Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 170: Rückkehr der Bürgerlichkeit

Über die Zäune und Sperren hinweg. Zum Tod von Jürgen Seifert

aus vorgänge Nr. 170: Die Rückkehr der Bürgerlichkeit, S. 128-129

Lab‘ Dich an Macht und Ohnmacht nicht.
J.S., 1959

Kulturanalyse lebt von Großbegriffen, die mancher das Glück hat zu prägen. Sie sind die Epizentren historischer, diskursiver und symbolischer Perspektivierungen darauf, was sich innerhalb der kulturellen und gesellschaftlichen Gemengelage an Phänomenen formiert, das Leben der Menschen beeinflusst, sich langfristig tradiert oder nur kurz aufblitzt. Die kardinalen Begriffe, an denen sich die Praxis der Theoriebildung ebenso orientiert wie eine eher gegenstandsorientierte Forschung, sind rar und kostbar. In der Regel sind sie außerdem heiß umkämpft, da sie sich immer in einem Feld der Konkurrenz um Deutungsmacht bewegen. (Dennoch ist es auch möglich, sie umstandslos zu synthetisieren, wie diese Sätze zeigen.) Die sogenannten „Klassiker zu Lebzeiten” in den Humanwissenschaften zehren allzu oft davon, dass sie derartige Begriffe geprägt und ganzen Generationen von Wissenschaftlern und Interessierten an die Hand gegeben haben. Michel Foucault, der 1984 früh verstarb und um sich erfolgreich ein Rätsel installiert hatte, wie er zu nennen sei: Philosoph oder Historiker, gehört in die Reihe dieser Großintellektuellen. Nicht nur, dass er eine ganze Reihe von Begrifflichkeiten erfand, die verschiedenste Disziplinen von der Literatur-bis zur Geschichtswissenschaft anhaltend Kritik prägten; er hat auch bedeutende Untersuchungen vorgelegt, die von bleibender Originalität sind. Das ist nicht selbstverständlich: Den Terminus der „Risikogesellschaft” zum Beispiel wird es auch dann noch geben, wenn das Buch, worin er erfunden wurde, vollends vergessen ist.

Nun legt der Suhrkamp Verlag seit einiger Zeit die nachgelassenen Schriften und Vorlesungen Foucaults vor. Darunter findet sich auch ein im vergangenen Herbst erschienener zweiteiliger Vorlesungszyklus, gehalten 1977/78 am College de France. In ihm werden gleich zwei der Großbegriffe aufgerufen, die Foucaults Deutungsimperium markieren: „Gouvernementalität” und „Biopolitik”.

Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 600 S.; Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik, 518 S., Frankfurt/Main 2004, geb., ISBN 3-518-58392-1(1), 3-518-58393-X (II); 69,80 Euro

Foucaults Methode gemäß versprechen diese Bände ein weit ausholendes, detailliertes Panorama zu den beiden ansonsten wenig expliziten, aber dennoch bemerkenswert einflussreichen Begrifflichkeiten. So kannte man in Deutschland das Konzept der „Gouvernementalität” nur aus einem Aufsatz, nachgedruckt in einem Sammelband, der u.a. von Thomas Lemke herausgegeben wurde, welcher den Terminus wiederum Mitte der 1990er Jahre mit einer Monographie zum Thema bekannt gemacht hatte (Bröckling et al. 2000; Lemke 1997). Anders verhält es sich mit der „Biopolitik”, die bereits in Sexualität und Wahrheit 1 als Exkurs am Ende auftaucht, einen Forschungshorizont umreißt, dort aber gleichwohl nebulös bleibt. Schon bald darauf kursierte in verschiedenen Publikationen diejenige Vorlesung, worin der Begriff in einen größeren historischen, methodischen Kontext eingebettet wird; seit einigen Jahren liegt die gesamte Vorlesungsreihe vor, deren Abschluss sie bildet (Foucault 1999).

Die Gouvernementalität stellt ein Konzept dar, das es erlaubt, verschiedene Techniken zur Regierung von Individuen zusammenzufassen und zu untersuchen. Bekanntlich vermerkt Foucault etwa für das 17. Jahrhundert das Ende des klassischen Souveränitätsprinzips, das sich ihm zufolge durch die Konzentration der Tötungsmacht in der Figur des Souveräns auszeichnet. Wurde bis dahin also vor allem über die Drohung geherrscht, der Souverän könne dem Einzelnen das Leben nehmen, so werden mit zunehmender gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, Individualisierung und der Etablierung des Nationalstaats neue Techniken der Herrschaftsausübung erforderlich. Die Gouvernementalität bezeichnet entsprechend das Ensemble dieser neuen, „weichen” Technologien der Herrschaft. Biopolitik wiederum meint eine besondere Spielart dieser Technologien, die sich grundsätzlich auf die Regierung ganzer Bevölkerungsgruppen konzentriert, sich der Körper der Individuen bemächtigt und Praktiken von der Hygienepolitik bis hin zur Exklusion spezifischer Bevölkerungssegmente einschließen kann.

Erwartungsgemäß führt der erste Band der 1977/78 gehaltenen Vorlesungen Foucaults in die verschiedenen Felder der Gouvemementa-lität ein, die laut Foucault in etwa seit dem 16. Jahrhundert Gestalt und konzeptionelle Kontur annimmt; sie kann also als die politische Praxis der klassischen Moderne bezeichnet wer-den. Keineswegs banal ist es, wenn Foucault schreibt: „Das, was man regiert, sind die Menschen.” (183) Hier ist zum einen der Bezug auf einsetzende Individualisierungstendenzen zu verzeichnen, zum anderen die Idee einer christlich geprägten Tradition des „Pastorats”, worin externe Autorität und internalisierte Moral zusammenfließen. Damit schließt sich Foucault in einem an Max Weber erinnernden Sinne der Ansicht an, „dass es in den modernen westlichen Gesellschaften eine Beziehung zwischen Religion und Politik gibt” (278), die sich nicht in einem bloß pseudoreligiösen Verständnis von Politik erschöpft, sondern auf strukturelle Überschneidungen beider Bereiche verweist. Jedoch spart Foucault die Ökonomie an dieser Stelle keineswegs aus, sondern betont sie vielmehr als dritte Domäne moderner Herrschaft. Im Typus des Pastorats als „spezifischem Machttypus” (282) vereinen sich schließlich alle drei Attribute; das Pastorat liefert somit den institutionellen Rahmen einer politischen Praxis der Gouvernementalität.

Unter dieser konzeptionellen Prämisse zeichnet Foucault schließlich die wesentlichen gouvernementalen Techniken nach. Zunächst schält sich im 17. Jahrhundert ein neuartiger Typus der Staatsraison als einer „Beziehung des Staates zu sich selbst” heraus (401). In diesem Zusammenhang erscheint es für den Staat erforderlich, sowohl über ein spezifisches Wissen über seine Bevölkerung zu verfügen, als sich auch deren Gehorsams auf eine Weise zu versichern, der sich nicht in herkömmlichen Gesten der Unterwerfung er-schöpft, sondern auf Identifikation und Offenbarung abzielt. Damit etabliert sich ein Verständnis politischer Wahrheitspraktiken, das zwar unmittelbar anknüpft an religiöse Praktiken des Pastorats, wie etwa die Beichte, das aber im politischen und bald nationalen Kontext seinen spezifisch modernen Anstrich erhält. Was Foucault gemeinhin als „Wahrheitsproduktion” bezeichnet, meint genau diese Verbindung zwischen einem Bedürfnis des Staates nach Sicherheit und einer politischen Praxis, die die einzelnen Subjekte in den Blick nimmt. Ihrer Verantwortung obliegt die Pflicht zum eigenen Gehorsam, die schließlich zur Gewissensfrage wird. Wenn daher von Bevölkerung zwar die Rede ist und sich auch eine ganze Reihe von Politiken herausschälen, die auf die Bevölkerung als ganzer zielen, so fokussieren diese Politikpraxen tatsächlich doch immer das einzelne Individuum, und hier vor allem seinen Körper. Das neue, moderne Instrument zur Durchsetzung einer derartigen pastoralen Herrschaft bildet die Polizei, die im 17. und 18. Jahrhundert eine neue Konzeption und Aufgabenstellung erfährt und mit überaus subtilen Aufgaben betraut wird.

So bietet dieser erste Band der Vorlesungen zur Gouvernementalität eine Art Generaleinführung, einen fundamentalen Überblick über Foucaults Konzept der Gouvernementalität, deren Entstehung und Anatomie. Anders der zweite Band, der — sogar für Foucault selbst, wie sich am Ende zeigt – mit einer Überraschung aufwartet. Denn anstatt, wie man er-warten dürfte, die Geburt der Biopolitik an-hand des am Ende der vorangehenden Vorlesung bereitgelegten Themas der Bevölkerungspolitik auszuführen, ihrer Genese im 19. Jahrhundert und ihrer Bezüge zu den beiden zeitgleich sich etablierenden Disziplinen der Biologie und Soziologie, vollzieht Foucault eine überraschende Wendung und liefert eine Hinführung zu ökonomischen Prozessen und Programmatiken des 20. Jahrhunderts ab. Noch überraschender aber ist, dass es sich in der Hauptsache sogar um eine Geschichte der Anfänge des bundesdeutschen Wirtschaftssystems zwischen 1948 und 1962 handelt, überdie sich Foucault erstaunlich gut informiert zeigt. Daneben geht er ausführlich auch auf die amerikanische Chicago-Schule ein. Foucault führt hier insbesondere in die Geschichte und das Selbstverständnis des modernen Liberalismus ein, der, kaum dass jene Gouvernementalitätspraktiken umfassend installiert gewesen wären, als deren radikale Kritik und Korrektiv auftritt. Das Credo des Liberalismus lautet zwar, es werde stets zuviel regiert; dennoch gelingt es ihm, den Staat für sich zu vereinnahmen und sich zu einer „liberalen Regierungstechnologie” (440) zu transformieren. Fast nebenbei sind hier zudem interessante Einsichten zu finden, die von der Gesamtanlage deutlich abweichen, durch die Analyse ökonomischer Prozesse den Band jedoch über weite Strecken dominieren. So trifft Foucault — etwa 25 Jahre vor der gegenwärtigen Diskussion um Flexibilität und „Selbstverantwortung” in den Arbeitsverhältnissen – Aussagen zum „Homo oeconomicus” als dem „Unternehmer seiner selbst” (314), die die Untersuchungen Richard Sennets zum Flexiblen Menschen als bloße Illustration erscheinen lassen. Gerade der zweite Band seiner Vorlesungen erweist sich damit als unerwartet aktuell – was eine schöne Überraschung ist, nachdem sich zunächst Enttäuschung darüber breitgemacht hatte, der Autor habe sein Vorlesungsthema verfehlt.

Literatur

Bröckling, Ulrich u.a. (Hg.), 2000: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonominierung des Sozialen, Frankfurt/Main
Foucault, Michel 1999: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt/Main
Lemke, Thomas 1997: Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität

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