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Weltmeister im Erinnern?

Über das Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur

aus vorgänge Heft 2/2012, S.24-32

Die Situation ist paradox. Seit einigen Jahren wird den Deutschen von der Außenwelt bescheinigt, dass sie etwas gut gemacht haben, und das ist der Aufbau ihrer Erinnerungskultur. Der englische Historiker Timothy Garton Ash sprach von einer deutschen DIN-Norm des Erinnerns, in Russland spricht man vom ‚deutschen Modell‘ und von dem amerikanischen Politologen John Torpey, der grundlegende Werke über Wahrheitskommissionen und politischen Systemwandel veröffentlich hat, stammt der Satz: „We are all Germans now!“ (wir sind jetzt alle Deutsche!).(1) Er meint damit einen Mentalitäts- und Gesinnungswandel, der dazu geführt hat, dass Staaten inzwischen immer öfter bereit sind, das Unrecht, das sie selbst in der Geschichte verübt haben, anzuerkennen, anstatt, wie bisher üblich, alles, was das positive nationale Selbstbild in Frage stellen könnte, zu verleugnen oder mit Schweigen zu übergehen. Hinzu kommt – nicht zu unterschätzen – das positive Votum einer großen und weiter wachsenden Zahl jüdischer und anderer Künstler, die inzwischen von Jerusalem, Paris oder New York nach Berlin ziehen, weil sie dort auf Schritt und Tritt die Spuren ihrer traumatischen Familiengeschichte wiederfinden können, die hier markiert, offen ausgesellt, diskutiert und in der Erinnerung präsent gehalten werden.

Sind die Deutschen also Weltmeister im Erinnern? Natürlich kommt ihnen dieser merkwürdige Titel nur zu, weil sie zuvor Weltmeister im Morden waren. Millionen von Männern und Frauen, Kindern und alten Menschen mit bürokratischer Akribie durch Hunger, Arbeit, Folter, Erschießung und Vergasung aus keinem anderen Grund umzubringen als dem, dass sie einer anderen ,Rasse‘ angehörten, war eine deutsche Obsession, die von 1941-1945 mit deutscher Gründlichkeit und europäischer Hilfe durchgeführt wurde. Immer wieder bin ich mit dem Argument neunmalkluger Intellektueller konfrontiert, die in den Anstrengungen der deutschen Erinnerungskultur nichts anderes sehen als die Fortsetzung deutscher Hybris: so oder so, Hauptsache Weltmeister! Was wäre, so muss man zurückfragen, denn die Alternative? Sich bescheiden zurückzuziehen, die Hände in den Schoß und die ganze Sache ad acta zu legen?

Tatsächlich ist die neue Erinnerungskultur, die im Ausland an den Deutschen geschätzt wird, hierzulande vielen ein Dorn im Auge ist. Das dumpfe Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur schafft eine Allianz zwischen Menschen mit entgegengesetzten politischen Haltungen, vom ultrarechten Spektrum der NS-Verherrlicher, Holocaust-Leugner und ressentimentgeladenen Populisten bis zum linken Spektrum der nationalen Identitätsverweigerer und Intellektuellen, die gegen den politischen Mainstream aufbegehren. Dieses von starken Emotionen getragene unisono ist problematisch. Um es in die Diskussion und auf die Ebene der Argumentation zurückzuholen, sollen hier einige Angriffspunkte aufgelistet und besprochen werden.

Indivi­du­elles, kollektives und kulturelles Gedächtnis

Ich beginne mit der Kritik am Konzept der Erinnerung selbst. Es gibt viele, die mit der neuen Bedeutung, die die Erinnerung in den letzten Jahrzehnten weltweit gewonnen hat, nichts anfangen können und sich gerade auch der Vorstellung eines ,kollektiven Erinnerns‘ hartnäckig widersetzen. Jan Philipp Reemtsma zum Beispiel hat sich emphatisch gegen den Konsens ausgesprochen, dass Erinnern eo ipso etwas Gutes sei:

„Erinnert muss werden, erinnern hat eine imperativische Semantik. Doch was soll am Erinnern positiv sein? Erinnern wie Vergessen sind menschliche Eigenschaften, die weder gut noch schlecht sind, sondern beide dazu gehören, das Leben zu bewältigen. (…) Erinnerung setzt Vergessen voraus. Erinnern per se für etwas Gutes zu halten ist Unsinn.“(1)

In der Tat gibt es genügend Beispiele, die zeigen, dass Erinnern auch Hass schüren, verhärten oder in die Depression führen kann. Es kommt also immer auf den Inhalt und die Rahmenbedingungen des Erinnerns an, bevor entschieden werden kann, ob daran etwas Positives ist. Wie viele andere geht Reemtsma zudem von der Vorstellung aus, dass Erinnerung ausschließlich an Individuen gebunden und kurzfristig ist: „Weniges wird überhaupt bewusst wahrgenommen. Weniger wird ins Kurzzeitgedächtnis aufgenommen. Noch weniger wird längerfristig, kaum etwas als biographisch bedeutsam ein Leben lang erinnert.“ In seinem Aufsatz mit dem Titel „Wozu Gedenkstätten?“ schließt er die Möglichkeit eines kulturellen Gedächtnisses aus. Genau das war jedoch ein wichtiger Lernschritt, der in den 1980er Jahren möglich wurde und seither unsere Perspektive erweitert hat. Kulturen, so die Überzeugung, schaffen überlebenszeitliche Wissens- und Bezugsräume, in denen sich die Angehörigen dieser Kultur mit ihren eigenen Erfahrungen verorten und orientieren. Vergangenheit ist deshalb nicht nur etwas, das vergeht, sondern auch etwas, das bereitgehalten wird – als freie Ressource, als Identitätsstütze, als Gegenstand nachträglicher Auseinandersetzung. Erinnern und Vergessen sind deshalb nicht nur individuelle Vermögen, sondern immer schon in größere Zusammen-hänge kulturellen Erinnerns und Vergessens integriert. Menschen entscheiden nicht nur für sich selbst, was sie nun erinnern wollen, und was nicht, sondern auch, was auf der Ebene der Kultur in Zukunft noch im Bezugsrahmen der Nachwelt verbleiben soll. In diesem Sinne werden in der Gegenwart permanent Entscheidungen und Vorkehrungen in Bezug auf die Vergangenheit getroffen, die die Nachwelt betreffen, indem sie Vorgaben machen, welche Autoren noch gelesen, welche Musik noch gehört, welche Ereignisse noch im Bewusstsein bleiben. Diese Auswahlprozesse werden in Demokratien von öffentlichen Diskursen begleitet, die stets nur von einer Minderheit getragen werden. Der abstrakte Begriff ,kulturelles Gedächtnis‘ bezieht sich auf ein breites Spektrum kultureller Praktiken wie die Konservierung von Spuren, Archivierung von Dokumenten, Sammlung von Kunst und Relikten einschließlich ihrer Reaktivierung durch mediale oder pädagogische Vermittlung. Das kulturelle Gedächtnis ist nämlich nicht nur ein passives ,Speichergedächtnis‘, sondern umfasst gerade auch die Dimension der Reaktivierung dieser Vergangenheit und die Möglichkeit ihrer allgemeinen Aneignung als aktives ,Funktionsgedächtnis‘. Das bedeutet, dass das kulturelle Gedächtnis Strukturen der Partizipation schafft, die solche individuelle und kollektive Wiederaneignung ermöglichen. Man darf diese Strukturen der Partizipation, die in der Demokratie stets nur ein Angebot sind und keine von außen aufgezwungene Verpflichtung, nicht mit einer Statistik des Kollektiven verwechseln. Das genau tut aber Reemtsma, der in seinem genannten Aufsatz „die Rede in der ersten Person Plural insofern (für) metaphorisch (hält), als mit ihr nicht einmal Mehrheiten behauptet werden. (…) Auch für Gedenkstätten – wozu sie errichtet worden sind, was aus ihnen werden soll – interessiert sich nur eine Minderheit. Aber diese Minderheit hat ihr Interesse durchgesetzt, als wäre es das aktive der Mehrheit, die es doch nur hat geschehen lassen.“(3)

Obwohl es inzwischen eine internationale Bibliothek zu dieser Thematik gibt, lehnen viele Historiker nach wie vor die Konzepte der ,kollektiven Identität‘ und der ,kollektiven Erinnerung‘ als eine illegitime Metapher ab. Man kann den Spieß aber auch umdrehen und mit ihm die Frage der Beweislast. Das tat kürzlich Bodo Mrozek, als er die umgekehrte Frage stellte: „Kann es – wie Kritiker des Gruppenkonzeptes behaupten – ein rein individuelles Erinnern geben?“(4) Individuen, so seine Gegenthese, erinnern nicht nur für sich selbst, sondern gehören, ob ihnen das bewusst ist oder nicht, immer schon größeren Erinnerungskollektiven an, in deren Rahmen sie mit den Anderen oder gegen die Anderen erinnern. Natürlich ist es noch ein erheblicher Schritt von solchen , sozialen Gedächtnisrahmen‘ (wie Maurice Halbwachs sie genannt hat) zu Reemtsmas „erster Person Plural“ im Sinne eines nationalen Gedächtnisses. Angehörige der 68er Generation (aber auch ältere Historiker wie Reinhart Koselleck) perhorreszierten dieses Konzept lange aus einem guten und verständlichen Grund, weil sie damit nationalistische Tendenzen assoziierten, die es in Deutschland nach dem Krieg unter allen Umständen zu bekämpfen galt. Die Lehre, die sie aus der totalitären Vergangenheit zogen, lautete: Nie wieder eine deutsche Identität! Damit waren jedoch Denkverbote verbunden, die sich immer mehr als problematisch erwiesen. Denn dass es politische Erinnerungsrahmen gibt und dass sich auch Nationen erinnern, wird man mit Blick auf die überall auf der Welt existierenden Gedenktage und Kommemorationspraktiken nicht einfach leugnen können. Ob dieser offizielle und repräsentative Rahmen für alle Bürger eines Staates auch von Interesse ist oder nicht, ist eine andere Frage. In Deutschland besteht nach wie vor eine Differenz und Distanz zwischen einem inoffiziellen Opfergedächtnis (die Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkriegs) und dem offiziellen Tätergedächtnis (die Juden als Opfer des Holocaust).

Bodo Mrozek betont, dass die Verknüpfung von Erinnerung und Kollektiv keineswegs trivial ist, weil sie ein Gedächtnis für die Zukunft begründet, das über die eigene Lebensspanne hinausweist. Wer auf einer rein individuellen Erinnerung insistiert, negiere, so Mrozek, die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Erinnerungskultur: „Mit der historisch abgeschlossenen Erfahrung endete auch das Ereignis selbst und lüde damit zum Ziehen eines Schlussstriches vor der klar abgegrenzten Gegenwart ein: Vergangenheit, die allzu schnell verginge. Es ist daher keine rein begriffliche Haarsspalterei, auf den sozialen Charakter der Erinnerungen hinzuweisen, die immer schon kollektiv angelegt sind.“(5) Die Vergangenheit ist deshalb nicht nur ein Gegenstand des Wissens, den man zu den Akten legen kann, sondern auch durch Bande der Erfahrungen, Erinnerungen, Gefühle und Fragen der ldentität mit der Gegenwart und Zukunft verbunden. Genau dafür hat Reemtsma in seinem Aufsatz auch sehr überzeugende Worte gefunden, denn nationale Erinnerung ist „Geschichtsdeutung im Sinne der Selbstdeutung: Wir wollen der Geschichte entnehmen, wer wir sind und was wir hoffen können.“(6) Vera Kattermann hat aus psychoanalytischer Sicht das kollektive Gedenken mit dieser Identitätsdimension verbunden: „Auch wenn Sinnzuschreibungen und Bedeutungsgebung der Gedenktage immer wieder ausgehandelt werden und sich verändern können, sind sie doch Ausdruck der kollektiven Schlüsselbedeutung eines historischen Ereignisses, die vorläufigen Konsens gefunden hat: ,Weil wir dieses erlebt haben, sind wir heute so. Unsere Erfahrungen begründen die Werte, die uns wichtig sind, mit dem Gedenken erinnern wir uns daran.“(7)

Individuelles Erinnern ist also in den größeren kulturellen Rahmen kollektiven Erinnerns eingebunden, wobei die Voraussetzung einer kollektiven Identität die Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildet. Im Medium der Erinnerung vergewissert sich die Nation ihrer Geschichte; und ihre Identität hängt davon ab, was sie von dieser Geschichte jeweils erinnert und was sie vergisst.

Die Holocaust-Er­in­ne­rung als Obsession der 68er Generation

Für Gedenkstätten, so schrieb Reemtsma, „interessiert sich nur eine Minderheit. Aber diese Minderheit hat ihr Interesse durchgesetzt, als wäre es das aktive der Mehrheit.“ Diese Position hat sich auch Ulrike Jureit zu eigen gemacht.(8) Nach ihrer Ansicht besitzt die deutsche Holocaust-Erinnerung keine legitime Basis, weil in diesem Fall die 68er Generation ihre Deutungsmacht der Bevölkerung aufgezwungen habe. Der partikulare Akteur dieser Erinnerung seien einige Vertreter der 68er Generation, die sich anmaßen, „die eigene vergangenheitsbezogene Sinnstiftung auf Dauer zu stellen und sie auch für die jüngeren Jahrgänge, denen es (ihrer) Meinung nach offenbar an der richtigen Moralität und Empathie mangelt, als verbindlich festzuschreiben“. (84) Jureits Essay ist ein Angriff auf diese „Deutungsmacht“ der 68er Generation, die die Holocaust-Erinnerung ihrer Ansicht nach in Form einer „generationellen Selbstermächtigungsstrategie“ in Deutschland eingesetzt hat. Daraus folgt, dass die deutsche Erinnerungskultur die Folge eines Diktats (wo nicht gar einer Diktatur) der 68er Generation ist. Was sich als ein demokratischer Beschluss darstellt, wie die Abstimmung über den Bau des Mahnmals in Berlin, ist im Grunde nur die Machenschaft einer politischen Generation, die hier ihr Deutungsmonopol ausübt, indem sie ihre „eigene vergangenheitsbezogene Sinnstiftung auf Dauer“ und „historisches Erinnern nach den eigenen Maßstäben still“ stellt. (84) Für nachfolgende Generationen sei diese Erinnerung, die ausschließlich von der Obsession der 68er getragen ist, deshalb inakzeptabel und irrelevant.

Eine ähnliche Abwehrposition hatte bereits Hans-Ulrich Wehler bezogen in einem Interview, das zum 8. Mai 2005 veröffentlicht wurde.(9) Unter der Überschrift „Bravourös bewältigt“ äußerte er sich zufrieden zum Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit. Er blickte mit Stolz auf die Überwindung des Nationalsozialismus und „auf die Erfolgsgeschichte von Demokratie und Menschenrechten seit 1949 im Westen und seit 1990 im ganzen Land“. Die Deutschen hätten im „postnationalen Verfassungs- und Sozialstaat“ ihren Nationalismus verabschiedet: „Diese postnationale Identität hat sich auch nach 1989 gut gehalten. Die Bundesrepublikaner scheinen mehrheitlich immun zu sein gegenüber patriotischen Appellen.“ Er machte im Interview explizit deutlich, dass mit dieser postnationalen Identität nichts anderes kompatibel sei als ein so genannter ‚Verfassungspatriotismus‘: Frage: „Ist dann nicht Platz für das Nationalbewusstsein Joschka Fischers … Wehler. … dessen Gründungsmythos Auschwitz heißt? Nein, dafür ist kein Platz. Ein vitales Gemeinwesen lässt sich nicht auf Menschheitsverbrechen aufbauen. Frage: Warum nicht? Fischers „Nie wieder“ bedeutet doch „Auf immer“ zu Humanität und Freiheit. Wehler: Diese positiven Werte sind längst Inhalt unserer Verfassung. Dafür brauchen Sie nicht den Holocaust, auch wenn ein Teil der 68er monoman darauf insistiert. Unstrittig ist der Holocaust zentral im 20. Jahrhundert. Aber die Größe eines Verbrechens adelt es nicht zum Identitätsstifter.“

Wie Reemtsma ist auch Wehler ein Gegner des Konzepts der ,nationalen Identität‘, die er nicht anders als in den überwundenen Kategorien des Nationalsozialismus denken kann. Daran änderte für ihn offenbar auch die Symbolpolitik des Landes nichts, denn bereits eine Woche nach diesem Interview wurde in Berlin das zentrale Holocaust-Mahnmal eingeweiht. Und ein Jahr später zeigten sich die Deutschen im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft „patriotischen Appellen“ gegenüber durchaus aufgeschlossen. Die kategorische Identitätsverweigerung passte vielleicht noch zur Bonner, aber nicht mehr zur Berliner Republik.

Kritik an der Erinne­rungs­pra­xis: pathe­ti­sches Zeremonial und leere Routine

Im Mittelpunkt der Kritik an der deutschen Holocaust-Erinnerung steht nicht nur die Absage an das Konzept einer nationalen Identität, sondern (aufs Engste damit verbunden) auch die Absage an jedwede Form politischer Symbolik und rituellen Handelns. Jureits Kritik dreht sich um „das verflachte, das stereotype Erinnern, um das permanente Wiederkäuen, um die Verkleisterung der Geschichte durch Pathos und Sentimentalität, um ein Übermaß an Sinn und Moral. Erschöpfung und Langeweile kennzeichnen eine Erinnerungskultur, die so ziemlich alles eingebüßt hat, was sie eigentlich auszeichnen sollte.“ (34) So kräftig und packend die Sprache des Zorns ist, so blass und unklar bleibt, welches Richtige an die Stelle des Falschen zu setzen sei. Solche Sätze sind keineswegs verwunderlich in einer Generation, die ihre geistige Identität und Legitimation auf dem Fundament einer ,Kritischen Theorie‘ (im weitesten Sinne) aufbaut. Es gehört zum Selbstverständnis dieser Intelligenz, alles in Frage zu stellen, was von der Macht gestützt ist und was der Staat von oben verordnet. Wer kritisiert, hat den Vorteil, sich immer auf der richtigen Seite zu wissen und in der Position intellektueller Überlegenheit zu fühlen.

Die Kritik an Riten und Zeremonial hat in Deutschland eine jahrhundertelange protestantische Tradition. Diesen antiritualistischen Impetus hat die britisch katholische Ethnologin Mary Douglas in ihrem Buch Ritual, Tabu und Körpersymbolik beschrieben. Dabei werden als entleert wahrgenommene Rituale des Erinnerns einer vermeintlich authentischen Erinnerung gegenübergestellt. Ähnlich wie das Wort ,Tradition‘ ist das Wort ,Ritual‘ in der Geschichte der Modernisierung systematisch entwertet worden. Douglas spricht in diesem Zusammenhang von einer ritualisierten Ritualkritik. Bevor Roman Herzog im Jahre 1996 seinen neuen Erinnerungsimperativ verordnete, hatte zumindest der westliche Teil Deutschlands (ganz im Gegensatz etwa zu Israel und anderen Staaten) wenig Erfahrung mit kulturellen Formen des kollektiven Erinnerns, die mit dieser neuen Aufgabe zugleich aufgebaut werden mussten. Erschwerend kam noch der besondere Inhalt der Erinnerung an eigene Schuld und Verantwortung hinzu. Die ethische Forderung, eine negative Erinnerung ins nationale Selbstbild zu integrieren, ist in der Geschichte absolut neuartig. Keine Frage also, dass wir es hier – zumal in einer postsäkularen Gesellschaft ohne verankerte Riten – mit einer in jeder Hinsicht schwierigen Aufgabe zu tun haben. Noch einmal Wehler: „Unstrittig ist der Holocaust zentral im 20. Jahrhundert.“ So spricht er als Historiker. „Aber die Größe eines Verbrechens adelt es nicht zum Identitätsstifter.“ So spricht er als Deutscher.

Wenn vom Erinnerungsimperativ an den Holocaust und seiner rituellen Wiederholung an den entsprechenden Gedenktagen die Rede ist, reagiert Jureit reflexartig mit Abwehrbegriffen wie „Obsession“, „Epidemie des Gedenkens“, „Diktat der Aufarbeitung“ und „millionenschwerer Gedenkindustrie“. Beklagt werden vor allem drei Komponenten dieser Erinnerung: Emotionalisierung (Pathos der Betroffenheit), Inszenierung (leere rituelle Wiederholungen) und Institutionalisierung (Festschreibung der Erinnerung für die Zukunft). Just diese drei Dimensionen machen die Qualität einer verbindlichen Kollektiverinnerung aus. Was Jureit und andere mit Blick auf Deutschland als eine pathologische und bösartige Fehlentwicklung darstellen, ist freilich in anderen Ländern der Welt gang und gäbe, wenn Nationalfeiertage anstehen. Dass der Umgang mit solchen Daten in Deutschland schwierig ist, hängt natürlich mit der Geschichte dieses Landes zusammen. Er provoziert Widerspruch, der zwei sehr ungleiche Gruppen auf den Plan ruft und miteinander verbündet: die Kritiker deutscher ldentität mit ihrer ,Normalisierungsphobie‘ und die Kritiker einer negativen deutschen Identität mit ihrer ,Besonderheitsphobie‘. Die (linken) Identitätsverweigerer wollen nicht werden wie die anderen, die (rechten) Holocaustverweigerer wollen an einer positiven nationalen Identität festhalten.

Falsches nationales Einheits­mo­dell

Seit Deutschland im Begriff ist, zu einer Immigrationsgesellschaft zu werden, gibt es ein weiteres Argument gegen die Holocausterinnerung. Unter diesen Umständen erscheint das Konzept der postnationalen Identität flexibler und besser geeignet, auf diese soziale und kulturelle Transformation zu antworten. Jureit spricht von der „postsouveränen Gesellschaft“, die sich „nicht mehr als homogene Erinnerungsgemeinschaft mit gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Geschichte“ konstituiert. Diese Gesellschaft steht heute vor der Herausforderung, angesichts enormer Komplexitäts- und Pluralitätssteigerungen nach neuen Integrations- und Gemeinschaftsformen zu suchen, die bei maximaler Freiheitsgarantie noch so viel Bindung wie nötig zu erzeugen vermögen.“ (88) Mit anderen Worten: unter der Bedingung der Globalisierungs-Dynamik ist ein minimalistischer Gesellschaftsvertrag praktikabler als ein nationales Narrativ, in dem sich die Immigranten nicht wiederfinden können. Die Festschreibung eines normativen Vergangenheitsentwurfs wie die Holocaust-Erinnerung sei in einer solchen Welt obsolet und dysfunktional. Das betont auch Harald Welzer. Für Schüler mit Migrationshintergrund spiele „Nationalsozialismus und Judenvernichtung – schon von ihrer familiären oder nationalen Herkunft her – überhaupt keine Rolle (…). Diese Jugendlichen geraten dann in die merkwürdige Situation, sich betroffen und bußfertig geben zu sollen, obwohl sie nicht so empfinden.“(l0)

Kritiker meinen, dass ein auf Schuld gegründetes Nationalgedächtnis mit den Bedingungen einer Einwanderergesellschaft nicht mehr vereinbar ist. Wenn es schon schwierig war, die deutschen Nachgeborenen der zweiten und dritten Generation noch auf ein nationales Schuldgedächtnis zu verpflichten, so erscheint es unmöglich, die Einwanderer ganz anderer Weltregionen auf dieses negative deutsche Gedächtnis einzuschwören. Es wird deshalb immer wieder betont, dass die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft von der Ent-Nationalisierung/Ent-Ethnisierung ihres Gedächtnisses abhängt. Bei einem Blick über die nationalen Grenzen hinaus erweist sich diese Position jedoch als weltfern und ausgesprochen deutsch. Während es absolut richtig ist, dass sich Migranten in der Nationalgeschichte auch wiederfinden müssen und diese deshalb inklusiver, multikultureller und anschlussfähiger gestaltet werden muss, entspricht es keiner allgemeinen Praxis, eine belastete Nationalgeschichte mit Rücksicht auf neue Zuwanderer einfach abzuschaffen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall, wie das folgende Zitat aus dem kanadischen Kontext zeigt:

„Staatbürgerschaft ist kein Selbstbedienungsbuffet. Niemand von uns kann sich die angenehmen Stücke heraussuchen und den Rest verweigern. Natürlich sind mit der kanadischen Staatsbürgerschaft gute und schlechte Dinge verbunden. Wenn Du den Eid auf die kanadische Staatbürgerschaft geschworen hast, erbst Du das ganze Paket kanadischer Geschichte und Bürgerrechte. Ab jetzt bist Du mitverantwortlich, nicht nur für die guten Dinge, sondern auch für alle Fehler und alles Schlimme, das wir gemacht haben. (…) Es ist Teil des Pakets. Vielleicht findest Du das nicht fair, aber wer sagt, dass es fair ist? Es ist ein Teil des Bürgerrechts.“(11)

Zwei Formen von Erinne­rungs­po­litik

Während die Kritik an der Holocaust-Erinnerung lautstark artikuliert und ,rituell‘ wiederholt wird, bleibt sehr vage und im Unklaren, worin der Segen einer Befreiung von ihr liegen könnte. Wer die Erfahrung machen möchte, was es heißt, diese Erinnerung abzuschaffen, braucht nur einmal eine Reise nach Litauen zu machen. Dort empfängt ihn eine Gesellschaft, deren Eltern und Großeltern nicht nur mit der deutschen Okkupation kollaboriert und bei der Erschießung der zahlreichen Littauisch-Jüdischen Bevölkerung mit Hand angelegt haben, sondern diese Opfer bis heute nicht als Teil der eigenen Geschichte anerkennt. Das eigene nationale Opfernarrativ, die Leidensgeschichte unter sowjetischer Besatzung, schließt jeglichen Hinweis auf eine Mitverantwortung für die jüdischen Opfer kategorisch aus. Unter diesen Umständen konnten die sterblichen Überreste eines prominenten Täters der Kollaborationsregierung dieses Jahr aus den USA nach Vilnius überführt und mit militärischen Ehren wieder bestattet werde.(12) Litauische Denkmäler und Plaketten im öffentlichen Raum dagegen, die auf die Massenerschießungen litauischer Juden im nahegelegenen Wald verweisen, sucht man weiterhin vergebens.

Den Deutschen stünde deshalb eine weniger selbstbezügliche Diskussion dieser wichtigen Fragen und ein Blick auf andere Nationen und historische Kontexte wohl an. Letztlich muss sich jeder selber fragen, in was für einer Gesellschaft er oder sie lieber leben möchte: in einer Gesellschaft, die ausschließlich ihre eigenen Opfer beklagt, oder in einer Gesellschaft, die auch die Opfer bereut, die sie (mit) zu verantworten hat. Damit sind wir wieder beim ,deutschen Modell‘ eines negativen Gedächtnisses, das längst Verbreitung gefunden hat und zum transnationalen Gemeingut geworden ist. Wir können hier von einer ,Erinnerungspolitik der Reue‘ sprechen, die bei politischem Systemwechsel von Diktaturen in Demokratien sowie in postkolonialen Staaten zu einer ethischen Wende geführt hat durch Anerkennung der Opfer einer traumatischen Geschichte, die Verpflichtung auf Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten. Das heißt jedoch noch keineswegs, dass diese Politik der Reue bereits allgemeine Verbreitung findet. Es hält sich nämlich nach wie vor sehr zäh eine ,Erinnerungspolitik des Stolzes‘ bzw. ,des Leidens‘, die, statt auf Distanz zu gehen zu den eigenen Fehlern und historischen Verbrechen, eine kontinuierliche heroische Geschichte der Ehre konstruiert, die darauf ausgerichtet ist, das nationale Selbstbild zu stärken und die Opfer der eigenen Politik zu ,vergessen‘.

(1) John Torpey, Politics and the Past. On Repairing Historical Injustices, New York und Oxford, Rowman and Littlefield 2003, S. 3.

(2) Jan Philipp Reemtsma, Wozu Gedenkstätten? In: Zukunft der Erinnerung. Aus Politik und Zeitgeschichte, 25-26(2010), S. 3-9, S. 3.

(3) Jan Philipp Reemtsma, Wozu Gedenkstätten, S. 9.

(4) Bodo Mrozek, Zur Frage des kollektiven Erinnerns. Die Semantik der Memoria, Merkur 756, Heft 5, 66. Jahrgang (Mai 2012), S. 411-419.

(5) Bodo Mrozek, Zur Frage des kollektiven Erinnerns, a. a. O. S. 419.

(6) Reemtsma a. a. 0., S. 7. Noch schlichter hat dies eine junge Frau ausgedrückt, die am 27. Januar 2012 im Stuttgarter Landtag als ,Jugend Guide‘ eines Geschichtsprojekts eingeladen war: „Es geht einfach darum, was für ein Mensch man sein will.“

(7) Vera Kattermann, Endlich fertig erinnert? Ein psychoanalytischer Beitrag zur Diskussion kollektiver Vergangenheitsarbeit, Merkur 756, Heft 5, 66. Jahrgang (Mai 2012), S. 459-465; S. 463.

(8) Ulrike Jureit, Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart Klett-Cotta 2010. 9 „Bravourös bewältigt“, Interview mit Hans-Ulrich Wehler, Die Welt am Sonntag vom 08 Mai 2005.

(10) Harald Welzer, „Weitgehend ohne Moral“, Frankfurter Rundschau 16./17. Mai 2012, Nr. 114, 68. Jahrgang, S. 32. MigrantInnen finden ihre eigenen Wege zur Holocaust-Erinnerung. Statt im ,Betroffenheits‘ Modus zu reagieren können sie stolz darauf sein, dass die Türkei den aus Deutschland fliehenden Juden Asyl gewährt hat. Außerdem müssen sie sich nicht mit der deutschen Schuld, sondern können sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit den diskriminierten und ausgegrenzten Juden identifizieren.

(11) Aus einer Rede von John Ralston Saul bei einer Einbürgerungszeremonie in Vancouver am 1. März 2007.

(12) Es handelt sich um Juozas Ambrazevicius-Brazaitis, Vorsitzender der Übergangsregierung von Litauen während der ersten sechs Wochen Litauens unter deutscher Besatzung.

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