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Heinemann und die GUSTAV HEINE­MANN-I­N­I­TIA­TIVE

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aus Vorgänge 2/2002 Seite 126-130

Als Gustav Heinemann im Herbst 1973 seinen Entschluss bekanntgab, nicht ein zweites Mal für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren, bedauerten das viele Menschen, die sich von ihm eine politische Wirkung durch zwei Amtsperioden gewünscht hätten. Es stellte sich dann aber bald heraus, dass seine Perspektive realistisch gewesen war: Als Altbundes-präsident waren ihm nur noch zwei Jahre vergönnt, in denen er sich zudem, schon durch Krankheit gezeichnet, auf wenige Themen konzentrieren musste. Er starb am 7. Juli 1976, 77jährig.
Sein Tod gab vielen den Anstoß, darüber nachzudenken, wie man in seinem Sinne weiter politisch wirken könne. An einzelnen Punkten geschah das sofort: In Rastatt wurde das Museum für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte, das Heinemann noch wenige Tage vor seinem Amtsende ins Leben gerufen hatte, errichtet und allmählich unter großen Schwierigkeiten ausgebaut. Die Sozialdemokratische Partei stiftete den Gustav-Heinemann-Bürgerpreis der SPD, der jährlich im Mai an Bürger vergeben wurde, die beispielhaft um den Ausbau des demokratischen und sozialen Rechtsstaates bemüht waren.
Aber ein solches punktuelles Gedenken genügte denen nicht, denen Heinemann seit Jahren politisches Leitbild gewesen war. Sie wollten eine politische Kraft, eine Initiative, die sich dauerhaft der politischen Probleme annähme, die Heinemann bewegt hatten. Es folgten Monate von Überlegungen und einzelnen Besprechungen, bis im Jahre 1977 feststand, dass man eine GUSTAV HEINEMANN-INITIATIVE (GHI) gründen wollte: eine unabhängige politische Gruppierung, weder Untergliederung noch Anhängsel einer Partei – aber auch nicht nur eine abgehobene Diskussionsrunde – also eine Bürgerinitiative, die sich nicht nur eines politischen Themas annahm, sondern mehrerer brennender Sachfragen, die Heinemann als wichtig erkannt hatte und die wichtig geblieben waren.
Erhard Eppler, Heinemanns früherer Weggefährte, lud zu einer konstituierenden Sitzung ein, die im März 1978 in Bonn stattfand und an der u.a. der Bundesverfassungsrichter Helmut Simon, der Theologe Helmut Gollwitzer, die Journalistin Carola Stern und Heinemanns Biograph Helmut Lindemann teilnahmen. Eppler hatte gemeinsam mit dem Redakteur Robert Leicht und dem Historiker Eberhard Jäckel eine Gründungserklärung entworfen, die überarbeitet und Ostern 1978 veröffentlicht wurde. Sie knüpfte an die Rede an, die Heinemann zehn Jahre zuvor als Bundesjustizminister nach dem Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke gehalten hatte. Sein „knappes, treffendes Wort” wurde zitiert:
„Unser Grundgesetz ist ein großes Angebot. Zum erstenmal in der deutschen Geschichte will es in einem freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaat der Würde des Menschen Geltung verschaffen. In ihm ist Platz für eine Vielfalt der Meinungen, die es in offener Diskussion zu klären gilt. Uns in diesem Grundgesetz zusammenzufinden und seine Aussagen als Lebensform zu verwirklichen, ist die gemeinsame Aufgabe.”
Die GHI stellte fest: „Heute ist unsere Freiheit durch Angst, Trägheit und Resignation bedroht… Der Entwurf einer Zukunft, der die Jungen fordern könnte, ist nicht zu erkennen… Unsere Gesellschaft beruft sich auf Sachzwänge oder sucht Fluchtwege in die Vergangenheit.” Die GHI appellierte „an alle, denen der Name Gustav Heinemann Ermutigung und Verpflichtung war und ist. Dieser Name steht für die besten Traditionen des liberalen Bürgertums, des demokratischen Sozialismus und christlicher Weltverantwortung.” In sieben Punkten wurde konkretisiert, wo „die Gefährdungen und Chancen unserer Zukunft” lägen:
„Lassen Sie uns allem widerstehen, was den Raum der Freiheit einengt, den Rechtsstaat aushöhlt und Menschen davon abhält, von ihren Freiheitsrechten Gebrauch zu machen.
Lassen Sie uns gegen einen Provinzialismus kämpfen, der in nationaler Engstirnigkeit internationale Aufgaben, vor allem gegenüber der dritten Welt, verkennt oder verdrängt.
Lassen Sie uns nicht schweigen, wo immer durch Hunger und Folter, willkürliche Freiheitsberaubung oder Unterdrückung der Meinungsfreiheit Menschen ihre Rechte verweigert werden.
Lassen Sie uns den Begriff einer Reform erarbeiten, die nicht Wachstum verteilen, sondern zwischen Alternativen von Wachstum entscheiden und Strukturen schaffen soll, die humanes Leben sichern.
Lassen Sie uns die Resignierten aufrütteln, die unserem Rechtsstaat, unserer freiheitlichen Verfassung keine Zukunft mehr geben.
Lassen Sie uns eine ehrliche und selbstkritische Diskussion mit den jungen Menschen führen, damit sie uns wenigstens wieder abnehmen, dass wir selbst glauben, was wir sagen.
Lassen Sie uns denen unsere Solidarität beweisen, die mutlos, eingeschüchtert oder einsam, sich von der Teilnahme am öffentlichen Leben abwenden. „
Mit einer solchen umfassenden Zielsetzung stieß die GHI auf die Sympathie vieler kritischer Intellektueller der Bundesrepublik. Der in Bonn zusammengetretene Trägerkreis der GHI ergänzte sich durch Kooptation schließlich auf über 50 Persönlichkeiten, die, wie Eppler formulierte, „weder Ersatzpartei noch Volkshochschule” sein wollten, sondern „ein Forum für alle, die Freiheit wagen, Zukunft erschließen, Krisen durch Reform bewältigen” wollten. Am Verfassungstage, dem 23.5.1978, wurde in Rastatt ein Symposion „Bekommen wir eine andere Republik?” abgehalten, auf dem der frühere Generalbundesanwalt Max Güde im Sinne Heinemanns die Praxis des Radikalenerlasses scharf angriff und Robert Leicht sich energisch für gesellschaftliche Reformen aussprach.
In der weiteren Praxis musste sich die GHI allerdings auf bestimmte Themenbereiche konzentrieren und beschränken. Im Vordergrund stand die Bemühung um Erhaltung und Ausbau des demokratischen und sozialen Rechtsstaats. Daneben trat als gleichgewichtiges Problem der außenpolitische Aspekt. Wie konnte die Bundesrepublik dazu beitragen, dass der Friede erhalten und gesichert wurde? Denn nicht der Krieg, sondern „der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben” – dieser Satz aus Heinemanns Antrittsrede als Bundespräsident wurde der zweite Leitsatz für die GHI.
Mit ihrer doppelten Zielsetzung entsprach die GHI den Aktivitäten, die Gustav Heinemann selbst im Lauf seiner politischen Wirksamkeit ausgeübt hatte. Er hatte in den fünfziger Jahren auf politischer Ebene die Pläne zu Aufrüstung und Atomrüstung kritisiert und sich darum bemüht, Lösungswege aus dem Kalten Krieg aufzuzeigen. Er hatte sich in den sechziger Jahren um eine Reform des Rechts bemüht, erst als Abgeordneter, seit 1966 dann drei Jahre als Justizminister in der Großen Koalition, und hatte die große Strafrechtsreform eingeleitet.
Allerdings zogen nicht alle, auf die die GHI in ihrem Anfang gehofft hatte, auf diesem Wege mit. Einigen war wohl an einer ehrenden Erinnerung an den Bundespräsidenten gelegen, sie konnten aber entschiedene politische Aussagen nicht mittragen. An-deren wiederum waren die konkreten Aussagen der GHI nicht scharf genug. Wieder andere, die mit Heinemann 1957 zur Sozialdemokratie gefunden hatten, hielten sich des-halb fern, weil sie der aufkeimenden Befürchtung in der Partei keine Nahrung geben wollten, Anhänger Heinemanns könnten sich aufs neue in einer Partei sammeln.
Aber solche Befürchtungen einiger weniger waren gegenstandslos. Denn in der GHI waren und blieben genügend politisch Interessierte, die das Scheitern der „Gesamtdeutschen Volkspartei” miterlebt und die Ursachen ihres Scheiterns bedacht hatten. So kam die GHI nicht in die Versuchung, sich in eine Partei zu verwandeln, und es gelang ihr, zu einer Bürger-rechtsgruppierung eigener Art zu werden und das auch zu bleiben. Ihre Mitglieder kamen jeweils auf Jahrestagungen zusammen, verabschiedeten Erklärungen und wählten einen fünf- bis siebenköpfigen Vorstand, der seinerseits in mannigfacher Weise aktiv wurde.
Jahrelang wurden die Jahrestagungen jeweils im Mai in Rastatt abgehalten; innen-oder außenpolitischen Fragen wurden aufgegriffen und Lösungswege aufgezeigt. Mit den gleichen Problemen beschäftigten sich auch Regionalgruppen der GHI. Die Vorträge und Diskussionen der Jahrestagungen wurden jeweils in Jahresbänden zusammengefasst, die der Radius-Verlag herausgab.
Der GHI und ihren Zielen kamen mannigfache Überschneidungen mit anderen Organisa-tionen zustatten. So war Ulrich Finckh lange Jahre Geschäftsführer der GHI und Vorsitzender der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer. Einige GHI -Mitglieder, wie Heinemanns Freund Helmut Gollwitzer, saßen zugleich im Kuratorium des Gustav-Heinemann-Bürgerpreises der SPD. Gelegentlich konnten die Preisverleihung und die GHI – Jahrestagung nacheinander am gleichen Ort erfolgen. Die Träger des Bürgerpreises waren oft Menschen, die im Sinne Heinemanns – und der GHI! – gehandelt hatten, ob es nun 1978 das Fernsehteam von „Kennzeichen D” oder später das Forum Ziviler Friedensdienst oder kritische Soldaten und Polizisten waren.
Innerhalb der GHI und ihres Vorstands brachten die verschiedenen Mitglieder jeweils die Aspekte ein, die sie im Lauf ihres beruflichen und politischen Werdegangs erkannt hatten. Es kam der GHI zustatten, dass von den Älteren manche Heinemann auf seinem außenpolitischen Wege, andere in seinem rechts- und sozialpolitischen Engagement, wieder andere auf kirchlichem Felde begleitet hatten.
Schließlich waren Mitglieder der GHI dabei, wenn es um besondere Projekte im Zusammenhang mit Heinemann ging. 1999 fand im Haus der Geschichte in Bonn ein ganztägiges Symposion Gustav Heinemann und seine Politik statt. In demselben Jahr, dem hundertsten Geburtsjahr Heinemanns, waren Mitglieder der GHI an einer Sammlung von Aufsätzen über Gustav Heinemann. Christ und Politiker und war die GHI selbst an der Herausgabe von Texten Heinemanns beteiligt: Einspruch. Ermutigung für entschiedene Demokraten. Darin wurden Kerngedanken Heinemanns zu Demokratie, Glaube und Politik, Geschichte und Gegenwart, Frieden und Wiedervereinigung Deutschlands, Recht und Gerechtigkeit, freier und sozialer Wirtschaft und dazu autobiographische Reflexionen neu zugänglich gemacht. Im Jahre 2000 erinnerte die GHI zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin an Heinemanns Warnungen 1950, als er von seinem Amt als Bundesinnenminister zurücktrat, und an die Folgen damaliger Fehlentscheidungen: Verhandlungen über eine Wiedervereinigung statt Aufrüstung! Heinemann und die Eingliederung der Bundesrepublik in das westliche Militärbündnis.
Derartige Rückgriffe auf das Leben Heinemanns waren alles andere als nostalgische Tendenzen. Vielmehr machten gerade sie deutlich, in welchem Maße die heutigen mit früheren Entscheidungen und Fehlentscheidungen korrespondieren. Schon als Heinemann 1950 zurücktrat, tat er es aus doppeltem Grunde: weil er Adenauers militärpolitische Zielsetzung in der Sache für verhängnisvoll hielt – und weil er Adenauers undemo-kratisches Vorgehen missbilligte.
Leider sind inzwischen weder die außen- noch die innenpolitischen Probleme gelöst. So gilt es heute wie zu Lebzeiten Heinemanns, militärpolitische Tendenzen beständig kritisch zu beobachten und sich ebenso ausdauernd um die Erhaltung und den Ausbau von Bürger-rechten zu kümmern. Deshalb steht die GHI heute wie vor 25 Jahren vor wichtigen Auf-gaben. Zwar möchte man manchmal dabei verzagen, gerade wenn man auf das letzte halbe Jahrhundert zurückblickt. Aber ein Rückblick auf die Tätigkeit Heinemanns ermutigt auch. Niemand hätte vor 50 Jahren gedacht, dass der isolierte und verfemte „politische Wanderprediger” Heinemann später Justizreformen in Gang setzen und aufs letzte sogar Bundespräsident werden würde.
Heinemann selbst hat für seine Ausdauer in jeder politischen Lage eine große und eine kleine Erklärung gegeben. Als 1953 Erhard Eppler durch einen Verkehrsunfall im Wahlkampf ausfiel, tröstete er ihn: „Gottes Weltregiment bleibt, auch wenn Mitspieler ausscheren!” Und unter Heinemanns nachgelassenen Papieren fand sich ein Blatt, auf dem er notiert hatte, wenn er gestorben sei, würden seine „Gefährten der Arbeit, des Kampfes und des Glaubens” sagen, er „sei nun fortgegangen”: „Dann wird ihr Werken weiter-gehen. Denn sie haben viel zu tun.”

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