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Die Aufgaben von Bürger­rechts­or­ga­ni­sa­ti­onen im Zeitalter der Globa­li­sie­rung*

vorgängevorgänge 15909/2002Seite 61-70

Vorab

Es ist nicht das Ziel dieses Textes, eine allgemeine Funktionsbestimmung von Bürgerrechtsorganisationen in Zeiten der Globalisierung zu liefern. Vielmehr soll die Frage diskutiert werden, wie der Prozess der Globalisierung auf Bürgerrechtsorganisationen einwirkt, vor allem was die Wahl ihrer Themen, ihrer Prioritäten und ihrer Aktionsfelder anbelangt.

Eine zweite Vorbemerkung erscheint angesichts des schillernden Begriffs der „Globalisierung“ geboten. Hier kann keine „wasserdichte“ Definition geboten werden, doch es soll zumindest in Umrissen deutlich gemacht werden, welches Phänomen zur Debatte steht: Seit etwa zehn Jahren beobachten wir eine exponentielle Zunahme des internationalen Austausch von Gütern und Dienstleistungen. Diese ist nicht aufzuhalten — weshalb der polemische Begriff der „Globalisierungsgegner“ Unsinn ist: Menschenrechtsinitiativen, die jene nicht revidierbare, im Übrigen auch durchaus chancenreiche Entwicklung aufhalten wollen, sind mir nicht bekannt. Doch das Wachstum der Warenströme verlangt nach Gestaltung. Schon deshalb, weil der internationale Wirtschaftsverkehr in Zeiten der Liberalisierung Ungleichheiten festschreibt und verstärkt. Zum Schutze der Schwachen bedarf es politisch gesetzter, paritätsfördernder Gegengewichte. An erster Stelle sind wohl Interventionen zur Steuerung der internationalen Finanzmärkte geboten. Denn von der Entfesselung verselbständigter Finanzmärkte geht die Hauptgefahr der Globalisierung aus.

Wenn ich im Folgenden der Frage nachgehe, welche Relevanz der Globalisierungsprozess für die Bürgerrechte hat, stehen zwangsläufig Erscheinungen auf dem Prüfstand, die geeignet sind, Grundrechte einzuschränken. Ich wende mich also den Schattenseiten der Globalisierung zu. Doch möchte ich dem Eindruck vorbeugen, als ob in Zeiten der globalisierten Wirtschaft die Welt nur voller Teufel wäre. Auch wenn es manchmal nicht so scheint: Es besteht auch Anlass zu Optimismus und zur Wahrnehmung zukunftsträchtiger Chancen.

Supra­na­ti­o­na­lität oder: Kommt den Bürger­rechts­or­ga­ni­sa­ti­onen der Adressat abhanden?

Initiativen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Bürgerrechte zu verteidigen, fanden über lange Zeit hinweg ihren gleichsam natürlichen Antagonisten in nationalstaatlichen Organen; sei es in der Verwaltung, sei es in der Gesetzgebung. Nun beobachten wir seit geraumer Zeit eine Verlagerung politischer Entscheidungszuständigkeiten auf supranationale Instanzen. Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist dieser Prozess für alle Bürger unmittelbar spürbar.

Andere wirtschaftliche Regionalorganisationen wie die NAFTA oder der Zusammenschluss im südostpazifischen Raum orientieren sich mehr oder minder explizit an dem Vorbild der Europäischen Union. Weltweite Agenturen zur Steuerung der internationalen Wirtschaftsentwicklung begegnen uns etwa in Gestalt des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank (WB). Eine Schlüsselrolle kommt schließlich der Welthandelsorganisation (WTO) zu. Ohne übertreiben zu wollen: hier werden maßgeblich die Weichen für die wirtschaftliche Entwicklung der Welt gestellt.

Die durch die genannten Prozesse und Institutionen bewirkte Internationalisierung der Politik ist in ihren Auswirkungen janusköpfig: Zum einen ist sie wohl unerlässlich, wenn die Politik nicht jeden Gestaltungsanspruch aufgeben und international operierenden Akteuren wie etwa multinationalen Konzernen mit Aussicht auf Erfolg entgegentreten will. Das gilt etwa für die dringend gebotene Harmonisierung der Steuern, für die Schließung der fiskalischen „Rotlichtviertel“, welche die Steuerflüchtlinge in Scharen anziehen, aber auch für die Verhinderung von Steuer-, Sozial- und Ökodumping und für das Fernziel, eine Form der Marktregulierung zu institutionalisieren, die den schwachen Partnern die dringend benötigte Luft zum Atmen verschafft. Insofern sind internationale Absprachen und Organisationen unverzichtbar.

Auf der anderen Seite wächst durch diese Form der supranationalen Politikformulierung die Distanz zu den Bürgern. Um nur einige Faktoren zu nennen: Immer mehr Entscheidungen werden im Kreise von entsandten Regierungsvertretern vorbereitet und präjudiziert, die in der Regel hinter verschlossenen Türen tagen. Entscheidungsabläufe werden dadurch intransparent. Entscheidungsbefugt sind oftmals demokratisch nicht legitimierte Institutionen. Vielfach begegnet uns eine unerträgliche Majorisierung internationaler Einrichtungen durch die Großen; man schaue sich nur die Stimmrechtsverteilung im IWF oder der Weltbank an: Gegen die Vertreter der wirtschaftlich führenden US-amerikanischen und westeuropäischen Nationen kann dort so gut wie nichts beschlossen werden. Kurzum: das Ergebnis der ablaufenden Entwicklung ist eine Verkürzung und Aushebelung der öffentlichen Kontrolle und der parlamentarischen Einflussnahme sowie eine Reduzierung der potenziell zur Verfügung stehenden alternativen Gestaltungsoptionen. Hinzu kommt, dass das, was Beamte in diesem Gremien aushandeln, oftmals als nicht hinterfragbarer Sachzwang dargestellt wird. Die nationale parlamentarische Kontrolle beschränkt sich auf verkürzte Ja/Nein-Optionen; der Inhalt der zu ratifizierenden Verträge und Absprachen ist auf nationaler Ebene nicht mehr veränderbar.

Dabei ist zu bedenken, dass die Bundesrepublik zu den Gewinnern der Globalisierung gehört. Die Stimmen derjenigen, die auf der Verliererseite stehen, sind dagegen leise, oft unhörbar. Notwendig ist es daher — auch mit Blick auf die Menschenrechte der Opfer —, die nur vermeintlich unverrückbaren nationalen Interessen der Bundesrepublik, etwa die immer wieder thematisierte Standortfrage, kritisch zu hinterfragen und auf ihre internationalen Auswirkungen zu überprüfen.

Der tendenzielle Verlust politischer Gestaltungsautonomie für die Nationalstaaten ist kein Naturgesetz. Die immer wieder verbreitete These vom zwangsläufigen staatlichen Souveränitätsverlust ist ein Mythos und überdies interessengeleitet. Dem Nationalstaat und dem nationalen Gesetzgeber bleiben auch unter den Bedingungen der Globalisierung weit reichende Gestaltungsspielräume. Dies gilt erst recht, wenn das jeweilige Land sich in der Position wirtschaftlicher Überlegenheit befindet. Die Bundesrepublik könnte beispielsweise im Alleingang die Steuerflucht von ihrem Territorium wirksam unterbinden. Dass Staaten, die für international agierende Finanzgruppen und Banken als Standort und Partner unverzichtbar sind, gegenüber Kapital- und Steuerflucht machtlos wären und dem Transfer in Off-shore-Gebiete keinen Riegel vorschieben könnten, ist eine Legende. So zögerte die US-Regierung nach dem 11. September 2001 — als die Vermutung aufkam, dass Sympathisanten der Terroristen in Spekulationsgeschäfte verwickelt seien — nicht, die Cayman-Islands, eine der berüchtigsten Steueroasen, darauf zu verpflichten, den Steuerbehörden der USA alle Daten über Geschäfte von US-Bürgern zugänglich zu machen. Die US-Regierung musste nicht lange bitten: die Androhung, kooperationsunwillige Banken vom Handel mit Dollarwertpapieren auszuschließen, genügte.

Bürger­rechte und Globa­li­sie­rung: Vier Thesen

Aus dem bislang Gesagten lassen sich erste Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Rolle von Bürgerrechtsorganisationen ziehen:

1. Wenn die Bürgerrechte auch morgen Geltung haben sollen, ist es notwendig, gegen die These der nationalstaatlichen Ohnmacht die Stimme zu erheben. Hier muss auch offen gelegt werden, wer welchen Prozess aus was für Gründen als zwingend geboten deklariert. Wenn etwa deutsche Wirtschaftspolitiker die derzeitige Konsolidierungspolitik als unausweichlich bezeichnen, da das Maastricht-Abkommen und die Europäische Zentralbank (EZB) dies vorschreiben, so beziehen sie sich dabei auf Zwänge, die sie selbst begründet haben. Gerade die Maastricht-Kriterien wurden maßgeblich von der deutschen Politik durchgesetzt. Ebenso könnten sie von dieser revidiert werden. Das gilt auch umgekehrt: Wäre es nicht in den letzten Jahren gelungen, das Abkommen über den Schutz internationaler Investitionen (MAI) zu verhindern, könnte dieses gegen zahlreiche Umweltauflagen in Stellung gebracht werden. Der nationalen Umweltpolitik wären dann aus völkerrechtlichen Gründen die Hände gebunden. Auch hier wäre das Völkerrecht beinahe für partikulare Anliegen instrumentalisiert worden.

2. Um dem Prozess der schleichenden Ent-Demokratisierung entgegenzuwirken, muss Öffentlichkeit hergestellt werden. Das positive Beispiel des (zumindest vorerst) gescheiterten MAI-Abkommens wurde bereits erwähnt. Erst die Veröffentlichung des geheim verhandelten und auch vor den Parlamenten abgeschirmten Entwurfs gab den Anstoß für allgemeine Aufmerksamkeit und für die kritische Behandlung in Volksvertretungen, vor allem im Europäischen Parlament und in der französischen Nationalversammlung. Das Vorhaben wurde vorerst nicht weiterverfolgt.

Zur Herstellung von Öffentlichkeit gehört selbstverständlich auch die Offenlegung aller Verhandlungsschritte und die kontinuierliche parlamentarische Begleitung internationaler Verhandlungen. Gerade die Entstehungsgeschichte des MAI, aber auch andere Planungen unter dem Dach der WTO belegen: Die völkerrechtliche Privilegierung von Wirtschaftsinteressen scheut das Licht der Öffentlichkeit — was angesichts der Obszönität des Vorgangs in der Tat ja auch nicht verwunderlich ist. Umso notwendiger ist es, durch die Schaffung von Öffentlichkeit Sand ins Getriebe einer Politik zu streuen, an deren Ende die Auszehrung von Menschenrechten steht.

Wenn etwa Vorgaben der internationalen Finanzpolitik dazu führen, dass in bestimmten Ländern die öffentliche Infrastruktur zu verwahrlosen droht, müssen solche Missstände offen gelegt werden. Wenn des Weiteren das geplante Abkommen über den freien Austausch von Dienstleistungen öffentlichen Einrichtungen das Recht ihrer gesellschaftlichen Finanzierung streitig macht, hat das einschneidende und nicht rückholbare Folgen. Öffentliche Institutionen der Daseinsvorsorge zu privatisieren und ihre Leistungen zu kommerzialisieren, läuft im Grunde auf eine Enteignung der Bürger hinaus. Umso notwendiger ist die parlamentarische und öffentliche Begleitung solcher Vorhaben. Ein weiteres Beispiel bietet die jüngst verabschiedete Rentenreform. Die dort festgelegte Teilprivatisierung der Altersversorgung bewirkt, dass ein wichtiger Grundsatz der gesetzlichen und betrieblichen Rente — gleiche Renten für Mann und Frau, finanziert durch solidarischen Ausgleich zwischen den Geschlechtern — unter dem Druck von Marktgesetzen preisgegeben wurde: Private Finanzdienstleister zahlen Frauen aufgrund ihrer statistisch längeren Lebenserwartung geringere Renten als Männern. Bezogen auf die betriebliche Zusatzversorgung dürfte dies eine verfassungswidrige Diskriminierung sein.

Trotz positiver Beispiele in Einzelbereichen lässt sich nicht verschweigen, dass es beim Thema Öffentlichkeit erheblichen Nachholbedarf gibt. Im Mittelpunkt steht hier die journalistische Sensibilität und die Bereitschaft der Medien, solche Fragen überhaupt wahrzunehmen. Der derzeitige mediale Umgang mit Themen der internationalen Wirtschaftspolitik trägt mehr zur Verhüllung als zur Aufklärung der Sachverhalte bei. So entstehen blinde Flecken in der parlamentarischen und öffentlichen Diskussion.

Vor allem ein Instrument zur Herstellung von Öffentlichkeit sollte im Vordergrund der rechtspolitischen Reformbemühungen stehen: Das Recht der Bürger auf Akteneinsicht in der Verwaltung; das schwedische oder das amerikanische Beispiel sind hier durchaus vorbildlich.

3. Die Aufgabe, Öffentlichkeit herzustellen und parlamentarische Verantwortlichkeit zu bewahren und auszubauen, stellt sich auf allen Ebenen. Natürlich verlangt die Verlagerung nationaler Hoheit auf die internationale Ebene auch den Ausbau von Formen der supranationalen parlamentarischen Kontrolle. Dass etwa die Rechte des Europäischen Parlaments gestärkt werden müssen, gehört zu den elementaren Forderungen. Diese bezieht sich auf die Zuständigkeit des Parlaments für alle Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaften — etwa anstelle der Rechtssetzungsbefugnis des Ministerrats — und sollte auch die Wahl- und Einsetzungshoheit für die Kommission einschließen. Die gegenwärtig diskutierten Vorschläge des spanischen Ratspräsidenten, den Treffen der Regierungschefs legislative Kompetenzen zu verleihen, weist in die umgekehrte Richtung. Mit Recht wird dies als „Methode Metternich“ kritisiert.

Wichtig sind zugleich parallele, ja konkurrierende Zuständigkeiten anderer Parlamente. Wenn morgen nicht mehr der Ministerrat, sondern das Europäische Parlament über Richtlinien entscheidet, schließt das die Ratifizierungszuständigkeit der nationalen Parlamente nicht aus. Und wenn der Föderalismus der Bundesrepublik bestimmte Fragen der Landeshoheit zuweist, sollten wir froh darüber sein, dass auch Landtage weiterhin Verantwortung tragen. Der Einwand, das sei zu aufwändig und kompliziert, kann nur in Technokraten-Hirnen entstehen, die Tempo und Geschmeidigkeit der Entscheidungsfindung über alles setzen. Auf der Strecke bliebe der Diskurs über unterschiedliche Gestaltungsoptionen. Gleiches gilt für die Stärkung der kommunalen Verantwortung und Selbstverwaltung. Ohne die Idee einer ökonomischen Re-Lokalisierung überschätzen zu wollen: Die soziale Lage und Lebensqualität der Menschen hängen ganz entscheidend von gemeindlichen Weichenstellungen, der Erhaltung und Verbreitung kommunaler Leistungen und Einrichtungen, ab.

4. Die Wieder-Aneignung der Politik durch Öffentlichkeit und Parlamente muss begleitet werden durch die nationale wie internationale Stärkung liberaler Grund- und Freiheitsrechte. Wie notwendig hier ein europäischer Konsens ist, zeigt der Umgang mit dem Recht auf kollektive Meinungsäußerung, etwa in Gestalt öffentlicher Kundgebungen und Demonstrationen. Immer wieder, zuletzt in Genua, neigen die Sicherheitsbehörden dazu, Menschen, die ihre politische Meinung gegen die Interessen mächtiger Gruppen gemeinsam artikulieren, wie Störer zu behandeln — und produzieren so allzu oft das, was zu verhindern sie vorgeben: gewalttätige Übergriffe.

Vor einem Jahr wurden wir durch Klagen multinationaler Pharmakonzerne aufgeschreckt, mit denen diese dem südafrikanischen Staat verbieten wollten, Aids-Medikamente zu erschwinglichen Preisen auf dem eigenen Markt zuzulassen. Die Klage stützte sich auf das internationale Übereinkommen zum Schutz der geistigen Eigentums (TRIPs); eigentlich eine sinnvolle und für zahlreiche Urheber segensreiche Vereinbarung. Das Abkommen umfasst auch Patente. Doch wenn Patente in der Hand großer, multinational agierender Konzerne zum Monopolinstrument mutieren, bedarf es völkerrechtlicher Normen über die Sozialpflichtigkeit des geistigen Eigentums. Im Falle der Aids-Medikamente ging es um nicht weniger als um das Menschenrecht auf Leben und Gesundheit. Die Klage der Konzerne wurde dank des öffentlichen Drucks zurück genommen. Übrig geblieben ist die Aufgabe, eine Balance zwischen Patentrecht — also einer Form des Eigentums — auf der einen Seite und anderen Grund- und Menschenrechten auf der anderen Seite herzustellen.

Ebenso uneingelöst ist bis auf den heutigen Tag die Aufgabe, dem Patentrecht insgesamt Grenzen zu setzen. Saatgut und Züchtungsverfahren müssen vor Patentierbarkeit geschützt werden. Patente solcher Art laufen auf eine Enteignung des über die Jahrhunderte entwickelten und tradierten Erfahrungs- und Kulturwissens hinaus, dessen Nutzung bisher aus guten Gründen gemeinfrei war. Auf einem anderen Sektor haben wir uns bereits an solche Formen der Monopolisierung gewöhnt: Öffentliche Veranstaltungen sind eigentlich Jedermann zugänglich, auch allen Medien. Doch der millionenschwere Handel mit Exklusivrechten der Sportberichterstattung beschränkt die Freiheit der Information — zu Lasten konkurrierender Medienbetriebe und zu Lasten der Bürger. Unser Weg in die Informationsgesellschaft wird durch Beschneidungen der Informationsfreiheit begleitet.

Doch auch für die reichen Gesellschaften des Westens können überstaatliche Abmachungen und die Privatisierung des gesellschaftlichen Wissens verhängnisvolle Folgen haben. Das bereits mehrfach zitierte Abkommen zur Liberalisierung des Dienstleistungsangebots, das von der WTO vorbereitet wird, kann — wenn nicht Vorbehalte eingebaut werden — durchaus dazu führen, dass es Kommunen und Ländern künftig verwehrt ist, Bildungseinrichtungen öffentlich zu finanzieren und sie als öffentliche Einrichtung zu privilegieren. Dabei sollte doch eigentlich Konsens darüber bestehen, dass Bildung ein zu wichtiges Gut ist, um es auf dem Wege der Privatisierung den Gesetzen von Angebot und Nachfrage und letztlich dem Renditestreben privater Anbieter zu überantworten.

Vor ähnlichen Herausforderungen steht ein anderer Bereich, den man gemeinhin als kulturelle Identität bezeichnet. Dahinter verbergen sich der Reichtum der Sprache und der Ausdrucksformen, die Art, wie wir Emotionen zeigen, Freude teilen und Trauer verarbeiten, wie die Generationen miteinander umgehen, wie wir spielen, singen, tanzen, in fremde Rollen schlüpfen. Kurzum, es geht um das ganze Ensemble unverwechselbarer und nicht übersetzbarer kultureller Werte, Formen, Haltungen und Lebensweisen, wie sie eine Gemeinschaft prägen. Diese Vielfalt droht unter der Uniformität kommerzieller Unterhaltungsangebote eingeebnet zu werden.

Nun kann und darf die Antwort auf diese Entwicklung nicht in provinzieller Abschottung liegen. Notwendig erscheint dagegen die bewusste Pflege und Erhaltung all der Fähigkeiten, die jenen kulturellen Reichtum erst möglich machen. Dazu gehört die Sprache, ihr Nuancenreichtum, ihr Wortschatz; immerhin begreifen wir die Wirklichkeit und gestalten die Gesellschaft über die Sprache. Ihren Reichtum gilt es zu erhalten, erst recht gegenüber der lingua franca des neuen Internet-Englisch. Ich werbe des Weiteren für eine Förderung der musischen Bildung, auch als Gegengewicht gegen die Verabsolutierung der instrumentellen Vernunft. Phantasie, musische und bildnerische Kreativität fördern Eigensinn und persönliche Autonomie.

Auf einem Sektor tritt die Notwendigkeit engagierten Grundrechtsschutzes seit langem zutage: Weltweite Verteilungsungerechtigkeit, wachsende Armut sowie staatliche Verfolgung bewirken, dass sich immer mehr Menschen gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen und in die entwickelten Länder zu fliehen. Oft geht es ihnen nur darum, das nackte Überleben zu sichern. Unser Land hatte ursprünglich ein weit gefasstes Grundrecht auf Asyl. Das entsprang historischen Erfahrungen: Die Verfassung der Bundesrepublik und den demokratische Aufbau unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg verdanken wir auch den Menschen, die das Land vor dem nationalsozialistischen Terror verlassen mussten und die in anderen Ländern Aufnahme gefunden hatten. Es ist und bleibt daher ein beschämendes Zeugnis an Geschichtsvergessenheit, dass eine faktische große Koalition das Grundrecht auf Asyl bis zur Unkenntlichkeit verkürzt hat. Und es bleibt unfassbar, dass die Bundesrepublik als eines der wenigen Länder sich weigert, wenigsten den internationalen Vorgaben, beispielsweise des Schengener Abkommens, gerecht zu werden und rassistische wie sexistische Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen — bis ins jüngst behandelte Zuwanderungsgesetz hinein! Der Einsatz für ein liberales und humanes Aufnahmerecht und eine entsprechende Praxis sollte daher zu den vornehmsten Aufgaben von Bürgerrechtsorganisationen in Zeiten der Globalisierung gehören. Hier können wir uns sogar auf international anerkannte Übereinkommen stützen, die teilweise weiter reichten als unsere nationalen Gesetze.

Die Armuts­schere geht auseinander

Die weltweite Spaltung zwischen Arm und Reich hat sich erschreckend vertieft. Entgegen allen Bemühungen der UNO sowie ihrer Tochterorganisationen und trotz einer Dekade, die symbolisch unter das Zeichen der Entwicklung gestellt wurde, ist der arme Süden ärmer, der reiche Norden reicher geworden. Dafür gibt es Gründe. Freier Handel und Liberalisierung der Märkte sind zentrale Paradigmen unserer Epoche geworden. Profitieren können davon nur wenige. Ausgerechnet die durchsetzungsmächtigen Nationen, die andere Länder zur Öffnung ihrer Grenzen zwingen, schotten sich ihrerseits durch Zölle und Subventionen gegen den Import landwirtschaftlicher Erzeugnisse und Veredelungsprodukte aus den Ländern der so genannten Dritten Welt ab. Damit nehmen sie ihnen die Chance, die bei ihnen vorhandenen Ressourcen im internationalen Handel für sich zu nutzen. Hinzu kommt, dass Liberalisierung ohne paritätswahrende Gegenkräfte die bestehenden ökonomischen Ungleichgewichte perpetuiert, ja verschärft. Statt unterentwickelten Regionen die Chance zu geben, ihre eigenen Kräfte zu entfalten und so den Wohlstand zu heben, wird ihnen die Rolle als Absatzmarkt und ausgelagerte Werkbank zugewiesen. Die dazu notwendigen internationalen Kredite sind getreu neoklassischer Paradigmen an Bedingungen geknüpft, welche die betroffenen Regierungen zwingen, eine Politik gegen die eigene Bevölkerung zu führen. Die dadurch bewirkte Polarisierung hat langfristig verheerende Wirkung, vor allem in Gestalt von Hunger, Seuchen, Kindersterblichkeit, Analphabetismus, gewaltsamen Konflikten um knappe Ressourcen und immer wieder in Gestalt von Flucht und Vertreibung. Doch niemand möge sich einbilden, das Elend lasse die entwickelten Länder unberührt. Keine Volkswirtschaft kann auf Dauer gedeihen, wenn sich die ökonomischen Ungleichgewichte über ein bestimmtes Maß hinaus verschärfen, weder national noch international. Kein Land bleibt von der Not jenseits seiner Grenzen verschont, so sehr es sich auch durch Schutzwälle abschotten mag.

Mittlerweile sind auf diesem Feld nicht wenige Bewegungen und Initiativen aktiv. Bürgerrechtsorganisationen wie die GUSTAV HEINEMANN-INTIATIVE müssen nicht die Rolle von Attac und anderen globalisierungskritischen Organisationen kopieren. Doch im Hinblick auf viele Aspekte sollten sich auch diejenigen gefordert fühlen, denen primär die Bürgerrechte in der Bundesrepublik am Herzen liegen. An zentraler Stelle steht hier die Überwindung der weltweiten sozialen Spaltung, welche die Herausforderung der nächsten Jahre darstellt. Es geht nicht nur um Gleichheit, es geht auch um die Menschenrechte auf Leben, Gesundheit, Bildung usw. Die Bewohner der entwickelten Länder müssen begreifen, dass sie im Rahmen der international gebotenen Umverteilung abzugeben haben. Die UNO-Vorgabe, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für die Entwicklungshilfe aufzuwenden, dürfte auf Dauer nicht ausreichen. Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik, auch unter Rot-Grün, mit 0,27 Prozent sträflich unter diesem Wert liegt. Kurzum: Wohlstand zu teilen wird nicht nur die Deutsche Bank treffen. Noch deutlicher wird dies, wenn Regierungen und internationale Einrichtungen mit der Durchsetzung sozialer und ökologischer Mindeststandards ernst machen. Der hierzulande anzutreffende Konsumwohlstand fußt auch auf Waren und Leistungen, die andernorts zu sozialen und ökologischen Dumpingbedingungen erbracht werden. Das Verbot der Kinderarbeit oder das Gebot auskömmlichen Lohns für Plantagenarbeiter etwa wird auch zu Verteuerungen hierzulande führen — und das ist nur gerecht. Um irrationalem, am Ende gar nationalistischem Wohlstands-Chauvinismus vorzubeugen, sollte beizeiten eine Debatte darüber beginnen. Diese könnte auch als Chance begriffen werden, unseren Wohlstand neu zu definieren. Es sei an ein bekanntes Wort Mahatma Ghandis erinnert: Die Welt bietet genug, um Jedermanns Hunger zu stillen, nicht jedoch Jedermanns Gier.

Die Armut ist weiblich

Die weltweit dominierenden neoklassischen Konzepte der Privatisierung und Ökonomisierung, die damit verbundene Kürzung öffentlicher Leistungen und die Reduzierung öffentlicher Einrichtungen verschärfen nicht nur die allgemeine Armut; sie führen zu einer neuen Dimension dessen, was man die Feminisierung von Armut nennt. Schon immer haben es die Männer in den von ihnen dominierten Gesellschaften verstanden, die Pflege-und Reproduktionsarbeit den Frauen aufzubürden. Der Ausbau öffentlicher Einrichtungen der Daseinsvorsorge bot die Chance, einen Teil dieser Arbeit gesellschaftlich zu organisieren. Die Rücknahme öffentlicher Einrichtungen und ihre Unterwerfung unter Marktgesetzlichkeiten — sei es im Bereich der Bildung, des Gesundheitswesens oder der Kinderbetreuung — hat zur Folge, dass die Frauen wieder einmal ein Übermaß an pflegender und zuwendender Verantwortung zugewiesen bekommen — denn mit einer Überwindung der patriarchalischen Strukturen ist im Zuge der Globalisierung nicht zu rechnen.

Für eine friedliche Globa­li­sie­rung

Seit einiger Zeit beobachten wir auch eine Militarisierung der internationalen Beziehungen. Nach dem Ende der bipolaren Weltordnung scheint die Hemmschwelle zum Einsatz militärischer Gewalt gesunken zu sein. Auch die Bundesrepublik hat sich in diesen Sog ziehen lassen und die Umwidmung des Auftrags der Bundeswehr von der Landesverteidigung zur Krisen-Intervention und zur Sicherung des Zugangs zu ökonomisch wichtigen Regionen aktiv vorangetrieben. Damit werden auch Strategien zur Verhinderung und Einhegung von Kriegen aufgehoben, die nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich zur Zivilisierung der internationalen Beziehungen beigetragen haben. Wir waren zum Beispiel schon weiter mit der Legitimation militärischer Gewalt in Gestalt eines zwingenden UNO-Mandats, das erst in jüngster Zeit durch völkerrechtswidrige Selbstmandatierung beiseite geschoben wird. Und wir waren weiter in der Einsicht, dass Krisen und Konflikte vorbeugend mit friedlichen, wirtschaftlichen wie sozialen Mitteln entschärft und gelöst werden können — übrigens zu einem Bruchteil der Kosten, die derzeit für den Militärapparat und für Kriegseinsätze aufgewandt werden.

Insgesamt beobachten wir eine Erosion des Völkerrechts. Dabei haben wir mittlerweile genug Erfahrungen, die beweisen, das — abgesehen von seltenen Grenzfällen — allein friedliche Konflikt-Beilegungen stabilen Erfolg versprechen. Es sollte einer Bürgerrechtsorganisation nicht gleichgültig sein, in welch destruktivem Maße eine friedliche Globalisierung durch Androhung und durch Einsatz militärischer Gewalt verhindert wird.

Hinzu kommt: Die Anwendung militärischer Gewalt hat auch stets Wirkung nach Innen, meist durch eine Zunahme von Konformitätsdruck und durch die Beeinträchtigung der Artikulations- und Meinungsfreiheit. Abweichende Positionen haben es schwer in Zeiten, in denen die Gesellschaften auf militärische Aktionen eingestimmt werden. Die Reaktionen auf den 11. September 2001 sollten zu denken geben. Ist es zum Beispiel einer freiheitlichen Gesellschaft würdig, dass sich ein Tagesthemen-Moderator dafür entschuldigen muss, dass er aus Anlass einer Buchpräsentation ein — übrigens beherzigenswertes — Zitat der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy gebracht hat?

Neoli­be­ra­lismus und die neue Belie­big­keit der Politik

Die konkrete Gestalt der Globalisierung kommt im Gewande, oder genauer: in der Unfehlbarkeitspose neoliberaler Wirtschaftsdoktrinen daher und verstärkt deren Hegemonie. Das Lied ist bekannt: Wenn sich die Marktkräfte ungehemmt entfalten — so das Heilsversprechen der neoliberalen Propheten —, winken millionenfach Beschäftigung, Fortschritt und allgemeiner Wohlstand. Doch das Gegenteil tritt ein: Wachstums- und Wohlstandschancen bleiben ungenutzt, die Arbeitslosigkeit verfestigt sich, prekäre Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu, die öffentliche Infrastruktur verarmt und nicht zuletzt vertieft sich die soziale Spaltung, national wie international. Die Umverteilung von unten nach oben fördert zugleich die Stärkung und Verselbständigung des Finanzsektors mit allen Risiken hochgeschraubter Renditevorgaben für Produkt-Vielfalt und unternehmerische Langzeit-Planung. Das alles ist seit Jahren bekannt, auch empirisch belegt. Es genügt ein Blick auf die Bundesrepublik und andere entwickelte Staaten, deren Politiken sich dem Dogma entfesselter Märkte gebeugt haben. Oder, eindrucksvoller noch: Man zeichne die Spuren nach, welche die Kreditbedingungen des IWF und der Weltbank in der so genannten Dritten Welt und in einigen Schwellenländern hinterlassen haben. Mittlerweile werden selbst ehemalige Apologeten und Nutznießer dieses Systems, wie etwa Herr Soros, nachdenklich.

Was getan werden muss

Um der skizzierten Globalisierungsfalle zu entkommen, ist daher ein politischer Wechsel unabdingbar. Dieser müsste den sozialen Bindungen innerhalb der Gesellschaft wieder den Stellenwert einräumen, der ihnen im modernen Sozialstaat gebührt. Dabei geht es übrigens keineswegs um Besitzstände eines antiquierten Fürsorge-Begriffs, wie es der zynische Begriff des „Rundum-Sorglos-Staates“ nahe legt. Sich gegen willkürliche Entlassungen zur Wehr setzen zu können, sich auf Betriebs- und Personalräte oder auf Tarifverträge verlassen zu können, nicht Angst haben zu müssen, bei Arbeitslosigkeit oder längerer Krankheit ins Bodenlose zu fallen, keine Sorge vor Altersarmut haben zu müssen — dies und vieles andere mehr gehört auch zum aufrechten Gang und ist essenzielle Grundlage, damit liberale Freiheitsverbürgungen sich auch gesellschaftlich und praktisch entfalten können.

Für Bürgerrechtsinitiativen erscheint vor allem die folgende Erkenntnis von Bedeutung: Die Verteidigung des Sozialstaats ist mehrheitsfähig. Die Wahlen zum Deutschen Bundestag im September 1998 war durchaus eine Richtungswahl gegen neoklassische Deregulierung, gegen einen privatisierungsgebeutelten Schrumpfstaat und für gesellschaftliche Vorsorge. Sie waren „ein Plebiszit für die Erhaltung des Sozialstaats“ — wie Renate Köcher vom Institut für Demoskopie in Allensbach zutreffend analysiert hat. Jüngst hat übrigens Noam Chomsky auf ähnliche Forschungsergebnisse in den USA aufmerksam gemacht, die für die Mehrheit der Bevölkerung „sozialdemokratische“ Grundeinstellungen belegen. In der praktischen Politik spürt man von dieser Mehrheitserwartung wenig. Stattdessen gefällt sich der Politikbetrieb in Scheinlösungen; oft von einer Halbwertzeit, die nicht mehr als wenige Monate währt. Das Ganze wird begleitet durch eine mediale Verkündungspraxis, die einzelne Akte symbolischer Politik zu großen Reformlösungen aufbläst. Die darin liegende Missachtung der Mehrheitserwartung fördert den Vertrauensverlust der Menschen in ihre Politiker und apolitische Reaktionen. Die vorerst noch harmloseste Variante ist das Phänomen der Wahlenthaltung, das seit einigen Jahren um sich greift. Das ist die Antwort der Menschen, die ihre Nöte und Erwartungen im offiziellen Politikbetrieb nicht aufgehoben und angenommen finden. Eine gefährlichere Variante ist die Unterstützung von Strömungen und Parteien, die sozial bedrohten Bürgern Identität versprechen, indem sie Sündenböcke vorführen. Nach unten zu treten, war schon immer ein Mechanismus, um Halt zu suchen, wenn Ungewissheit und eigener Abstieg drohen.

Den Schaden trägt die Demokratie davon. Hier die Stimme zu erheben und Einhalt zu gebieten, sollte Aufgabe von Bürgerrechtsorganisationen sein: damit Politik, politische Alternativen, auch Utopien, und politisches Profil wieder zutage treten, ohne die eine Demokratie nicht gedeihen kann.

* Schriftfassung eines Vortrags, der am 31. Mai 2002 auf der Jahrestagung der GUSTAV HEINEMANNINITIATIVE in Stuttgart gehalten wurde.

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