Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 164: Von der APO zu ATTAC: Politischer Protest im Wandel

Zum Wandel politischen Protests in der Bundes­re­pu­blik

Verbreiterung, Professionalisierung, Trivialisierung

In: vorgänge 164 (Heft 4/2003), S. 4ff

Sozialer und politischer Protest ist ebenso Bestandteil der Alltagskultur moderner Gesellschaften wie außergewöhnlicher, geschichtsträchtiger Momente. Unter einen breit gefassten Begriff kollektiver, öffentlicher und nicht-staatlicher Proteste mit einem gesellschaftlichen oder politischen Anliegen fällt vieles: der Offene Brief, mit dem eine Bürgerinitiative eine lokale Behörde attackiert, aber auch eine Serie imposanter Massenproteste, die.am Ende ein politisches Regime stürzen. Proteste variieren enorm hinsichtlich ihrer Themen, Formen, Größenordnung, sozialen Träger, zeitlichen und räumlichen Verteilung sowie weiterer struktureller Merkmale. Auch erleben Menschen Proteste in vielfältigen Rollen: als Konsumenten von Nachrichten, als Passanten, Teilnehmer, Sympathisanten oder Gegner, Nutznießer oder möglicherweise auch Opfer. Proteste drängen vielfach zur Stellungnahme, aber sie werden selten zum Gegenstand eingehender Analysen.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Protest erfolgt, sofern es sich nicht um historische Studien handelt, am Rande des akademischen Betriebs. In der Regel wird Protest erst dann zum Objekt intensiver wissenschaftlicher Reflexion, wenn er sich zum massiven Problem einer Gesellschaft auswächst, sei es in Gestalt von Gewalthandlungen bis hin zum Terrorismus, sei es in großen Streikwellen, die eine Volkswirtschaft empfindlich beeinträchtigen können, sei es in der Häufung politischer Demonstrationen, die einen Legitimationsentzug gegenüber einer Regierung oder einem politischen System insgesamt sigsignalisieren. Die Breite und Vielfalt der zumeist kleinen und unspektakulären Proteste bleibt jedoch im Schatten der akademischen Aufmerksamkeit. Ist schon die wissenschaftliche Beschreibung von Protest unbefriedigend, so gilt dies erst recht für die Erforschung seiner Ursachen und Wirkungen.

Der vorliegende Beitrag sieht von einzelnen, herausgehobenen Protesten ganz ab; er konzentriert sich vielmehr auf die groben Linien politischen Protests in der Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten. Dieser breite Blickwinkel hat seinen Preis. Er erfordert Distanz gegenüber allen Einzelheiten, erzwingt also eine Vogelperspektive. Um im Bild zu bleiben: Es werden nur die Konturen der darunter liegenden Landschaft

in Gestalt auffälliger Muster – von Bergzügen, Ebenen, Flussläufen, großen Ansiedlungen — sichtbar, nicht aber die einzelnen Pflanzen, Lebewesen und Häuser.

Soweit es jedoch um die Vermessung dieser Konturen geht, zeichnet das dafür ein-gesetzte methodische Instrument, die Protestereignisanalyse, trotz der Distanz und Mitteilbarkeit ihres Beobachtens ein relativ scharfes und genaues Bild, beruht es doch auf der statistischen Aggregation von vielen und nach einem einheitlichen Kriterienkatalog er-fassten Einzelprotesten. Das unterscheidet diese systematische Methode von der hochgraddig selektiven Wahrnehmung nachdenklicher Zeitgenossen, die sich aufgrund disperser und höchst subjektiver Wahrnehmungen und Erinnerungen ein Bild zu machen suchen.

Im Folgenden wird zunächst eine grobe Skizze der quantitativen Entwicklung von Proteststrukturen in der Bundesrepublik gezeichnet. Im zweiten Teil stehen mit dem Wandel der Protestkultur eher qualitative Aspekte und damit auch stärker interpretierrende Überlegungen im Mittelpunkt. Abschließend wird versucht, die wichtigsten Befunde auf einen knappen Nenner zu bringen.

1. Quantitative Entwicklungen: Proteststrukturen

Bei der Kartographie von Proteststrukturen bleibt eine wichtige Einschränkung vorweg zu betonen: Auch die systematisch und flächendeckend verfahrende Protestereignisanalyse ist selektiv, besteht doch keine realistische Möglichkeit, die Gesamtheit aller tagtäglich in einem Land stattfindenden Proteste über Jahrzehnte hinweg vollständig zu dokumentieren. Selbst die Ordnungsämter, die im Falle Berlins jährlich weit über zweitausend „Versammlungen und Aufzüge” registrieren (und von denen die meisten unter eine weit definierte sozialwissenschaftliche Rubrik von Protest fallen), erfassen Proteste unvollständig, wie spezielle Analysen zeigen (vgl. Hocke 2002).

Selektiv ist die vorliegende quantitative Analyse, die auf dem so genannten Probat-Projekt [1] beruht, in zweierlei Hinsicht. Erstens berücksichtigt sie nur Protestereignisse, über die in bundesweiten Qualitätszeitungen (Süddeutsche Zeitung und/oder Frankfurter Rundschau; ohne die jeweiligen Lokal- und Landesteile) berichtet wurde. Zweitens liegt der standardisierten Erfassung der Zeitungsberichte eine Stichprobe zugrunde, die alle Montagsausgaben und alle zusätzlichen Werktage jeder vierten Woche und damit rund 46 Prozent aller vorausgehenden „Ereignistage“2 umfasst. Auch ist zu berücksichtigen, dass die auf Zeitungsberichten basierende Protestereignisanalyse kein verkleinertes Abbild der Protestwirklichkeit liefern kann. Die Medienberichterstattung orientiert sich vorrangig an Nachrichtenwerten (vgl. Galtung/Ruge 1964); sie bevorzugt bestimmte Ereignisse aufgrund von deren Merkmalen und vernachlässigt dagegen andere. Zum Beispiel werden nahezu alle großen oder sehr gewalthaltigen Ereignisse berichtet, während viele kleine und unspektakuläre Proteste unter den Tisch fallen. Die Protestereignisanalyse macht allerdings jene Proteste sichtbar, welche von national führenden Zeitungen für berichtenswert erachtet werden. Diese sind somit einem breiten, politisch interessierten Publikum zugänglich und werden auch von politischen Entscheidungsträgern wahrgennommen. Insofern handelt es sich um einen relativ unverzerrten Ausschnitt jener Protes-

te, die überhaupt als (potenziell) bundespolitisch bedeutsam erscheinen. Nachfolgend werden quantitative Entwicklungen in ihren ungefähren Größenordnungen beschrieben, jedoch nicht im einzelnen durch Tabellen und Grafiken ausgewiesen (vgl. dazu NeidhardtlRucht 2001 und Rucht 2003).

Die durchschnittliche Zahl der Proteste hat im Zeitraum von 1950 bis 1997 in der Bundesrepublik (West) von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zugenommen. Einige kurze Phasen, vor allem die Jahre 1968/69, zeichnen sich als Perioden mit besonders hoher Protestfrequenz aus, während das Gegenteil auf die Phase von 1950 bis 1965 zutrifft. Deutlich anders verläuft dagegen die Entwicklung der Teilnehmerzahlen. In dieser Hinsicht sind die Jahre 1968/69, die Hochphase der studentisch geprägten außerparlamentarischen Opposition (ApO), keineswegs herausragend. Vielmehr zeichnen sich vor allem drei markante Mobilisierungswellen ab: 1955 mit Protesten gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, von 1982 bis 1984 mit den Aktivitäten gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen sowie 1993 mit zahlreichen „Lichterketten” gegen Ausländerfeindlichkeit. In der DDR bzw. den neuen Bundesländern, für die Protestereignisdaten erst seit 1989 vor-liegen, bilden die Proteste in der Wendephase von 1989/90 einen herausragenden Höhhepunkt der Massenmobilisierung.

Die quantitativen Entwicklungslinien der Proteste und der Protestteilnehmer verlaufen somit keineswegs immer parallel. Zum Beispiel stehen relativ wenigen, aber in der Regel großen Protesten in den 1950er Jahren relativ viele, aber im Durchschnitt eher kleine Proteste in den späten 1960er Jahren gegenüber.

Auch die Themen der Proteste wandelten sich sehr stark im Zeitverlauf. Ungefähr stabil, zumindest bezogen auf gesamte Jahrzehnte, blieb lediglich der Anteil von Protesten im Bereich der Arbeitswelt, die allerdings in den frühen 1950er Jahren zumeist eng mit grundsätzlichen Fragen nach der Gestaltung der wirtschaftlichen und politischen Ordnung verkoppelt waren. Die Friedensproteste traten nur in kurzen, dann aber mobilisierungsstarken Phasen in Erscheinung: um 1955 gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, 1957/58 gegen die atomare. Bewaffnung derselben, 1982 bis 1984 gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss, 1991 gegen den Golfkrieg und, noch nicht im Datenbestand enthalten, im Februar/März 2003 gegen den Irakkrieg. Vor allem die frühen 1950er Jahre waren noch stark von Themen geprägt, die mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs zu tun hatten. Ab Mitte der 1960er Jahre dominierte die Ap0 die Protestagenda. Nicht nur thematisch sondern auch in ihren Formen stellt die Ap0 eine Zäsur in der bundesrepublikanischen Protestgeschichte dar (vgl. Kraushaar 2000). Ab den frühen 1970er Jahren überwogen einzelne Mobilisierungswellen der neuen sozialen Bewegungen, darunter Umweltschutz einschließlich der zivilen Nutzung der Atomkraft, die schon erwähnten Friedensproteste sowie Frauenproteste. Zwischen 1979 und 1981 häuften sich teilweise militante Proteste im Zusammenhang mit Hausbesetzungen, Rekrutenvereidigungen und der Räumung von Jugendzentren. Themen der neuen sozialen Bewegungen spielen bis in die Gegenwart eine anhaltend wichtige Rolle, jedoch rückten in der öffentlichen Wahrnehmung seit den frühen 1990er Jahren die aggressiven rechtsradikalen und ausländerfeindlichen Aktivitäten in den Vordergrund, welche eine

zahlenmäßig weitaus stärkere Gegenmobilisierung hervorriefen. Erst etwa ab 2000 gewannen globalisierungskritische Proteste, die sich in Einzelfällen bis in die 1980er Jahre zurückverfolgen lassen, in der öffentlichen Wahrnehmung an Bedeutung, obgleich sie quantitativ bislang kaum ins Gewicht fallen.

In der DDR überragten zunächst die Wendeproteste das gesamte Geschehen. Nach der deutsch-deutschen Vereinigung traten Proteste der Arbeitswelt stärker in den Vordergrund, während die Themen der neuen sozialen Bewegungen zu keinem Zeitpunkt eine ähnlich wichtige Rolle wie in den alten Bundesländern spielten (vgl. Burchardt 2001). Insgesamt kommt es im Verlauf der Zeit zu einer Vervielfältigung der Protestthemen, die sich immer weiter auffächern und teilweise von sehr speziellen Trägergruppen lanciert werden.

Auch das Repertoire der Protestformen erweiterte sich kontinuierlich. In den 1950er Jahren überwogen relativ konventionelle Protestformen, darunter vor allem Streiks, Unterschriftensammlungen und Massenkundgebungen. Gelegentlich kam es auch zu Störungen von Veranstaltungen und „Straßenkrawallen”. Gewaltförmige Aktionen waren relativ selten. Vor allem mit den studentischen Protesten ab Mitte der 1960er Jahre rückten bis dato nicht oder kaum genutzte Aktionsformen wie Polit-Happenings, Institutsbesetzungen, Sit-ins, Teach-ins und Straßenblockaden in den Vordergrund. Mit den nachfolgenden neuen sozialen Bewegungen wurde dieses Spektrum um Platz- und Hausbesetzungen sowie Menschenketten, aber auch durch verfahrensförmige Einsprüche (v.a. im Atomrecht und Baurecht) und verwaltungsgerichtliche Klagen erweitert. Während sich seit Mitte der 1960er Jahre der Anteil konfrontativer Aktionsformen am gesamten Protestgeschehen nicht gravierend veränderte (vgl. Rucht 2003: 47), ist der Anteil gewaltförmiger Aktions-formen seit den 1950er Jahren (1950 bis 1959: fünf Prozent) von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gestiegen und hat in den Jahren von 1990 bis 1997 insbesondere aufgrund rechtsradikaler und/oder ausländerfeindlicher Attacken einen Spitzenwert von mehr als 22 Prozent er-reicht. Hierbei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass gewaltförmige Aktionen eine hohe Chance haben, in den Medien berichtet zu werden. Rechtsradikale und/oder ausländerfeindliche Aktionen, die hinsichtlich ihrer Häufigkeit durchaus bedeutend sind, blieben jedoch zumeist auf Kleingruppen beschränkt, während, wie schon erwähnt, die Gegenmobilisierung — gemessen nach Teilnehmern, regelmäßig weit umfangreicher ausfiel.

Schließlich hat sich auch die Zusammensetzung der Protestgruppen im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte deutlich gewandelt. Wichtigste organisatorische Träger in den 1950er Jahren waren Gewerkschaften und Verbände von Kriegsheimkehrern, Vertriebenen und Kriegsgegnern. Die heftig diskutierten Halbstarkenkrawalle können als ein Aufbegehren gegen die bürgerliche Vorstellung von Ordnung verstanden werden; jedoch wurden dabei keine explizit politischen Anliegen artikuliert. Studentische Proteste waren selten und zumeist wenig spektakulär. Mit der außerparlamentarischen Opposition traten erstmals in großem Umfang informelle Gruppen als Träger von Protest in Erscheinung — ein Trend, der sich mit dem Aufkommen von Bürgerinitiativen und Gruppen der neuen sozialen Bewegungen fortsetzte und verstärkte. Auch wurden Proteste in zunehmenden Maße von breiten Allianzen heterogener Gruppen getragen, so dass sich

die durchschnittliche Zahl der Organisationen, die jeweils einen Protest durchführten, deutlich erhöhte. Mit der Vervielfältigung der Protestthemen erweiterte sich auch die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Protestierenden; sie schloss in immer stärkerem Maße auch bislang eher „protestabstinente” Gruppen ein. Inzwischen nutzen auch Polizisten, Lehrer und Zahnärzte das Mittel des Straßenprotests.

2. Qualitative Entwicklungen: Protestkulturen

Die geschilderten strukturellen und im Prinzip leicht quantifizierbaren Veränderungen des Protestgeschehens bilden nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite vollzogen sich auch bedeutsame qualitative Veränderungen, welche die expressive Seite des Protests, also insbesondere seine Vermittlungsformen, aber auch die gesellschaftliche Resonanz auf Proteste betreffen.

Die ernste, disziplinierte „Kundgebung” verkörperte den prototypischen Straßenprotest der 1950er Jahre. Dabei trugen Redner — in aller Regel Vorsitzende von Verbänden, Vereinen oder Parteien — Kritik und Forderungen den Versammelten vor, und diese machten durch Applaus, aber auch durch Schilder und Transparente, ihre Positionen deutlich.3 Heute dagegen fällt es schwer, überhaupt eine dominante Protestform zu identifizieren. Zudem ist in vielen Fällen die Grenze zwischen Organisatoren und Teilnehmern undeutlicher und das Erscheinungsbild der Protestierenden bunter geworden. Die in Straßenprotesten sichtbare symbolische Formensprache des Protests hat sich erweitert und stärker ausdifferenziert (vgl. Balistier 1996: 300). Anstelle von Marschblöcken mit geordneten Reihen bestehen die Demonstrationszüge aus lockeren Gruppen, in denen Kinder-wägen und Fahrräder mitgeführt werden. Sambagruppen, phantasievolle Verkleidungen und bemalte Gesichter erinnern an Karnevalsumzüge. Protest und Unterhaltung gehen oft eine enge Verbindung ein, so dass man, in Analogie zum Medientrend des „Infotainment”, von einem Trend zum „Protesttainment” sprechen könnte. Selbst die traditionellen Kundgebungen der Gewerkschaften am 1. Mai sind von dieser Entwicklung erfasst. Und bei manchen Veranstaltungen, etwa den Schwulenparaden zum Christopher-Street-Day, ist fraglich geworden, ob sie überhaupt noch ein Element des Protests enthalten.

Viele Proteste der 1950er Jahren waren politisch-ideologisch eindeutig entlang der Links-Rechts-Skala lokalisierbar. Konkrete Protestanliegen waren oft mit Systemfragen gekoppelt. Regierungskritischen Protestgruppen dieser Ära wurde — meist zu Unrecht — unterstellt, sie seien von Moskau oder Ostberlin gesteuert. Ideologische Abgrenzungen spielten eine wichtige Rolle. Allein die Präsentation kommunistischer Symbole im Kontext von Arbeits- oder Friedensprotesten konnte bereits zu handfesten Auseinandersetzungen führen. Dagegen besteht heute eine weitaus größere wechselseitige Toleranz zwischen Gruppen unterschiedlicher ideologischer Richtung, sofern es sich nicht gerade um politisch antagonistische Strömungen handelt.

Hinsichtlich ihrer sozialstrukturellen Zusammensetzung waren die jeweiligen Protestteilnehmer in den Nachkriegsjahrzehnten relativ homogen. Es protestierten je nach Thema Arbeiter, Bauern, Vertriebene, Studenten usw. Solche politisch und sozialstruk-

turell eindeutig klassifizierbaren Proteste sind nicht verschwunden, aber sie sind zugunsten von ideologisch und sozialstrukturell eher diffusen oder heterogenen Protesten in den Hintergrund gerückt. Entsprechend ist auch das Engagement in Protesten kaum mehr durch eine Zugehörigkeit zu einem soziokulturellen Milieu oder eine organisatorische Mitgliedschaft gewährleistet, sondern muss erst von Fall zu Fall durch aufwändige Überzeugungs- und Mobilisierungsanstrengungen „hergestellt” werden.

Weniger als in der Vergangenheit ist Protest unmittelbarer Ausdruck einer tiefen ideologischen Überzeugung Vielmehr erscheint er als ein disponibles und flexibel gehandhabttes Instrument, das prinzipiell allen Gruppen einschließlich der etablierten Verbände und Parteien zur Verfügung steht. Lediglich für einen kleinen Teil des politischen Spektrums, etwa die Autonomen und Antifas (antifaschistische Gruppen, die rechtsradikale Tendenzen bekämpfen), ist der Protest selbst ein konstitutives Merkmal kollektiver Identität. Mit der allseitigen Verfügbarkeit von Protest wird dieser auch immer weniger als „Waffe der Schwachen” (Scott 1985) wahrgenommen. Von Ausnahmen abgesehen, hat der Protest seine Dramatik und Außenalltäglichkeit verloren. Meist geht es nicht mehr um das Projekt von Gesellschaft, also die gesellschaftliche Ordnung schlechthin, sondern vielmehr um einzelne Projekte innerhalb der Gesellschaft (vgl. Rucht 1999). Protest gilt zunehmend als ein Mittel der Interessenvertretung unter anderen; sein Einsatz und seine Ausgestaltung scheint immer stärker taktischen Kalkülen und quasi-professionellen Regeln von Bewegungs- und Protestmanagern zu folgen, wobei dank der leichteren Verfügbarkeit technischer Kommunikationsmittel selbst kleine Gruppen eine hohe Sichtbarkeit erlangen können. Proteste werden nicht nur, wie in der Vergangenheit, in einem technischen Sinne organisiert, sondern regelrecht ausgehandelt und – vor allem mit Blick auf ihre Medienresonanz – inszeniert. Greenpeace hat es darin zur Meisterschaft gebracht, erlebt aber zugleich die Grenzen dieser Inszenierungskunst, die sich nicht ständig überbieten kann.

Die Ablösung des Protests von fest umrissenen Sozii-kulturellen Milieus ist lediglich Ausdruck einer umfassenderen Tendenz seiner Dekontextualisierung. In dem Maße wie Proteste als ein bloßes Werkzeug begriffen werden, können sie sich in ihren konkreten Formen und symbolischen Gestalten aus ihren ursprünglichen Entstehungs- und Sinnzusammenhängen lösen und „modular” verwendet werden. Nicht nur Gefängnisinsassen, sondern auch Parteiführer der PDS greifen zum Mittel des Hungerstreiks. Nicht nur Bürgerrechtler, sondern auch Abtreibungsgegner organisieren Sitzblockaden und singen „We shall overcome”, also das Lied der Gegenseite. Nicht nur Linksradikale, sondern – vereinzelt – auch Rechtsradikale tragen das T-Shirt mit dem Portrait von Che Guevara. Nicht nur Außenseitergruppen, sondern auch die nahezu komplette Bayerische Staatsregierung beteiligt sich am Straßenprotest, wenn es darum geht, ein Gerichtsurteil – in diesem Fall das so genannte „Kruzifix-Urteil” des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1995 – zu kritisieren. Schließlich beweist die Mode- und Werbebranche, in welchem Maße Protestsymbole verfügbar geworden sind: „Action! – protest, support and act” verkündet etwa die Bekleidungsfirma Diesel. Und der Autoverleiher Europcar wirbt in einer Presserklärung: „Im Vergleich zu Che Guevaras großen Taten können die Kunden […] mit der umfangreichen LKW-Flotte auch besonders große Gegenstände

bewegen.“ (zit. n. Meier 2003) Das Publikum reagiert zumeist schmunzelnd. Nur selten, etwa wenn die Grenzen des „guten Geschmacks” definitiv überschritten werden, wird die Kommerzialisierung vön Protest selbst zur Zielscheibe des Protests.

Der gelassenere Umgang mit Protest in der breiten Öffentlichkeit findet seine Entsprechung bei Polizei und Justiz. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Polizeibehörden den Veranstaltern rigide Auflagen erteilten, indem sie den Einsatz von Ordnern und das Zeigen von Laternen am Beginn und Ende des Demonstrationszuges einforderten oder, wie bei manchen Ostermärschen der frühen 1960er Jahre, lediglich Demonstrationszüge durch relativ unbelebte Viertel erlaubten. Ad acta gelegt sind auch interne Anweisungen nach dem Motto: „Je früher sich die Polizei einschaltet, um so besser hat sie die Masse in der Hand.” (zit. n. Weinhauer 2003) Während sich die Toleranz gegenüber regelverletzendem Protest vergrößert hat, ist die Toleranz gegenüber repressiven Maßnahmen der Polizei kleiner geworden. Der Tod eines jungen Demonstranten aus dem Umfeld der KPD in Essen im Jahr 1952 löste weitaus weniger heftige Reaktionen aus als der von Benno, Ohnesorg im Jahr 1967.

Der Ablauf größerer Proteste wird heute zwischen Polizei und Veranstaltern routiniert ausgehandelt; kleinere Regelverletzungen werden von den Ordnungskräften teil-weise stillschweigend geduldet, um folgenreiche Konfrontationen zu vermeiden; die Polizei begreift sich weniger als Bollwerk zum Schutze des Staates denn als Garant eines möglichst reibungsarmen Ablaufs von „Veranstaltungen” aller Art, zu denen eben auch Proteste zählen. Zuweilen erweist sich die Polizei sogar als engagierter Anwalt der Demonstrationsfreiheit. Ebenso gehen die Gerichte entspannter mit Protest um. Mehr als zuvor beziehen sie seine Motive und Begleitumstände ein, weniger als früher neigen sie zu einer extensiven Definition von Nötigung und Gewalt.

3. Fazit

Auf einen — sicherlich etwas groben — Nenner gebracht, kann man angesichts dieser Befunde und Eindrücke von einer Expansion, Professionalisierung und Trivialisierung des Protests sprechen. Diese Tendenz vollzog sich vor dem Hintergrund eines tief greifenden Wandels der politischen Kultur in der Bundesrepublik. Die Akzeptanz für Konflikt und Dissens ist gewachsen; das bürgerschaftliche Selbstverständnis hat sich verändert. Aus den einstigen Untertanen sind unbequeme, fordernde und intervenierende Bürger geworden, die selbstbewusst ihre Rechte und Interessen wahrnehmen. Soziale Bewegungen und Protestgruppen sind nicht nur Indikator dieses breiteren Trends bürgerschaftlicher Aktivierung; sie sind auch und vor allem deren Motor. Die Studentenbewegung, die sich angesichts von Anfeindungen der „bürgerlichen Presse” ironisch als „kleine radikale Minderheit” titulierte, war so gesehen eine wichtige Zwischenstufe auf dem Weg zu einer Gesellschaft, in der die Summe aktivistischer Minderheiten allmählich zum Signum der Mehrheitsgesellschaft wird. Im Rückblick der letzten fünfzig Jahre lässt sich behaupten, dass die bundesrepublikanische Gesellschaft auf ihrem steinigen Weg zu einer „Demokratie von unten” (Roth 1994; Koopmans 1995) ein Stück weit vorangekommen ist.

[1] Das Kürzel Prodat steht für „Dokumentation und Analyse von Protestereignissen in der Bundesre-publik Deutschland”. Das Projekt wird, nach zweijährigen Vorarbeiten, seit 1993 am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung durchgeführt. Zu Einzelheiten des Projekts und ausgewählten Befunden vgl. Recht 2001.

2 „Ereignistage” sind im Falle von Montagszeitungen der vorausgehende Samstag und Sonntag, bei den

Ausgaben von Dienstag bis Samstag der jeweils vorausgehende Tag. Montagsausgaben wurden aus

forschungsökonomischen Gründen stärker berücksichtigt, da sie sich auf zwei Ereignistage beziehen.

3 Ein detailliertes Bild des Geschehens von 1949 bis 1959 bietet Kraushaar 1996.

Literatur

Balistier, Thomas 1996: Straßenprotest. Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Münster

Burchardt, Susann 2001: Problemlagen, Unzufriedenheit und Mobilisierung. Proteststrukturen in Ost-und Westdeutschland 1990-1994, Marburg

Galtung, Johan/Ruge, Mari Holmboe: The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crises in Four Foreign Newspapers; in: Journal ofPeace Research 2 (1964), S. 64-91

Hocke, Peter 2002: Massenmedien und lokaler Protest. Eine empirische Fallstudie zur Medienselektivität in einer westdeutschen Bewegungshochburg, Opladen

Koopmans, Ruud 1995: Democracy from Below. New Social Movements and the Political tem in West Germany, Boulder

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Kraushaar, Wolfgang 2000: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg

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