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Vom Sinn und Widersinn des Geheim­hal­tens

vorgängevorgänge 7811/1985Seite 105-112

aus vorgänge Nr. 78 (Heft 6/1985), S. 105-112

Mancher Leser mag vermuten, nachfolgende Überlegungen seien durch die auffallende Serie von geflüchteten oder gefaßten Agenten beiderlei Geschlechts veranlaßt, die in diesen Monaten nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland die Aufmerksamkeit der Medien und Staatsbürger auf sich ziehen, weil begreiflicherweise in dieser Zeit der Wechselbäder von Entspannung/vertrauensbildenden Maßnahmen und explodierender globaler und orbitaler Superrüstungen die Wirksamkeit der »Maulwürfe« in West und Ost gesteigertes Interesse findet. Doch es ist nicht so: Mich bewegt vielmehr die Grundsatzfrage, ob in diesem Land, das durch die verschiedensten Geschichtsepochen für eine übertrieben gründliche, perfektionistisch gewissenhafte Mentalität berühmt und berüchtigt ist, im Alltag ein vernünftiges Maß von Geheimnisschutz praktiziert oder durch ein (neurotisches?) Übermaß von Geheimniskrämerei tragisch Abwehrhaltungen erzeugt werden, die das Gegenteil des legitim Bezweckten bewirken.

Zur Veranschaulichung meines Motivs stelle ich zwei Erfahrungen voran, die ich 1962 und 1983 machte. Damals war ich in Münster praktisch schutzlos brutaler Verfolgung durch nazistische Staatsanwälte ausgeliefert, die mich verleumdeten, gemeingefährlich geisteskrank zu sein, und meine lebenslange Zwangsunterbringung in einem Irrenhaus gemeinsam mit dem korrupten Oberbürgermeister hartnäckig betrieben. Ihnen mißfiel sehr, daß ich den sehr dubiosen Gewalttod eines prominenten Rechtsanwalts aufklären helfen wollte, der der Juniorpartner in der Sozietät des OB war und als hochwahrscheinliches Opfer eines Mordes zynisch als »ein sonnenklarer Fall von Freitod« hingestellt worden ist – quasi mafiawürdig. Meine Aktivitäten im Stillen und Gewohnten wurden lächerlich gemacht und abgeblockt, aber noch hingenommen. Erst als ich durch die Verteilung von Flugblättern Öffentlichkeit herstellte (»die öffentliche Sicherheit, Ruhe und Ordnung störte«!), schlug der Staatsapparat gnadenlos zu.

Ein sog. Gerichtspsychiater, dem die Medizinische Fakultät der Universität als einer »üblen Zeiterscheinung« die Umhabilitation als DDR-Flüchtling verweigert hatte, erschien mit dein Ansinnen vor meiner Wohnung, ihn doch am besten gleich in meinem wohlverstandenen Interesse in das Landeskrankenhaus zu begleiten. Ich wollte seinen Auftrag sehen. »Ganz unmöglich! Das ist streng geheim!!« , war seine sofortige Entgegnung. So forderte ich ihn zum unverzüglichen Verlassen des Treppenhauses auf. Er ging und fertigte aus der hohlen Hand zwei sog. Aktengutachten über mich, die von Unwahrheiten strotzten, aber meine sofort notwendige unbegrenzte Zwangsunterbringung behaupteten. Deren Beschaffung durch einen Verteidiger war schwer, ihre Widerlegung durch vier Fachleute der Psychiatrie von Rang angesichts der vorherrschenden Neigung, »Privatgutachten« grundsätzlich nicht auszustellen, um sich nicht selber das Wasser als gerichtliche Sachverständiger abzugraben, zeitfressend mühselig, schließlich jedoch erfolgreich. Aber wieder schlug justiziell die Borniertheit die Vernunft aus dem Rennen: Anerkennung wurde den Expertisen mit dem »Argument« versagt, die Autoren kannten ja die Akten nicht! Der Antrag, sie ihnen dann doch zur Überprüfung ihrer Erkenntnisse zuzuleiten, verfiel wiederum der Ablehnung. So kann die Staatsmacht durch vorsätzliche Transparenzverweigerung ihren Mitbürgern das Leben über lange Zeit zur Hölle machen.

Die zweite Erfahrung betrifft Heinrich Böll. Mit ihm wurde ich über einen Freund im Dezember 1962 bekannt, als ich mich vor der drohenden, durch Beschwerden nicht abwendbaren Einschleppgefahr ins Irrenhaus auf den guten Rat meines Verteidigers verbarg. Böll bewies dem doch praktisch Fremden gegenüber nicht nur die Größe, mir sein Ferienhaus in Irland auf unbegrenzte Zeit als Asyl zur Verfügung zu stellen; er stattete mich sogar noch mit 350 DM Bargeld aus für die Fahrt dorthin. Meine Dankbarkeit dafür überdauert seinen frühen Tod.

Seit 1979 bemühe ich mich um die Befreiung eines unschuldig »wegen Mordes pp.« zu lebenslanger Gefängnisstrafe verurteilten Hilfsarbeiters, dessen Schwiegersohn den Raubüberfall vor seiner Frau und deren Mutter zweifach – zehn und elf Monate nach der erstinstanzlichen Verurteilung durch das Schwurgericht – gestanden hat, nachdem Bieralkohol seine Zunge löste. Wie etliche andere, so bat ich auch Herrn Böll um seine Intervention bei der Justizbehörde, nachdem sich mein Eindruck gefestigt hatte, daß diese inzwischen sehr wohl selber das Fehlerhafte der Verurteilung erkannt hatte, aus niedrigen Prestigeüberlegungen unter Ausnutzung alter Gesetzesbestimmungen jedoch die nötige Korrektur stur ablehnte. Dazu übergab ich ihm eine komprimierte Darstellung des Sachverhalts. Als ich auch nach Monaten nichts wieder von der Sache hörte, fragte ich an, was denn aus der Fürsprache geworden sei, und ob ich jetzt wohl eine Abschrift der Eingabe für meine Handakten bekommen könne. Das lehnte Bölls Sekretärin in seinem Namen mit der Begründung ab, »die Korrespondenz von Herrn Böll ist privat, und ich bin nicht befugt, davon Kopien zu machen. Bitte verstehen Sie, daß ich Ihnen die private Korrespondenz von Herrn Böll nicht in Ablichtungen zugänglich machen kann.« (19.8.83)

Geheim ist, wie das Grimmsche Wörterbuch, Sp. 2351 sagt, das Adjektiv zu Heim wie heimlich, mit dem es an sich zusammenfällt, seine jüngere Schwesterbildung seit der neuhochdeutschen Zeit, während heimlich schon im Althochdeutschen bezeugt sei. Auf 20 Spalten werden dort dann die verschiedenen Wortbedeutungen und Belege dafür von Geheimelei für Mystizismus bis Geheimzimmer (des Königs Kabinett, aber auch das nur der Freundin zugängliche Boudoir höhergestellter Damen) zusammengestellt. Sie verraten schon quantitativ, wie tief und ausgedehnt dies Wort mit seinen Zusammensetzungen in fast alle menschlichen Bezüge hineinreicht, einigermaßen rätselhaft für uns aufgeklärte Zeitgenossen, ja Bildschirmvoyeure, denen praktisch keine Intimität verborgen und verschlossen bleibt.

Ich kann hier nicht einmal die sieben Grundbedeutungen von geheim referieren. Es muß genügen, daß geheim –  heimlich, vertraut, familiär, ja behaglich in seiner eigentlichen Bedeutung »unmittelbaren Anschluß an Heim gewann« und »hier und da auch wirklich volksmäßig wurde«: daheim ist es geheim! In diesem Sinne läßt das heute zur gedankenlosen Steigerung für »sehr« verkommene »unheimlich« genau den Gegensatz zum Gemeinten auch im emotionalen Umfeld aufklingen und erkennen.

So war das geheime Haustier das heimisch gewordene zahme, domestizierte Tier im Unterschied zum wilden der freien Wildbahn, die (Brief)Tauben nicht weniger als Hühner, Gänse, Kälber und Schweine.

Freilich schwingt auch hier schon mit, was später im Bedeutungskern nach vorne rückte: Geheim ist das Geheimnisvolle, das nicht voll benannt, erklärt, begriffen werden kann, das – ob gegenüber Gott, dem Monarchen, dem Geliebten, dem Vorgesetzten, dem Offizier, dem Feind, der Öffentlichkeit, der Presse usw. – verborgen und geschützt werden muß, bis hin zu solchen Zweckgeheimnissen im Finanz-, Steuer-, Bank-, Kredit-, Börsen-, Immobilien- und Spekulationswesen. »Unbefugte« sollen nicht wissen, was ich weiß, was meine Gruppe, Partei, mein Stand, mein Forscher- und Entwicklungsteam, mein Volk, meine Armee, meine Religionsgemeinschaft weiß bis hin zur Arkandiszipiin: Wissen ist Macht, das Herrschaftswissen zumal und leichter regiert’s sich mit künstlich dumm gehaltenen und dann unvermeidlich abhängigen »Laien« als mit wachen, wissbegierigen, emanzipierten und nach Teilhabe an sozialer Verantwortung strebenden mündigen Staatsbürgern.

Ein Standardwerk der Wortfeldforschung (Wehrle-Eggers, Deutscher Wortschatz, Stuttgart 1961) ordnet die von »geheim« abgeleiteten Wörter nicht weniger als 26 Wortgruppen zu, die hier nur einmal aufgeführt seien, um darzutun, wie sehr sich dieser soziale Kernbegriff in die disparatesten Felder des Denkens, Sprechens und Ordnens verzweigt: Ausschluß – Aufenthaltsort – Behältnis/Verwahrraum – Unwissenheit – Vorausschau – Unverständlichkeit – Mehrdeutigkeit – Offenheit – Verborgenheit – Geheimhaltung – Offenlegung – Schlupfwinkel – Geheimnis – Bote – Täuschung – Schrift – Wahlfreiheit – Heilmittel – Sicherheit – Flucht – Ratschlag – Zweckverband – Seelenqual – Unehre – Überhebung und Geheimlehre.

Gibt es doch neben den Geheimdiensten, Geheimagenten und Geheimbünden z.B. die Geheimdiplomatie, das Geheimfach und -gemach, den Geheimfonds, die Geheimklausel, die Geheimlehre, das Geheimmittel, die Geheimpolizei, den Geheimrat, Geheimkurier, Geheimschreiber, Geheimschlüssel, Geheimsprache, Geheimsender, Geheimtür, Geheimtinte, Geheimsinn, Geheimvertrag und Geheimwissenschaft!

Was an der Geheimdiplomatie geheim sei, fragt Ludwig Marcuse (Argumente und Rezepte, München 1967) spöttisch und antwortet: »Der Tag und die Stunde, wann sie sich trafen, und die Farbe der Krawatte des Unterhändlers«. Aber ist die normale Diplomatie überzeugender? »Man sieht, wie die Partner ins Konferenzzimmer gehen und wieder aus ihm herauskommen, ja man erfährt das Ergebnis: beide sind friedliebend!« – so Marcuse.

Andererseits: welcher politische Fortschritt ist es doch, daß wir geheim wählen dürfen, ohne daß uns einer in der Anonymität der Wahlkabine über die Schulter schauen und registrieren darf, welcher politischen Versprechung ins Unberechenbare wir an einem bestimmten Datum unsere Stimme(n) anvertraut haben, allen geschichtlichen Täu-schungen und Enttäuschungen zum Trotz stets neu hoffend, sie könnten sich ja doch einmal erfüllen?

Hat die Geheimtinte noch heute Wert und Berechtigung, oder ist sie im Zeitalter von Codes und Chips nur noch ein belächelnswerter Anachronismus?

Solche Fragen können darauf hindeuten, daß dem Geheimgebrauch etwas sehr Zwiespältiges, Ambivalentes anhaftet, das eine eindeutige Bewertung prinzipiell unmöglich macht. Es gibt in unserer Welt unbefugte, auf Ausnutzen, Übervorteilen, Ausbeuten, Betrügen und Schädigen angelegte Neugier und darum staatlich anscheinend notwendi-gerweise betriebene Ausspähung und Spionageabwehr, im Privaten wie Geschäftlichen Diskretion und Ausschluß der Öffentlichkeit, sogar vor Gericht, wenn öffentliches Verhandeln die Wahrheitsfindung grob erschwerte oder schützenswerte Sozialgüter (Sittlichkeit, Jugendschutz usw.) gefährdete. Eigensucht und Lüge haben zunächst immer für den gewissenlosen Anwender gegenüber edler altruistischer und wahrhaftiger Verhaltensweise Start- und Positionsvorteile. So befreiend und gewinnend, aufschließend und zum Guten ansteckend Offenheit und Vertrauensvorschuß sein können, so verheerende Schäden kann eine arglose, naive und unangebrachte gutgläubige, gutmütige Grundhaltung für den Betroffenen und die ihm Anvertrauten bewirken, mitunter erst provozieren, wenn dem Handelnden die Unterscheidungsgabe und Menschenkenntnis fehlen, die für ein sachgerecht differenzierendes Reagieren ohne »Überfahrenwerden« unerläßlich ist.

Sehen wir näher zu, ob die einschlägig wichtigsten Nachbarwörter uns vielleicht Leitlinien bei der Suche nach einem Kriterium sein können, das uns besser ausrüstet zu entscheiden, wie weit wir die Geheimhaltung treiben sollten, ohne der verachteten und verächtlichen Geheimniskrämerei zu verfallen.

Diese findet sich in der Nachbarschaft von »Hintertür(chen), Hinterhältigkeit, Heimlichtuerei, Okkultismus, Versteckspiel, Augurenlächeln, Einflüsterung, Rotwelsch – anonym, verstohlen, verkappt, verschleiert, getarnt, hinten herum, erschlichen«, um nur die Haupt- und Eigenschaftswörter zu nennen, denen sich noch etliche verbale Umschreibungen anfügen ließen. Von einer Geheimnissucht wußten unsere Vorfahren sogar, auch von der Proportion, daß sie mit der Kleinheit einer Gemeinde wächst, wohl ähnlich dem Klatsch- und Tratschbedürfnis, das in den Groß- und Weltstädten der vereinzelnden Anonymität und dem Desinteresse am Nachbarn, vor allem denen in den Hochhäusern und wabenförmigen Wohnmaschinen zum Opfer fällt. Beim Geheimniskrämer dürfte in der Regel hinzukommen, daß er sein Wichtigtuertum zum Kompensieren seiner Minderwertigkeitsempfindungen braucht – als Person und erst recht als Funktionär oder Amtsträger, der über daseinsgestaltende Machtchancen verfügen und diese willkommen ausweiten kann, wenn er sein Tun und Unterlassen gegenüber dem Gesuch- oder Antrag- oder Bittsteller zusätzlich mit dem Mantel des Geheimnisträchtigen umhüllen kann.

Der rumänische Philosoph Emile M. Cioran sagte treffend, Geheimnis sei »ein Wort, das wir benützen, um andere zu täuschen, um sie glauben zu machen, wir seien tiefer als sie«. Seine Landsmännin Carmen Sylva — hinter diesem Pseudonym verbirgt sich die Königin Elisabeth von Rumänien (1843-1916) — hat die Bumerangwirkung des (verkrampften) Geheimhaltenwollens gegen alle Vernunft treffend in den Aphorismus eingefangen: »Ein Geheimnis ist wie ein Loch im Gewande: je mehr man es zu verbergen sucht, desto mehr zeigt man es!«

Aber auch unser deutscher Volksmund schätzt die Möglichkeit, etwas auf Dauer geheimhalten zu können, eher skeptisch gering ein: »Ist es noch so fein gesponnen, kommt es doch ans Licht der Sonnen.« Ich nehme an, daß sich in dieser Redensart nicht nur die Erfahrung niedergeschlagen hat, daß gerade das »unter dem Siegel der Verschwiegenheit« – Männern wie Frauen! – Anvertraute besonders zuverlässig weitererzählt und so schnell offenbar wird. Das Volk scheint vielmehr zu ahnen, daß der Gesellschaft wie der Natur eine Tendenz zum Reifen, Aufgehen, Durchbrechen und Offenbarwerden innewohnt. Dahinter kann die Überlegung stehen, die ja in sich erfahrungsgesättigt ist, daß im Normalfall das Licht nicht zu scheuen braucht, wer das Rechte tun will, daß vielmehr Diebe, Räuber und Einbrecher die Dunkelheit vorziehen, und die Betrüger, Veruntreuer, Erpresser usw. zumindest das Dämmerige und Anonyme unklarer Situationen, die Löcher in den Maschen, durch die sie schlüpfen können.
Zudem weiß jeder aus eigener Erfahrung, daß es nicht angenehm ist, Träger eines Geheimnisses sein zu müssen, das strikt bewahrt werden soll. Nur Abgebrühte macht das nicht befangen und verlegen: Sie können gleichwohl dreist anderen in die Augen sehen und sich verstellen, heucheln und charmant-gewinnend sein, damit das wehrlose Opfer vielleicht ausholen und geschickt ausfragen, ehe es gemerkt hat, wem es da auf den Leim gegangen ist.
Doch braucht man ja gar nicht an die zwielichtige Spionenszene zu denken: Wohl alle Institutionen im weltlichen wie kirchlichen Bereich verpflichten ihre »Beamten« oder sonstigen Mitarbeiter zum strengen Stillschweigen, selbst über die Zurruhe-Setzung hinaus, über alles, was ihnen »dienstlich« zur Kenntnis gekommen ist, und die Zahl der Anweisungen und Druckschriften »Nur für den Dienstgebrauch!«, also weit unterhalb von Verschlußsachen, geheimen und streng geheimen Anordnungen, Plänen, Erlassen usw. ist Legion. Die Finanzbürokratie treibt es z.B. sogar so weit, ihre unangenehme höchstrichterliche Entscheidungen der Finanzgerichtsbarkeit nicht zu veröffentlichen, den Steuerpflichtigen also vorsätzlich vorzuenthalten, damit er sich in gleichgelagerten Fällen nicht auf sie berufen kann! Wie das mit dem Rechtsstaatsprinzip verträglich sein kann, ist mir unerfindlich.
Niemand wird dem das Wort reden, daß im öffentlichen Dienst männliche und weibliche Plaudertaschen bedenkenfrei all das weitererzählen dürften, was ihnen bei ihren dienstlichen Verrichtungen zur Kenntnis gelangt ist und andere Mitmenschen beim besten Willen nichts angeht. Was einer für Krankheiten, Notfälle, wirtschaftliche Tiefschläge erleidet und etwa den Krankenkassen, Krankenhäusern, Ärzten, Banken, Sozialämtern anvertrauen muß, um Abhilfe und Förderung erlangen zu können, ist aus der Natur der Sache unter dem verfassungsrechtlich garantierten Schutz seiner unantastbaren Personenwürde vertraulich und verschwiegen zu behandeln, muß einem quasi Beichtgeheimnisschutz unterliegen.
Wie fatal aber eine absolute Verschwiegenheitsvergatterung werden kann, zeigt sich bei öffentlichen Korruptionsfällen. Da können jahrelang Großkonzerne Parteien und Politiker mit Millionensummen raffiniert schmieren und steuerlich durch unwahr hoch ausgestellte Spendenbescheinigungen noch gewinnen. Wenn ein couragierter Finanzbeamter mehr durch Zufall darauf stößt und das nach dem Gleichbehandlungsgebot Gebotene veranlassen will, riskiert er den Unwillen seiner Vorgesetzen, eine verhüllte Strafversetzung oder extrem sogar seine Entlassung! Schon die Ankündigung, einen Mißstand notfalls den Massenmedien mitzuteilen, kann existenzvernichtende disziplinarrechtliche Folgen zeitigen oder gar Strafsanktionen wegen »Nötigung« auslösen. Fast durchgängig werden Insider, die verdreckte Nester säubern und dem Gemeinwohl dienen wollen, als »Nestbeschmutzer« diskreditiert, wenn nicht gar verleumdet, in der Ärzte-und Zahnärzteschaft nicht anders als bei Architekten, Apothekern, Polizisten (die sich über hundertfach als Autobahnräuber großflächig und jahrelang betätigen konnten, ehe sie angeklagt wurden!) und Industriefirmen.

Es ist eine Schraube ohne Ende: Für stabile Währungen kann heute offenbar kein Staat der Erde, keine Notenbank mehr sorgen. Der Kaufkraftverfall löst den Gegendruck aus, die Wertverluste durch durchgesetze Lohn- und Gehaltserhöhungen mindestens auszugleichen, möglichst zu antizipieren. Das reizt unvermeidlich die allgemeine Begehrlichkeit an, nicht nur das Profitstreben der Unternehmungen, sondern auch die chronische Habgier (haben wird wichtiger als sein!) der kleinen Verbraucher schon. Das Geld und seine Anonymität, die auch allen illegalen Erwerb bis hin zum Bankraub verhüllt, läßt durchgängig alle Lebensbereiche vom Sport bis zur Politik, von der Kommunikation bis zu den Kirchen (ob Vatikan oder Baghwan) als Brutalmaßstab verderben, seit es sich vom Tauscherleichterungsmittel zum »Brecheisen der Macht« (F. Nietzsche), zum »wichtigsten Ding der Welt« (G.B. Shaw), zum »Objekt der Anbetung, das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins« (Karl Marx) entwickelt hat. Der enge Zusammenhang zwischen anonym vagabundierendem, spekulationsgeilem Kapitalgeld (vgl. Eurodollars) und dem neurotischen Bedürfnis, die Geheimhaltungs-manie der Machtinstitutionen uferlos auszudehnen, ist zwar kaum erkannt, m.E. aber – sieht man nur tief genug – nicht bezweifelbar. Denn Macht- und Raffgier zerstören natürlich Vertrauen und Bereitschaft zum brüderlichen oder solidarischen Zusammenleben mit den Mitmenschen; so muß die engmachende Angst wachsen, die dazu verleitet, wenn auch garantiert vergeblich, mit exzessiver Heimlichtuerei mehr Sicherheit und Überlegenheit im Konkurrenzdschungel zu ergattern.
Die Eiertänze um den Datenschutz, die unwahrhaftigen Beteuerungen von Politikern, man werde Parteien und Volksvertreter mit gläsernen Taschen schaffen, signalisieren m.E. am deutlichsten die Unmöglichkeit, in Fortführung der seitherigen Entwicklung das sozial bekömmliche Maß von sachlich gebotener Diskretion für die persönlich schützenswerte Personsphäre je auch nur entfernt erreichen zu können. Wenn jüngst ein ausgebuffter Medienmakler wie der Münchner Hans-Rudolf Beierlein als sein Geschäftsprinzip zynisch verkündet: »Ich will Kohle machen! Wer am meisten zahlt, der ist mein Freund!«, dann macht solch ein menschenverachtendes, antisoziales Eingeständnis seinen Äußerer nicht etwa in der sozialen Wertschätzung unmöglich, sondern zusätzlich »interessant« und zum Gegenstand sensationeller Agenturmeldungen und Reportagen in den Printmedien. Ich finde, hier handelt es sich nicht mehr allein um eine Frage ethischer Entrüstung.
Was hat der moderne »Rechtsstaat« seit Franz Kafka hinzugelernt?
Noch immer können vornehmlich Juristen, besonders in den Staatsanwaltschaften und Gerichten aller Instanzen, mit dem Versenden und Verschieben von Akten eine infame Politik zum Nachteil Beschuldigter treiben. Er selbst darf nach obsoleten Paragraphen und Verordnungen in sie direkt keinen Einblick nehmen, nur über Rechtsanwälte, die dies Privileg oft schamlos mißbrauchen, nicht nur geldlich, sondern auch prozeßstrategisch bis hin zum Verrat. Klagt man das einer Rechtsanwaltskammer, bekommt man wiederum keine Kenntnis von den Rechtfertigungsversuchen des Übeltäters und mitunter nicht einmal vom Resultat des Beschwerdeverfahrens, wenn es nicht sogar mit dem Stereotyp beendet wird, man sehe zu »standesrechtlichen Maßnahmen keine Veranlassung«.
Zeigt man als kostenbewußter Steuerpflichtiger dem Rechnungshof des Bundes oder Landes die Vergeudung großer Steuersummen an und bittet um die Mitteilung des dadurch Veranlaßten, kommt – wie am 30.7.85 aus Düsseldorf – das Bedauern, »Mitteilungen über evtl. Maßnahmen der Rechnungsprüfung und deren Ergebnisse nur den nach dem Gesetz hierfür vorgesehenen Stellen« zusenden zu dürfen! Wer glaubt, daß dann doch wenigstens die Petitionsausschüsse von Bund und Ländern oder der Mainzer ‚ Ombudsmann, hierwegen angerufen, für Klärung und Reform sorgten, ist nichts denn ein hoffnungsloser Narr.

Was folgt aus all dem Mitgeteilten?

Klagen hilft und ändert nichts. Es fehlt erschreckend an sozial wachem Verantwortungsgefühl, an Bürgermut und zäher Ausdauer im Verfolgen für richtig und wichtig erkannter Ziele zum Nutzen der Gesamtgesellschaft. Bei den Politikern, die mehr und
mehr geneigt sind, sich eigensüchtig selber zu bevorteilen und das Stimmvieh Wahlvolk weiterhin unwissend und dumm zu halten, ist der Gemeinnutz erbärmlich schlecht aufgehoben und nirgends in guten Händen. Die meisten Zeitgenossen sind träge, sich der Mühe und den drohenden Unannehmlichkeiten auszusetzen, die Besserungsanstöße in der Regel im Gefolge haben. Die Minderheit, die nicht dazu zählt, verliert bei mehreren Mißerfolgen schnell den Mut und resigniert, wird »klug« und dreht bei, um sich nur ja nicht dem Geruch des Lächerlichen oder Absonderlichen auszuliefern. Wie es angesichts dieser schlimmen Lage bei der Jugend und den mittleren Jahrgängen, denen noch vitale Dynamik zuzutrauen ist, zu einer Bewußtseinsänderung und aktiven Motivierung kommen könnte, vermag ich nicht zu übersehen. Das Beispiel einzelner Unentwegter hat mit Sicherheit keine ausreichende soziale Ansteckungskraft. Mit der Gefahr soll nach einem Hölderlinwort das Rettende auch wachsen; besser ist, man verläßt sich auf diese hehre Verheißung nicht: »Ich habe in meiner Freizeit Besseres zu tun!« Wirklich Besseres?

So viel Offenlegung wie nur irgend möglich, so viel Geheimhaltung wie nach der dem Menschen von Natur eigenen Personenwürde nötig – das ist ein richtiger Grundsatz, aber ein unbefriedigend formaler! Wie läßt er sich material füllen?
Die Demokratie lebt von der Zuversicht, daß die Mehrheit eines Volkes – wie in der Gaußschen Verteilungskurve – richtig sieht, was gut, richtig und ihr bekömmlich ist, während die Minderheiten links und rechts davon (geometrisch, nicht politisch gemeint) nach geschichtlicher Erfahrung der Zeit voraus oder hinterher sind, jedenfalls nicht »auf der Höhe der Zeit« . Jedoch ist nach einem Kierkegaardwort »schnell Witwer, wer sich mit dem Zeitgeist verheiratet«: Auf die rechte Mischung von Bewahren des Bewährten und rechtzeitigem Abstoßen des Überlebten, Ahnen des Zukunftsträchtigen kommt es an. Ohne Informiertsein sind keine tragfähigen Entschlüsse, Entscheidungen und Beschlüsse bis hin zu Gesetzen möglich. Das impliziert, daß die Regierenden den Regierten so umfassend wie möglich ihr Sachwissen mitteilen müssen, es nicht ängstlich für sich behalten wollen dürfen. Denn so verlieren sie den Lebenskontakt zu der »Basis«, und das hat sich geschichtlich noch immer rasch als politisch tödlich erwiesen. Weil aber die Regierenden niemals automatisch eine Positivelite der Regierten sind, sondern häufig charakterlich und rhetorisch das reine Gegenteil, können sie nicht besser sein als die Menge, die sie wählt. Der geheimen Wahl wohnt paradox die, Verpflichtung inne, auf der Offenlegung der wahren Absichten der Kandidaten zu bestehen und sich von ihnen nicht mit süffigen Fangslogans abspeisen zu lassen. Wahlversammlungen in verräucherten Kneipenhinterzimmern sind kein zureichender Ort der Prüfung. Das Geheimhaltungs-problem löst sich im selben Maß, als die Entschlossenheit mündiger Bürger wächst, an ihrem Geschick verantwortungsbewußt und haftungsbereit beteiligt zu werden.

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