmethoden und Forschungsstrategien. Umfassende Fahndungs- und Informationsdateien im Bund/Länderverband von INPOL, ausgefeilte Recherchier- und Fahndungsmethoden wie beobachtende Fahndung, Rasterfahndung und Spurendokumentation (Spudok), die systematische Videoüberwachung von Demonstrationen wie den Einsatz von Polizisten als V-Männer – all dies existierte vor fünfzehn Jahren noch gar nicht, bzw. nur in Ansätzen. In dem Maße, in dem die Polizei diese neuen Methoden und Strategien zu nutzen begann, wuchs nicht allein die Begehrlichkeit der Sicherheitsapparate, möglichst umfassend Informationen erheben und verarbeiten zu können. Denn nur unter dieser Voraussetzung besteht die Chance in Umkehrung traditioneller Ermittlungsmethoden von potentiellen Gefährdungen auf konkrete Täter zu kommen. Zugteich wuchs der Chor der Stimmen, die die Rechtmäßigkeit von polizeilichen Maßnahmen und Eingriffen im Vorfeld konkreter Gefahren und Straftaten in Frage stellten[3].

Die Antwort, die der AK II der Innenministerkonferenz mit dem Musterentwurf des Jahres 1976/77) gab, lief auf ein Doppeltes hinaus: Zum einen wurde versucht, neben der Strafverfolgung und der traditionellen Gefahrenabwehr eine neue Polizeiaufgabe zu kreieren: die vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Der Versuch, diese neue Aufgabe in die allgemeine Aufgaben- und Befugnisnorm des Polizeirechtes einzuschieben wurde zwar 1977 aufgegeben, gleichwohl ist die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ inzwischen zu einem stehenden Begriff herrschender polizeilicher und juristischer Interpretationskünste geworden. Erfolgreich waren die Gesetzesmacher auch mit der Zumutung, Einzelbefugnisse zur „Informationserhebung“ gegen jedermann/jedefrau – auch ausdrücklich unverdächtige Personen – rechtlich zu verankern. Was die anderen Formen der „Informationserhebung“ betraf, so stellten sich die Polizeivertreter auf den Standpunkt, daß die Sammlung von Informationen inhärenter Bestandteil der traditionellen Aufgabe der Polizei sei und darüberhinaus auch keinen grundrechtsrelevanten Eingriff darstelle; einer besonderen Regelung bedürfe es nicht. Intern freilich war schon vor acht Jahren anderes zu vernehmen: Im Abschlußbericht der Arbeitsgruppe „Harmonisierung“ der IMK von 1977 ist zu lesen, daß für die „Observation und die beobachtende Fahndung“ eine „eindeutige Rechtsgrundlage dringlich erforderlich“ sei, da „meist eine konkrete Gefahr bejaht werden kann“ und also „die Gefahr besteht, daß eventuell mangels rechtmäßiger Gewinnung der Erkenntnisse die daraufhin gespeicherten Daten gelöscht werden müßten“[4].

Alte Ziele – systematisch verfolgt: Der ME, Fass. 85

Unter dem Vorwand aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 1983 gesetzgeberische Konsequenzen ziehen zu wollen, wurden – quer zum Inhalt dieses Urteils – mit dem ME, Fass. 85 jene bereits 1977 intern reklamierten Befugnisse nachgeschoben. Vor diesem Hintergrund erscheint der ME, Fass. 85 als konsequente Weiterentwicklung des alten Musterentwurfes von 1977 wie auch als die Anpassung des Rechts an verbesserte technische Möglichkeiten zum Einbruch in die Privatsphäre der Bürger. Zwar getrauen sich die Formulierungskünstler der IMK auch heute noch nicht, die alte Aufgaben- und Befugnisformel – die dem Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1789 entstammende Gefahrenabwehr – vollends aufzulösen. Man belässt sie als Attrappe in § 1, um dann auf listige Weise der Polizei im § 1a eine neue, orginäre Aufgabe zuzuweisen: Bei der „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“ wird die Polizei von sich aus tätig. An diese Aufgabe knüpft sich folgend eine Vielzahl von Möglichkeiten der Datenerhebung (§ 8a, Abs. 1, Nr. 2), der polizeilichen Beobachtung (§ 8d, Abs. 1 u. 2) und der Datenübermittlung (§ 10b, Abs. 1). Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung mit Eingriffsrechten gegen jedermann/jedefrau – und darin unterscheidet sich der Begriff heute von der traditionellen vorbeugenden Verbrechensbekämpfung durch polizeiliche Aufklärungskampagnen – wird zum Schlüsselbegriff für alle Maßnahmen, die nicht mehr an eine vorhergehende oder konkret absehbare Störung oder Straftat anknüpfen.

Zugleich differenziert der ME, Fass. 85 nun für alle wesentlichen Maßnahmen der polizeilichen Recherche und Informationserhebung eigenständige Befugnisnormen aus:

– Videoüberwachung;
– das systematische Ablichten von Demonstranten;
– der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel;
– der Einsatz polizeilicher Untergrundfahnder.

Nichts wurde vergessen – und vergessen wurde ebensowenig, die entsprechenden Befugnisse möglichst generalklauselhaft breit zu formulieren. § 8a stellt zunächst eine allgemeine Befugnis zur Erhebung von Personaldaten dar, denn „tatsächliche Anhaltspunkte“ dafür, daß dies „zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist“ (§ 8a, Abs. 1, Nr. 2), gibt es immer. Anhaltspunkte dafür, daß bei Demonstrationen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung entstehen, gibt es ebenfalls regelmäßig, also auch die Chance, bei dieser Gelegenheit Bild- und Tonaufnahmen zu verfertigen. Selbst die schwerwiegenden, heimlichen Maßnahmen zur Informationsbeschaffung (Observation, V-Mann, Lauschangriff, Video-Überwachung etc.) sollen nach den Vorstellungen der Gesetzesmacher im Sinne vorbeugender Verbrechensbekämpfung bei gut zwei Dritteln der im Strafgesetzbuch enthaltenen Straftaten eingesetzt werden können.

Angesichts derart weitläufiger Möglichkeiten der Informationserhebung ist kaum zu erwarten, daß restriktivere Regelungen zur Speicherung von Daten und Akten zu finden sind (letztere klammert der Entwurf ganz aus). Gespeichert werden können nach § 10a nicht nur alle im Rahmen eines Strafermittlungsverfahrens anfallenden Daten – und sei es auch nur wegen Eierdiebstahls oder wilden Plakatierens; gespeichert werden können auch Daten Unverdächtiger, soweit dies zur vorbeugenden Bekämpfung der im Straftatenkatalog des § 8c, Abs. 1, Nr. 2, der zweite Drittel des StGB umfaßt, sinnvoll erscheint.

Ähnlich weitläufige Formulierungen finden sich in jenen Paragraphen, die die Möglichkeiten des Datenabgleichs normieren sollen: Prinzipiell nimmt die Polizei für sich in Anspruch, alle Daten, gleich wo und weshalb sie bei ihr anfielen, mit den bei ihr vorhandenen Dateien abgleichen zu können. Daten anderer Behörden und privater Daten-besitzer soll die Polizei nach § 10d nicht nur im Rahmen der Strafverfolgung zur sog. „Rasterfahndung“ heranziehen können, sondern auch zur Abwehr einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr. Die schließlich in § 10b enthaltenen Regelungen der Datenübermittlung fallen nicht nur hinter den in den verwaltungsinternen KAN-Richtlinien formulierten Standards der Datenübermittlung zwischen den Polizeien der Länder und dem BKA zurück; er enthält darüberhinaus auch eine Generalklausel, mit der faktisch die Weitergabe von beliebigen Daten an andere Sicherheitsbehörden gerechtfertigt wird.

Die Tragweite dieses Sachverhalts erschließt sich aber erst dann vollständig, betrachtet man den ME, Fass. 85 im Rahmen des derzeitigen Versuchs, die Befugnisse der Sicherheitsapparate insgesamt zu erweitern und rechtlich abzusichern. Legt man den Musterentwurf neben den Entwurf eines VfS-Gesetzes vom Juni 1985 und den Entwurf eines MAD-Gesetzes, zieht man schließlich den „Vorentwurf eines Gesetzes über die informationelle Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden des Staats- und Verfassungsschutzes“ hinzu, so wird deutlich, daß es rechtlich relevante Unterschiede in den Aufgaben und Befugnissen der Apparate eigentlich nur noch an einer Stelle gibt: Die Nachrichtendienste selbst dürfen keine exekutiven Eingriffe vornehmen. Ansonsten aber wird von einer Funktionsidentität der Sicherheitsbehörden ausgegangen. Der routinemäßige Transfer von Informationen, die bei den Grenzschutzbehörden oder der polizeilichen Strafverfolgung anfallen und für Verfassungsschutz und MAD von Interesse sind, ergibt sich logisch aus einem solchen Funktionsverständnis. Die Differenz zwischen Polizei und Geheimdiensten ist nur noch eine in den Mitteln, die jeweils zur Verfügung stehen (Zwang oder nicht). Ansonsten aber können sich die Geheimdienste durchaus des exekutiven Arms dort bedienen, wo ihnen selbst dies verwehrt ist, währenddessen die Polizei ihrerseits die Möglichkeiten nachrichtendienstlicher Mittel (und Vorgehensweisen) auch für sich beansprucht (bereits ausführlich zum Einsatz „nachrichtendienstlicher Mittel“ durch die Polizei entprechend ME, Fass. 85; Jürgen Seifert in vorgänge 77)

Das Rechtsverständnis der Exekutive und die Grundrechte der Bürger

Schon bald nach Veröffentlichung des alten ME’s in der Fassung von 1976/77 beklagten Juristen, der gesamte Komplex der Informationserhebung und -verarbeitung im Sicherheitsbereich sei rechtsstaatlich noch unzureichend geregelt. Die Polizei operiere vielfach in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität – eine Situation, die zu einer gewissen Zurückhaltung zwang. Bei den Nachrichtendiensten fehlte es überhaupt an gesetzlichen Regelungen. Für den Bundesnachrichtendienst und den Militärischen Abschirmdienst gab es nicht einmal Organisationsgesetze.

Nun werden Sicherheitsgesetze in Hülle und Fülle produziert. Dem seit langem von Staatsrechtlern und Polizeipraktikern, von Geheimdienstlern und Bürgerrechtsorganisationen zu hörendem Ruf nach gesetzlichen Grundlagen für die Sicherheitsdienste ist mit den intern vorliegenden Entwürfen formal Genüge getan. Dennoch ist es die pure Arroganz der Macht, wenn der Arbeitskreis II der Innenministerkonferenz seine Gesetzesentwürfe ausdrücklich damit begründet, daß dies eine notwendige Folge des Volkszählungsurteils sei, aus dem man mit diesen Gesetzen die rechtsstaatlich notwendigen Konsequenzen ziehe. Denn über die inhaltlichen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zum „informationellen Selbstbestimmungsrecht“ der Bürger und zur „Offenheit des demokratischen Prozesses“ (der aus diesem Grund auch keiner nachrichtendienstlichen Überwachung anheimfallen soll) setzen sich die Gesetzesmacher souverän hinweg. §8b etwa (Datenerhebung bei öffentlichen Veranstaltungen) ist in der vorliegenden Form schlicht verfassungswidrig, folgt man den Ausführungen des BVerfG im Brokdorf- und Volkszählungsurteil auch nur oberflächlich.

Wie weit die IMK mit ihren Plänen über das Vorentwurfstadium hinauskommen wird, wird in den kommenden Monaten und Jahren kaum vom Bundesverfassungsgericht entschieden. Vielmehr wird es davon abhängen, welches Funktionsverständnis der Polizei sich in der öffentlich-parlamentarischen Diskussion durchsetzen wird. Sicherlich lassen sich immer Einzelfälle finden, wo es zur Rettung höherer Rechtsgüter – etwa von Leben und Gesundheit verhältnismäßig erscheint, eine Observation oder beobachtende Fahndung einzuleiten. Doch wer den ME, Fass. 85 aufmerksam liest, merkt schnell, daß es hier in keinem Paragraphen um die Formulierung bestimmter, eng umgrenzter Ausnahmeregelungen geht. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: In allen Konsequenzen wird das Ziel verfolgt, Eingriffsrechte für eine andere, eine neue Polizei zu schaffen, deren Befugnisse zur Sammlung und Verarbeitung von Informationen nur noch an abstrakte Kalküls einer „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ geknüpft sind, um entsprechend eingreifen zu können.

Das traditionelle Polizeiverständnis in den westlichen Demokratien definierte die Polizei (und schränkte sie damit zugleich ein) als eine Instanz, die dem Bürger gegenüber offen auftritt und ihr Eingreifen von einem unmittelbar drohenden Verstoß gegen die Gesetze oder die bürgerliche Ordnung abhängig macht. Sie war legitimiert als Grenzwächter einer von freien Bürgern gewählten Ordnung – wie sehr auch immer die Wirklichkeit von diesem Idealbild abwich. Überträgt man aber der Polizei und den dazugehörigen Nachrichtendiensten die umfassende Aufgabe der „Gefahrenvorsorge“ und einer „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, so mag dies in Teilen dazu führen, daß der einzelne Bürger mehr Sicherheit vor dem kriminellen Nachbarn genießt. Für eine offene, freiheitliche und demokratische Form der Willensbildung, für die auch das vom Bundesverfassungsgericht ausformulierte Recht auf interformationelle Selbstbestimmung fundamental ist, wäre es jedoch tödlich. Deshalb geht es um mehr als nur die Frage, was wir der Polizei im Falle X oder Y an Befugnissen zugestehen wollen – es geht um die zukünftige Struktur der bundesrepublikanischen Demokratie.

Verweise

1 Die Gesetzesentwürfe werden nebst ausführlichen Kommentaren im am 15. November 1985 erscheinenden Heft 21 der Zeitschrift »Bürgerrechte und Polizei – CILIP« dokumentiert werden. (Bezug: Kirschkern Buchversand, Lietzenburger Straße 99, 1000 Berlin 15).
2 So Scholz/Pintschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverarbeitung; Berlin 1984, 5. 183
3 Vgl. zum ME, Fass. 1977 und der Logik der Verrechtlichung: H. Busch /A. Funk/U. Kauß/ W.D. Narr /F. Werkentin: Die Polizei in der Bundesrepublik; Ffm/New York 1985, S. 189 ff
4 Abschlußbericht der Arbeitsgruppe »Harmonisierung« des AK II der Innenministerkonferenz, 1977, o.O.

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