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Editorial: Das überholte Gefängnis

vorgängevorgänge 7901/1986Seite 33-37

aus: vorgänge Nr. 79 (Heft 1/1986), S.33-37

Liebe Leser,

die Misere des bundesdeutschen Strafvollzugssystems ist hinlänglich bekannt und wird oftmals beklagt:

  • An jedem beliebigen Stichtag sitzen 50 000 Erwachsene und Jugendliche hinter Schloss und Riegel;
  • Darunter befinden sich 15 000 Untersuchungshäftlinge; bei fast 10 Prozent von ihnen überschritt die Dauer der U-Haft die tatsächlich verhängte Freiheitsstrafe;
  • Jede/r dritte zu einer Jugendstrafe Verurteilte sitzt länger als ein halbes Jahr hinter Gittern;
  • Die Rückfallquote liegt mit mehr als 70 Prozent weit über dem internationalen Durchschnitt;
  • Politiker beklagen die immensen Kosten des Freiheitsentzuges.

Diese Auflistung möglicher Argumente, die erweisen, daß der tradierte Verwahrvollzug überholt ist und zugleich seine Kritik initiieren könnten, ließe sich fast beliebig verlängern. Ergänzt man sie um die Grauzonen massiver Verletzungen der Menschenwürde hinter den Gefängnismauern, so böte sich scheinbar ein probater Ansatzpunkt für die Kritik an der Instituion Gefängnis aus grund- und menschenrechtlicher Perspektive.

Doch dieser Ansatz scheint mir unzulänglich, diese Trümpfe der Gefängniskritik stechen nicht: Denn das Anprangern der aufgelisteten (wie auch anderer) Missstände (zu viele Gefangene, zu lange Haftstrafen, zu hohe Kosten, …) anerkennt implizit die Notwendigkeit des Strafens wie auch des Freiheitsentzuges, die Notwendigkeit einer Konfliktregelung mit Hilfe staatlicher Sanktionskataloge und damit auch die Individualisierung der Konfliktursachen, abstahiert vom gesellschaftlich erzeugten Pro-blemfeld Kriminalität. Die Prämissen des Strafrechts – und mit ihm die Täterorientierung – werden auf diese Weise unhinterfragt akzeptiert; der Delinquent wird als Klient des Vollzuges betrachtet, bei dem ein Defekt vorliegt, den es zu behandeln gilt, der einer »Gesinnungswandel-Maschine« (Michel Foucault) zu überantworten ist, wobei es nur eine untergeordnete Rolle spielt, ob diese Behandlung sich im geschlossenen (Normal-)Vollzug oder im offenen (Alternativ-)Vollzug vollzieht. Soziales Fehlverhalten wird wie eh und je ausgesondert, eine Klärung und Lösung der Konflikte innerhalb jener Lebenszusammenhänge, die sie erzeugen, unterbleibt und ist auf diesem Wege nicht zu leisten. Die Reformbemühungen, die Versuche, das Gefängnis zu überholen, es auszubessern, bewegen sich in einem aussichtslosen Zirkel.

So fällt denn auch bei der Betrachtung des Strafvollzugsgesetzes, das seit 1977 die Institution Gefängnis wie auch den Alltag der Inhaftierten regeln soll, auf, daß es als einzige bindende Norm die Resozialisierung benennt: »Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftatenzu führen (Vollzugsziel)«, sich im übrigen aber in fakultativen Bestimmungen erschöpft, so daß die konkrete Entscheidung über das »Leben im Vollzug« – geregelt durch von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Verwaltungsvorschriften und von Anstalt zu Anstalt differierende Haftordnungen – letztlich dem Ermessensspielraum des jeweiligen Anstaltsleiters überantwortet wird. So nimmt es nicht Wunder, daß der anstaltsinterne Alltag (etwa die Arbeitsentlohnung, Fragen der Sozialversicherung, Urlaubsregelungen, ja, wie kürzlich publik wurde, gar die Verpflichtung zum Anlegen eines Nachthemdes, nicht etwa eines Schlafanzuges) in der Regel auf den geordneten Ablauf der Haft ausgerichtet ist und so das Vollzugsziel nicht selten ausgehebelt wird. Damit ist zunächst einmal verständlich, warum das Gefängnis nicht funktioniert, warum es nach wie vor desozialisiert.

Doch die eigentümliche Verkehrung des Zieles in sein Gegenteil ergibt sich keinesfalls ursächlich aus den aufgezeigten Diskrepanzen zwischen rechtlicher Regelung und den Formen ihrer Realisierung, ist nicht Folge der (noch) unzureichenden Inhalte und Formen des Strafvollzuges, sondern existiert vielmehr, weil »allgemein gesellschaftliche und politische Konflikte auf die Rechtsebene verlagert werden: die Konflikte werden als rechtlich zu lösende umdefiniert, sie werden zu Rechtsfragen und auf diesem Wege ihrer Bearbeitung zugeführt« (Franziska Lamott, Die erzwungene Beichte). Folglich verbirgt sich hinter dieser Umleitung gesellschaftlich produzierter Konflikte – sowie sie für die Reformierung des Strafrechtes und/oder -vollzuges instrumentalisiert wird – eine weitere Annahme, die den eingangs skizzierten Ansatz einer Gefängniskritik zusätzlich relativiert: Wird die Existenz des Strafrechtes akzeptiert, so ist hiermit zugleich die Einwilligung verbunden, jenes Machtgefälle wiederherzustellen, das der Kriminelle kurzfristig zu nivellieren trachtete; Gefängnis und Vollzug verbleiben somit Garanten einer doch im wesentlichen heilen und harmonischen Welt, die vor Störungen in Schutz zu nehmen ist. Das StVollzG bestimmt in § 2 neben der Resozialisierung ebenfalls : »Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.« Die zu beobachtende Gleichzeitigkeit von intensiviertem Normalvollzug und der Suche nach resozialisierenden Alternativen ist notwendige Folge eines bestimmten gesellschaftstheoretischen Denkmodells, das zwar die Existenz von Interessenkonflikten grundsätzlich eingesteht, sie aber nicht aus den kriminalisierenden Qualitäten dieser Gesellschaft deduziert, sondern als individuelles Versagen deklariert, das über die Individualisierung, Schuldzuweisung und »Behandlung« (so § 4 StVollzG) zur Entlastung der Gesellschaft wie auch zur Ausgrenzung ihr immanenter Probleme führt.

In seinen das Schwerpunktthema einleitenden Überlegungen skizziert Helmut Ortner die Doppelstrategie strafrechtlicher Sozialkontrolle: Zum einen manifestiert sich diese in der wachsenden Tendenz zum Aussondern und Wegschließen eines sog. unverbesserlichen harten Kerns, für den die Therapieorientierung nicht anwendbar scheint. Die andere Seite der Medaille bildet das Propagieren und (modellhafte) Praktizieren eines stationären wie auch ambulanten Therapievollzuges, der die Mängel der konventionellen Institution Gefängnis beheben, zumindest jedoch mildern soll. Beide Teile dieses dualen Systems werden in der Folge eingehend betrachtet. So untersucht Karl F. Schumann die These, gemäß welcher der Ausbau konventionellen Haftraums gewissermaßen einen durch steigende Inhaftierungen und veränderte Kriminalitätsstrukturen verursachten »Sachzwang« darstellt. Seine empirische Analyse gelangt zu dem Ergebnis, daß die Haftrate entscheidend durch die Strafzwecke der Justiz bestimmt wird. Innenansichten aus dem traditionellen Vollzug bieten Michael Gähner und Denis Pecic: am Beispiel der medizinischen Versorgung und der vollzugsinternen Sanktionierungsmechanismen (vgl. hierzu auch die Dokumentation zur geschlossenen Abteilung in der JVA Freiburg) wird belegt, in welchen Dimensionen die menschliche Würde hinter den Gefängnismauern verletzt wird. Heinz Kammeier eruiert die Situation eines besonderen Tätertyps, der von der juristischen Dogmatik als psychisch krank und kriminell definiert und folglich abseits des genuinen Vollzugs in der forensischen Psychiatrie verwahrt wird. Für diese nicht oder eingeschränkt schuldfähige Klientel haben sich tendenzielle Fortschritte ereignet, die Kammeier ebenso analysiert wie weiterreichende Perspektiven.

Weitere Innenansichten vermittelt Leonhard U. Dronski: Er berichtet über die Erfahrungen, die er mit den an ihm vorgenommenen Resozialisierungsversuchen im therapeutischen Wohngruppenvollzug der JVA Schwerte sammelte. Sein Resumee ergänzt Franziska Lamott durch eine ideologie- und realitätskritische Analyse jener Allianz zwischen Recht, Medizin und Psychiatrie, die sich anschickt, Normalität zu produzieren. Ihr Fazit: Der Therapievollzug überholt das hergebrachte Gefängnis um Längen: »In der Unentrinnbarkeit der Situation werden die widersprüchlichen therapeutischen Anforderungen zu Strategien des Verrücktmachens.«

Die zwei folgenden Beiträge beschäftigen sich mit einem kriminalpolitischen Konzept, das der US-amerikanischen Praxis entstammt und bei uns auf wachsendes Interesse trifft: diskutiert wird die Diversion, d.h. eine Konfliktlösungsstrategie außerhalb eingefahrener strafrechtlicher Wege, die primär auf jugendliche Bagatellkriminalität abstellt. Während Helmut Janssen diese Strategien in ihrem historischen, sozial- und kriminalpolitischen Kontext analysiert, präsentieren Peter Malinowski und Manfred Brusten in einer sicherlich untypischen, wie ich aber meine sehr informativen, Form ausgewählte Beiträge des kürzlich von ihnen publizierten Sammelbandes »Entkriminalisierung«. Von großem Interesse hierbei ist, mit welcher Offenheit und Konsequenz die »Väter« der Diversionspolitik (Lemert, Klein, Blomberg) ihren Konzepten nach mittlerweile zehn Jahren Praxis begegnen; ihre Skepsis sollte in der Diskussion um eine Übertragung der Diversion auf die BRD keinesfalls außer Acht gelassen werden!

Abschließend stellt sich Arno Pilgram angesichts des Ist-Zustandes strafrechtlicher Kriminalprävention, die sich auf eine täterbezogene Ursachenverhütung, nicht aber auf die soziale Folgenverhütung versteift, die prinzipielle Frage, ob Konfliktregelungen außerhalb strafrechtlicher Verfahrens- und Sanktionsnormen ein mögliches kriminalpolitisches Reformprogramm darstellen könnten.

Ohne auf der Basis der hier vereinten Einschätzungen eine Konklusion zu versuchen, sei doch eines angemerkt: Bei aller (vielleicht voreiliger?) Reformeuphorie angesichts möglicher Alternativen zum Verwahrvollzug, sollte nicht verdrängt werden, daß das StVollzG auch die Einrichtungen von Hochsicherheits-Verwahrung zu legitimieren vermag. Ebenso gilt: werden nicht entsprechend der Einrichtung alternative Formen konventionelle Haftplätze abgebaut (Gefängnisse geschlossen), so ist Skepsis vonnöten. Auch ist die Frage berechtigt, ob nicht auf dem Weg der »Behandlung« und »Diversion« die Netze sozialer Kontrolle verdichtet werden – mir scheint, wir sehen uns derzeit nicht allein mit dem Ausbau des Polizei- und Sicherheitsstaates konfrontiert, sondern gleichzeitig mit einer Entwicklung, die dazu führt, daß sich die Polizei beginnt, bereits im Kopfe einzunisten. Alles in allem sollte m.E. eine Kritik der Theorie und Realität des Strafens nicht hinter jene Prämissen zurückfallen, die Arno Pilgram und Heinz Steinert bereits vor einigen Jahren formulierten:

»Die herrschende Kritik am Gefängnis ist Teil von dessen Funktionieren, bestätigt seine Existenz, indem sie z.B. Legalverhaltens- vs. Rückfallraten als Erfolgskriterium und die individuelle Verbesserung der betreffenden Person als Ziel übernimmt und damit noch im Nachweis der Unwirksamkeit des Gefängnisses bestätigt, daß ‚uns leider noch nichts Besseres eingefallen ist` … Die Fixierung auf diese Ziele und Erfolgsmaßstäbe – positiv wie in der Kritik – hält uns in einem Zirkel der Hilflosigkeit, dessen langfristig größte Gefahr in der Selbstbeschränkung der Phantasie, in einer ‚Selbstbornierung` unseres politischen Denkens liegt.«

Herzlichst, Ihr

Dieter Hoffmann

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