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Eine Selbst­dar­stel­lung

aus: vorgänge Nr. 62/63 (Heft 2-3/1983), S. 191-194

Im Jahre 1978 gründeten Persönlichkeiten aus Politik, Kirchen und Gesellschaft die parteipolitisch unabhängige Gustav Heinemann-Initiative (GHI), um »für die Erhaltung eines freiheitlichen Grundklimas in der Bundesrepublik einzutreten und Fragen aufzugreifen, die von grundsätzlicher Bedeutung sind, die aber innerhalb des derzeitigen Parteienspektrums nicht oder nicht deutlich genug aufgreifbar und durchsetzbar sind«.

Die Initiatören, unter ihnen Marianne Dirks, Gerhard Dürr, Erhard Eppler, Helmut Gollwitzer, Walter Hähnle †, Eberhard Jäckel, Walter Jens, Luc Jochimsen, Diether Koch, Kurt Scharf, Helmut Simon, Carola Stern und Christoph Müller-Wirth, traten Ostern 1978 mit dem »Aufruf zur Mitarbeit in der Gustav Heinemann-Initiative« an die Öffentlichkeit: »Gustav Heinemann hat in der Aufregung der Ostertage 1968 durch ein knappes, treffendes Wort viele von uns betroffen gemacht, viele, die rebellieren, viele, die fassungslos und selbstgerecht die Rebellierenden verurteilten.

Er sagte: ‚Das Kleid unserer Freiheit sind die Gesetze, die wir uns selber gegeben haben. Diesen Gesetzen die Achtung und Geltung zu verschaffen, ist Sache von Polizei und Justiz (…) Wichtiger aber ist es, uns gegenseitig zu dem demokratischen Verhalten zu verhelfen, das den Einsatz von Polizei und Justiz erübrigt. (…) Unser Grundgesetz ist ein großes Angebot. Zum erstenmal in unserer Geschichte will es in einem freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaat der Würde des Menschen Geltung verschaffen. In ihm ist Platz für eine Vielfalt der Meinungen, die es in offener Diskussion zu klären gilt. Uns in diesem Grundgesetz zusammenzufinden und seine Aussagen als Lebensform zu verwirklichen, ist die gemeinsame Aufgabe.‘

Was damals eine zukunftsgewisse Bewegung rund um die Erde war, hat sich heute, vor allem in unserem Land, aufgesplittert oder verlaufen. Viele haben sich angepaßt, einzelne sind den Weg der Zerstörung und Selbstzerstörung gegangen, zu wenige haben sich an das glanzlose Geschäft gemacht, das Angebot des Grundgesetzes in täglicher Kleinarbeit aufzugreifen.

Heute ist unsere Freiheit durch Angst, Trägheit und Resignation bedroht. Einschüchterung und Selbstzensur engen den Raum freier Diskussion ein und drängen vor allem junge Menschen an den Rand einer Gesellschaft, in der Unduldsamkeit wieder modern werden könnte. Das Gespräch zwischen den Generationen ist an vielen Stellen abgebrochen. Wo vor Jahren noch gestritten wurde, herrscht heute Sprachlosigkeit.

Der Entwurf einer Zukunft, der die Jungen fordern könnte, ist nicht zu erkennen. Vorurteile und Rezepte der Vergangenheit füllen das geistig-politische Vakuum. Unsere Gesellschaft, die an ihrer Zukunft irregeworden ist, beruft sich auf Sachzwänge oder sucht Fluchtwege in die Vergangenheit. Am Ende solcher Fluchtwege können nur neue Katastrophen auf uns warten.

Daher appellieren wir an alle, denen der Name Gustav Heinemann Ermutigung und Verpflichtung war und ist. Dieser Name steht für die besten Traditionen des liberalen Bürgertums, des demokratischen Sozialismus, christlicher Weltverantwortung und des Engagements für den Frieden. Gustav Heinemann wollte, daß wir das Grundgesetz nicht als Zement einer starren Ordnung mißverstehen, sondern als Angebot einer Gesellschaft, in der sich immer von neuem freie Bürger in solidarischer Anstrengung um mehr Gerechtigkeit bemühen.

Nur in einem freiheitlichen Staat kann sich gesellschaftliche Solidarität entfalten. Nur in einer solidarischen Gesellschaft wächst der Mut zur Freiheit. Wir dürfen uns nicht zu dem Irrtum verleiten lassen, der Rechtsstaat erschöpfe sich in formalen Garantien. Schon gar nicht dürfen wir denen folgen, die vom Abbau rechtsstaatlicher Garantien mehr Sicherheit erwarten. Nur ein liberaler Staat kann ein starker Staat sein.

Gesellschaftliche Erneuerung setzt den demokratischen Rechtsstaat voraus; aber der demokratische Rechtsstaat kann ohne gesellschaftliche Reformen nicht überleben.

Wir rufen dazu auf, in nüchterner Diskussion zu prüfen, wo die Gefährdungen und die Chancen unserer Zukunft liegen. Lassen Sie uns prüfen, welche der gewohnten Wege in die Zukunft verschüttet sind, welche sich neu öffnen.

Lassen Sie uns allem widerstehen, was den Raum der Freiheit der einzelnen Bürger einengt, den Rechtsstaat aushöhlt und Menschen davon abhält, von ihren Freiheitsrechten Gebrauch zu machen.
Lassen Sie uns gegen einen Provinzialismus kämpfen, der in Egoismus und nationaler Engstirnigkeit internationale Aufgaben, vor allem gegenüber der Dritten Welt, verkennt oder verdrängt.

Lassen Sie uns nicht schweigen, wo immer durch Hunger oder Folter, willkürliche Freiheitsberaubung oder Unterdrückung der Meinungsfreiheit Menschen ihre Rechte verweigert werden.

Lassen Sie uns den Begriff einer Reform erarbeiten, die nicht Wachstum verteilen, sondern zwischen Alternativen von Wachstum entscheiden und Strukturen schaffen soll, die humanes Leben sichern.
Lassen Sie uns eine ehrliche und selbstkritische Diskussion über unseren Weg und unsere Zukunft führen. Wer sich auf dem Erreichten ausruhen will, verfällt zu Recht der Kritik der Jüngeren.

Lassen Sie uns denen unsere Solidarität beweisen, die mutlos, eingeschüchtert oder einsam sich von der Teilnahme am öffentlichen Leben abwenden. Wir wollen uns auf die freiheitlichen Traditionen unserer Geschichte besinnen, die uns Mut machen können.«

In wenigen Monaten hat eine große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern ihre Interesse an einer Mitarbeit in der Gustav Heinemann-Initative bekundet.

Zum Verfassungstag veranstaltete die Initiative ihre Jahrestagungen in Rastatt:

1978 – »Bekommen wir eine andere Republik?«

1979 — »Bürgerfreiheit gegen Obrigkeitsstaat«

1980 – »Wer macht unsere Zukunft? Sind wir nur Marionetten?«

1981 — »Frieden retten — Frieden stiften«

1982 — »Friedensaufgaben der Deutschen«

1983 — »Recht zum Widerstand«.

Die Jahrestagungen fanden eine große Resonanz. In der ganzen Bundesrepublik entstanden Regionalgruppen der Initiative. Diese Entwicklung machte eine Organisation notwendig, die eine Meinungsbildung von den regionalen Gruppen aus eröffnete und Erklärungen gewählter Vertreter der Initiative ermöglichte. So kam es im Jahre 1981 zur Organisation der Gustav Heinemann-Initative im juristischen Rahmen eines eingetragenen Vereins.

Zur Mitgliedschaft im eingetragenen Verein wurde mit einer Erklärung »Was ist und will die Gustav Heinemann-Initative?« aufgerufen:
»Die Gustav Heinemann-Initative ist ein Zusammenschluß von Bürgern und Bürgerinnen, die in der Bundesrepublik Deutschland im Sinne Gustav Heinemanns politisch tätig werden wollen. Im Frühjahr 1978 wurde sie gegründet. Sie beruft sich auf Namen, politisches Wirken und politische Ziele Gustav Heinemanns.

Wie er, sieht unsere Initiative das Grundgesetz der Bundesrepublik als großes geschichtliches Angebot an. Es kann helfen, uns von verhängnisvollen Traditionen deutscher Vergangenheit abzuwenden und eine demokratische Gesellschaft mündiger Bürger aufzubauen.
‚Der mündige Bürger ist zuallererst ein wacher Bürger, der nicht durch andere verwaltet oder vertreten, sondern der mitbestimmend und mithandelnd dabeisein will` (Gustav Heinemann am 11. Dezember 1973).

Zur Wahrung der Bürger- und Menschenrechte treten wir ein

• für einen Rechtsstaat, der die im Grundgesetz gewährleisteten Rechte und Freiheiten schützt

• für einen Sozialstaat, der die Wahrnehmung dieser Rechte und Freiheiten allen seinen Bürgern möglich macht,

• für eine Politik, die für den Frieden mit unseren Nachbarn in Ost und West auch Opfer zu bringen bereit ist,

• für die Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, für eine Politik, den den armen Völkern die Chance eigenständiger Entwicklung gibt,

• für die Unantastbarkeit der Würde des Menschen auch in Strafrecht und Strafvollzug.

Die Gustav Heinemann-Initative ist der Überzeugung, daß die Grundrechte nur verwirklicht werden und bleiben, wenn sie im Bewußtsein der Bürger lebendig sind und täglich neu verteidigt werden. Sie will nicht die Aufgaben der politischen Parteien übernehmen, sie will vielmehr in die Gesellschaft und damit in die Parteien wirken und notwendigen Veränderungen zum Durchbruch verhelfen.

Jeder, der für diese Ziele tätig sein will, ist eingeladen, Mitglied der Gustav Heinemann-Initative zu werden. Sie arbeitet durch Veranstaltungen und Stellungnahmen, sowohl zentral als auch in den einzelnen Regionen des Bundesgebiets und West-Berlins.«

Die Arbeit der als Verein organisierten Initiative wird von der jährlichen Mitgliederversammlung und von einem Beirat zur Beratung des Vorstandes, dem vor allem Vertreter der Regionalgruppen angehören, im Grundsatz bestimmt oder beraten.

Der Verein wird von einem fünfköpfigen Vorstand, dem zur Zeit Erhard Eppler, Ulrich Finckh, Brigitte Gollwitzer (Sprecherin), Horst Krautter (ehrenamtliche Geschäftsführung) und Heinz Recken angehören, geleitet.

Die laufenden Geschäfte werden von einem bescheidenen Sekretariat.(Belaustraße 23, 7000 Stuttgart 1) besorgt.

In ihrer aktuellen Arbeit versteht sich die Gustav Heinemann-Initative als Bestandteil der Friedensbewegung. Sie sieht hier ihre Aufgabe insbesondere in der Mitarbeit bei der Entwicklung einer alternativen Sicherheitspolitik und im Angebot eines Podiums für das Gespräch der vielen Friedensgruppen untereinander.

Aus dieser Arbeit sollen hier einige Stationen skizziert werden:
Am 12. und 13. Juni 1981 führte die Gustav Heinemann-Initative in Bonn rund 30 Politiker und Wissenschaftler zusammen, die eine Erklärung zur »Nachrüstung« verfaßten.

Nach der Entscheidung des amerikanischen Präsidenten, die Neutronenwaffe zu bauen, übermittelte die Gustav Heinemann-Initative den drei Bundestagsfraktionen eine Erklärung, in der sie den in den USA beschlossenen Bau von Neutronensprengkörpern verurteilte und die Bundestagsfraktionen aufforderte, in einer Entschließung deutlich zu machen, daß die Mehrheit des deutschen Volkes dieses neue Kriegsinstrument nicht wünscht, auch nicht zur angeblichen Verteidigung des Bundesgebietes.

Die Gustav Heinemann-Initative unterzeichnete den Aufruf zur Friedensdemonstration am 10. Oktober 1981 in Bonn und bat ihre Mitglieder, an der Demonstration teilzunehmen. Rund 800 Organisationen in der Bundesrepublik waren Mitunterzeichner des Aufrufes zur Friedensdemonstration »Gemeinsam gegen atomare Bedrohung vorgehen — für Abrüstung und Entspannung in Europa«, die von der »Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden« und »Aktion Sühnezeichen / Friedensdienste« veranstaltet wurde. Mit William Born, Volkmar Deile, Erhard Eppler, Helmut Göllwitzer, Petra Kelly, Willy Pieczyk und Kurt Scharf sprachen auf der Kundgebung Mitglieder der Initiative. Auch hat die Gustav-Heinemann-Initative die Demonstration in bescheidenem Umfang mitfinanziert.

Am 30. und 31. Oktober 1981 führte die Gustav Heinemann-Initative in Bonn eine Konferenz mit Politikern, Wissenschaftlern, Gewerkschaftern, Vertretern der Kirchen, der Friedensbewegung und von Jugendorganisationen durch, bei der über die Ablehnung der »Nachrüstung« hinaus eine alternative Sicherheitspolitik diskutiert wurde. Die GHI stellte die Konferenz nach Beratung in einer Vorbereitungsgruppe unter das Thema »Militärische Aufrüstung — Soziale Demontage — Sachzwang ohne Alternative?« Das inhaltliche Ergebnis der Konferenz ist identisch mit der Veröffentlichung »Frieden mit anderen Waffen — Fünf Vorschläge zu einer alternativen Sicherheitspolitik«, herausgegeben vom Komitee für Grundrechte und Demokratie (roro aktuell Nr. 4939).

Eine Arbeitsgemeinschaft Abrüstungsinitiative Bremer Kirchengemeinden / Regionalgruppe Bremen der Gustav Heinemann-Initative erarbeitete mit finanzieller Unterstützung der Gustav Heinemann-Initative eine Ausstellung »Es geht ums Leben — Abrüstungsbemühungen und Abrüstungspolitik von 1945 bis heute«. Die Ausstellung umfaßt 50 Tafeln mit historischen und themenbezogenen Teilen. Ebenfalls mit finanzieller Unterstützung der Gustav-Heinemann-Initative produzierte die Filmgruppe Tübingen einen Film zur Nachrüstung.

In einem offenen Brief an General Jaruzelsky vom 22. Dezember 1981 forderte die Gustav Heinemann-Initative zusammen mit dem »Komitee für Grundrechte und Demokratie e. V.« die Beendigung des Ausnahmezustandes in Polen.

Mitglieder der GHI haben das »Friedensmanifest 1982« mitunterzeichnet, das in Beirat und Vorstand diskutiert wurde. Es ist in der Zwischenzeit in einer Auflage von über 100 000 Exemplaren vom »Komitee für Grundrechte und Demokratie e. V.« vertrieben worden.
Die Gustav Heinemann-Initative unterstützte durch Unterzeichnung und Finanzierung Anfang Juni 1982 eine Anzeige in der »New York Times« mit einem Aufruf an die amerikanische Friedensbewegung.

Die Mitgliederversammlung der Gustav Heinemann-Initative erklärte sich am 22. Mai 1982 mit den Zielen der Demonstration am 10. Juni 1982 anläßlich der NATO-Gipfel-Konferenz in Bonn solidarisch und forderte zur Teilnahme auf.

Zusammen mit der Gustav Heinemann-Bildungsstätte Malente wurde die Tonkassette »Gustav Heinemann — Atomwaffen« herausgegeben.
In diesen lägen entsteht in Zusammenarbeit mit Grundrechte-Komitee, HU, RAV und Richterratschlag ein »Memorandum zur Ausländerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland«.

Bei der GHI kann man Mitglied werden; Jahresbeitrag ab DM 60.-

Horst Krautter

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