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Plädoyer für die Abschaffung der Kindertaufe

vorgängevorgänge 11/196801/1970Seite 385-389

Kritische Anmerkungen eines Atheisten zur massenweisen Zwangschristianisierung. Vorgänge 11/1968, S. 385-389

Jahr für Jahr werden in der Bundesrepubik etwa eine Million Säuglinge getauft. Jahr für Jahr beanspruchen fast alle Eltern für ihre Neugeborenen die kirchliche Weihetätigkeit. Dies ist ein erstaunlicher Tatbestand, wenn man gleichzeitig bedenkt, daß dieselben Eltern sich in der Regel sonst nur wenig am kirchlichen Leben beteiligen und oft nicht einmal mehr das Vaterunser auswendig wissen.
Gegen diesen blinden Automatismus des Kindertaufrituals, der den Kirchen die Massenbasis und damit eine scheindemokratische Legitimation ihrer Privilegien einbringt, ist in den letzten Monaten mehrfach protestiert worden. Eine Reihe jüngerer evangelischer Pfarrer ‚im Rheinland und in Westfalen weigert sich standhaft, ihre eigenen Kinder zur kirchlichen „Schluckimpfung“ zu geben, wie der Baseler Theologe Karl Barth die Kindertaufe anprangerte.
Damit, daß sie ihre eigenen Sprößlinge ungetauft heranwachsen lassen, wollen die protestantischen Pfarrer provokativ auf die volkskirchlichen Mißbräuche der Kindertaufe hinweisen und für die Möglichkeit des Taufaufschubs und die Freigabe der Erwachsenentaufe ein persönliches Beispiel geben.
Allerdings heißt das nicht, daß diese Pfarrer grundsätzlich die Kindertaufe ablehnen. Obwohl sie die Fragwürdigkeit der herrschenden Praxis spüren und vor allem die Farce des Taufgelöbnisses durchschauen – völlig entkirchlichte Eltern und Paten müssen eine christliche Erziehung des Täuflings „in Zucht und Vermahnung zum Herrn“ versprechen, träufeln sie dennoch allen Kindern, die ihnen von Gemeindemitgliedern gebracht werden, eifrig Taufwasser aufs Köpfchen.

Natürlich stehen diese Pfarrer mit ihrer Konzeption nicht alleine, sondern können sich auf bedeutende zeitgenössische Theologen berufen. So griff der schon erwähnte Karl Barth bereits 1943 in seinem Vortrag „Die kirchliche Lehre von der Taufe“ die Kindertaufpraxis scharf an und hat sich seit-her in mehreren Veröffentlichungen für die Erwachsenentaufe ausgesprochen. Gerne berufen sich die Pfarrer auch auf Dietrich Bonhoeffer, der ebenfalls für die Freigabe der Erwachsenentaufe argumentiert hat.
Überhaupt gilt es sich zu vergegenwärtigen, daß die Kindertaufe trotz ihrer jahrtausendealten Tradition keineswegs völlig unangefochten im Christentum herrschte, ja nicht einmal von Anfang an bestand. Bis um 400 etwa überwog in der alten Kirche die Erwachsenentaufe, die bis in die zweite Hälfte des zweiten Jahrhunderts nahezu ausschließlich geübt wurde.

Das Neue Testament kennt die Säuglings- und Kindertaufe nicht, wie die umfangreiche Kontroverse zwischen den Professoren Joachim Jeremias, Oscar Cullmann und Ethelbert Stauffer einerseits und Kurt Aland andererseits ergeben hat. Wie Aland zuletzt in seiner Schrift „Die Stellung der Kinder in den frühen christlichen Gemeinden und ihre Taufe” (München‘ 1967) gezeigt hat, galt der Säugling christlicher Eltern auch ohne Taufe als heilig und rein (1. Korinther 7, 14). Erst im Laufe der Zeit, als sich die Erbsündenlehre durchsetzte, wurden auch die kleinen Kinder als taufbedürftig angesehen. Noch Tertullian polemisierte in seiner Schrift „De baptismo“ gegen die Säuglingstaufe mit dem Hinweis, daß die „innocens aetas”, das unschuldige Alter, sie nicht nötig habe. Erst in der Pubertät, wenn die Sündlosigkeit verloren gehe, müsse das Kind – nach einer ausreichenden Unterweisung – getauft werden.

Mit der augustinischen Lehre von der Erbsünde, derzufolge die Seele durch Zeugung und Geburt befleckt sei, setzte sich unaufhaltsam die Säuglingstaufe durch. Gleichwohl gab es während des gesamten Mittelalters immer wieder christliche Gruppen, die entweder die Wassertaufe schlechthin verwarfen und sie von der Geisttaufe (durch Handauflegen) unterschieden oder wenigstens die Kindertaufe ablehnten. Dazu zählten die Paulizianer, die Bogumilen, die Katharer oder Albigenser, die Waldenser sowie die Böhmischen Brüder.

Im Zeitalter der Reformation endlich wurde die Ablehnung der Kindertaufe zum Inbegriff einer ganzen Gruppe, der Baptisten. Von ihren Gegnern, den Katholiken, den Reformatoren und ihren Anhängern, wurden sie Wiedertäufer (Anabaptisten) genannt, weil sie die Kindertaufe für ungültig erachteten und die Menschen deshalb „wieder“ tauften. Ihre spiritualistischen Gedankengänge fanden Eingang bei den Sozinianern, Arminianern und Quäkern.
Im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert erhoben einzelne Theologen und Persönlichkeiten erneut ihre Bedenken gegen die Kindertaufe. Goethe entschuldigte sich am 13.7.1796 schriftlich bei Schiller, daß er nicht zur Taufe seines Kindes gekommen sei, weil „ihn diese Zeremonien gar zu sehr verstimmten“ (zitiert nach Nestle, „Die Krisis des Christentums“ 1947, Seite 329). Die Theologen, die aus verschiedenen Gründen die Kindertaufe angriffen, seien bloß dem Namen nach genannt: Schleiermacher, Kierkegaard, Martin Kähler.
Wie dieser kurze historische Rückblick zeigt, ist also das Unbehagen an der Kindertaufe nicht neu. Und dennoch werden die Säuglinge getauft wie eh und je und dem corpus ecclesiae einverleibt. Woher rührt das?

Das liegt ohne Zweifel zunächst daran, daß durchschlagende Argumente gegen die Kindertaufe offenbar bisher nicht vorgebracht werden konnten. Meist ging die Kritik von ähnlich irrationalen, nämlich religiösen Voraussetzungen aus wie die Tauftheologie selber. Dann stritt und streitet man beispielsweise über die Frage der Erbsünde, über den Gnadenbegriff, über den Sakramentscharakter der Taufe, über die Verbindlichkeit der reformatorischen Bekenntnisse heute. Ohne daß ich einzelne weiterführende Elemente in dieser Kritik leugnen will, bleibt sie dennoch – weil innertheologisch – den Prämissen verhaftet, die mit einer gewissen Stringenz nun eben zur Kindertaufe führten.
Die wirklich brisante Kritik kann nur von außerhalb der Theologie kommen. Sie begreift die Kindertaufe grundlegend als Politikum und deckt sie als christliches Bestandstück, als „spirituellen point d’honneur“, wie Karl Marx sagte, einer repressiven Erziehung und Sozialisation auf. Die Schlüsselkategorie dieser Kritik ist die Religionsfreiheit des Kindes, wobei dieses Recht des Kindes unter juristischem, soziologischem und pädagogischem Aspekt aufzufächern ist.

Die Kindertaufe verstößt gegen das Grundrecht des Kindes auf Religionsfreiheit und ist damit in der Bundesrepublik Deutschland verfassungswidrig. Inwiefern? Artikel 4 Abs. 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Art. 136 Abs. 4 der Weimarer Reichsverfassung, der dem Grundgesetz durch Art. 140 vollgültig inkorporiert ist, spezifiziert die Religionsfreiheit aufschlußreich folgendermaßen: „Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.“

Was aber geschieht mit der Kindertaufe? Ein Mensch, ein unmündiger Säugling – aber was besagt das? Die Menschenrechte stehen jedem Menschen unabhängig vom Alter zu – ein Mensch, der sich nicht wehren kann, wird ungefragt zu einer kirchlichen Handlung gezwungen. Schlimmer: er wird zum willenlosen Objekt eines kultischen Aktes anderer degradiert.

So belanglos der äußere Vorgang sein mag – auf Verlangen der christlichen Eltern sprengt ein Religionsfunktionär unter religiösen Formeln handwarmes Wasser auf den Kopf eines Babys -: entscheidend ist der juristische Tatbestand, der damit geschaffen wird. Vor dieser Zeremonie war der Säugling ein „Heidenkind“. Nach der Zeremonie erhält er einen Taufschein und ist Christ, Mitglied einer Kirche mit allen Rechtsfolgen. Das Ungeheuerliche dieses Vorgangs mag man sich daran verdeutlichen, daß selbst der autoritärste NPD-Vater seinem Kind nicht sofort nach dessen Geburt ein Mitgliedsbuch der Partei anlegt, was rechtlich auch kaum möglich sein dürfte.

Nicht genug damit. Eine Partei umfaßt in ihren Statuten immerhin auch Austrittsmöglichkeiten. Aber nach der Kindertauf-Ideologie soll der Mensch zeitlebens und in alle Ewigkeit der Kirche verhaftet bleiben. Denn die Taufe verleiht einen character indelebilis, ein unauslöschliches Siegel. „Gott sagt zu dem Kind ein für allemal: Du bist mein. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“ Irreversibel und unverlierbar ist daher der einmal getaufte Mensch an das corpus Christi gebunden.

Nach katholischer Theologie und nach katholischem Kirchenrecht ist deshalb ein Kirchenaustritt unmöglich. Apostasie, das heißt bürgerlicher Kirchenaustritt, Häresie, Konversion, ja selbst Exkommunikation beenden nicht die Kirchenmitgliedschaft. Zwar verliert der mit bürgerlicher Wirkung ausgetretene ehemalige Katholik alle Rechte in seiner Kirche, untersteht aber weiterhin ihrer Strafgewalt und unterliegt sämtlichen Pflichten.

Die protestantische Theologie denkt grundsätzlich genauso über die irreversiblen Folgen der Taufe, unterscheidet allerdings in ihrem Kirchenbegriff streng zwischen der Mitgliedschaft in der sichtbaren Rechtskirche und in der unsichtbaren Gemeinschaft der Gläubigen. Einen Austritt aus der juristisch verfaßten Kirche toleriert sie, dennoch behauptet auch sie, daß der einmal Getaufte in alle Ewigkeit dem corpus Christi verhaftet bleibe.

Was also geschieht in der Kindertaufe? Menschen dürfen sich anmaßen, einen anderen hilflosen Menschen unwiderruflich und unverlierbar für sein ganzes Leben religiös zu vergewaltigen. Damit verletzt die Kindertaufe nicht nur das Grundrecht auf Religionsfreiheit, sondern auch das Recht jedes Menschen auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Grundgesetz Art. 2 Abs. 1). Gegner dieser Argumentation werden auf das heute gültige „Gesetz über die religiöse Kindererziehung“ von 1921 hinweisen. In diesem Gesetz ist festgelegt, daß Kinder erst mit vierzehn Jahren religionsmündig werden und bis dahin die Eltern über ihre religiöse Erziehung bestimmen (Elternrecht). Auf diesen Hinweis ist zunächst grundsätzlich zu entgegnen, daß man bei uns mit formulierten Gesetzen rechnen muß, die Grundrechten widersprechen. Solche Gesetze sind nichtig, da die Grundrechte laut Artikel 1 Abs. 3 des Grundgesetzes „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“ binden. Artikel 19 Abs. 2 unserer Verfassung bestimmt darüber hinaus, daß kein Grundrecht „in seinem Wesensgehalt angetastet“ werden darf.
Davon abgesehen scheint mir – aber da bin ich unsicher – das „Gesetz über die religiöse Kindererziehung“ die Kindertaufe keineswegs zu rechtfertigen. Denn wird ein Kind zwar erst mit vierzehn Jahren religionsmündig, bedeutet das nicht, daß ihm vorher das unveräußerliche Recht auf Religionsfreiheit fehlte – was gerade jenen Christen einleuchten sollte, die in Debatten über Abtreibung regelmäßig bereits für Embryonen alle Menschenrechte proklamieren.
Das Kind kann seine Rechte nur noch nicht artikulieren, weshalb die Erziehungsberechtigten es darin schützen müssen. Auf jeden Fall findet das Elternrecht seine Grenze am Kindesrecht und darf – im Kontext des Grundgesetzes – nicht exzessiv im Sinne einer patria potestas absoluta interpretiert werden. Das Elternrecht kann legitimerweise nur darin bestehen, die Grundrechte des unmündigen Kindes durchzusetzen, nicht sie zu verletzen.

Soll alles bisher Ausgeführte nicht bloß Kontemplation bleiben, gilt es, die Normen, die unser Grundgesetz noch garantiert, in einem Musterprozeß vor dem Bundesverfassungsgericht einzuklagen. Für das Problem der Kindertaufe sähe ein solcher Musterprozess möglicherweise so aus, daß jemand gegen seine Eltern und gegen den Pfarrer, die ihn getauft haben, klagt wegen Verletzung des Grundrechtes auf Religionsfreiheit unter Hinweis auf die dadurch geförderte ekklesiogene Neurose.

Ein solcher Prozeß könnte schwerlich im Sande verlaufen wie leider etwa der Prozeß um das Schulgebet vor dem Staatsgerichtshof in Hessen, sondern hätte vermutlich weitreichende Folgen für das gesamte staatskirchenrechtliche System der Bundesrepublik. Wichtigen Agenturen einer irrationalen und repressiven Erziehung wäre damit mit einem Mal die Basis entzogen: den konfessionellen Kindergärten – die bei uns dank des Bundessozialhilfegesetzes und dank des Jugendwohlfahrtsgesetzes zahlenmäßig weit überwiegen – sowie den christlichen Volksschulen und dem christlichen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen.

Doch bevor ich das Modell einer demokratischen Religionspädagogik ansatzweise entfalte, sei zunächst die Kindertaufe erneut unter die Lupe genommen, und zwar in einer kirchenhistorisch-religionssoziologischen und in einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive.

In kirchengeschichtlicher Hinsicht gehört die heutige Kindertaufpraxis in das reichhaltige Arsenal der Zwangschristianisierung. Nicht zufällig gab gerade Augustin, der Verfechter einer strengen Erbsünden- und Kindertauflehre, auch die entscheidende Parole der Zwangsmission aus. „Cogite intrare – zwingt sie hereinzukommen“, formulierte er. Zwar bezog Augustin den Zwang nur auf christliche Häretiker und Schismatiker. Papst Gregor der Große (um 600) dagegen weitete ihn aus gegenüber den Nichtchristen zur Kreuzzugsideologie. Ihr Inhalt ist, auf eine prägnante Formel gebracht: Taufe oder Tod. Entweder bedingungslose Unterwerfung unter die Oberhoheit der christlichen Fürsten mit nachfolgender Taufe und kirchlicher Indoktrination oder – ebenfalls im Namen Gottes – Ausrottung.

Ein anderes Modell der Zwangsmission war das dynastische Prinzip – cuius regio eius religio. Danach bestimmten die Landesfürsten die Religion ihrer Untertanen. Immerhin liberalisierte der Augsburger Religionsfrieden von 1555 diese jahrhundertealte Praxis großzügig dahingehend, daß Andersgläubige auswandern durften (privilegium emigrandi).

Gleichsam ein verkleinertes Abbild des dynastischen Prinzips ist das familiale Prinzip, das als letzte Agentur der Kirchen übriggeblieben ist. Heute können die Menschen nicht mehr als Untertanen ihrer Landesfürsten christianisiert werden, sondern nur noch als Untertanen ihrer Eltern – cuius generatio eius religio. Die Funktion der Emigration hat dabei der Kirchenaustritt übernommen.
Seit Jahrtausenden ist die autoritär strukturierte Familie ein Hort der Religion. In allen vaterrechtlichen Kulturen und Religionen, zu denen auch das Christentum zählt, erstreckte sich die Verfügungsgewalt des Hausvaters nicht nur auf das äußere Leben seiner Kinder, sondern auch auf deren „Seele“. Die Zucht- und Strafgewalt des pater familias wurde gekrönt und stabilisiert durch seine Funktion als Hauspriester, dem auch das Seelenheil der Seinen in die Hand gelegt ist.

In diesem religions- und familiensoziologischen Kontext ist auch die Kindertaufe zu lokalisieren. In ihr verschränken sich die religiöse und die familiale Form der Autoritätsbindung. Unter Hinweis auf göttliche Gebote wird das Kind im Status des lebendigen Eigentums gehalten, über dessen Körper und Seele die Eltern frei verfügen können.
Wahre Fürsorge für das Kind, auf die sich die Taufideologie so gerne beruft, bestünde gerade im Schutz des hilflosen Individuums vor den Fangarmen des Kollektivs, in der Schonung des unmündigen Subjektes vorm Erfaßtwerden. Entlarvend spricht die Theologie selber davon, daß das Kind in der Taufe „einverleibt“ werde, „einverleibt“ dem corpus ecclesiae, dem es nie wieder entrinnen können soll.

Statt dem Kind in der Erziehung zur Autonomie zu verhelfen, besiegeln die Eltern mit der Kindertaufe die gesellschaftlich vorgegebene Heteronomie. Der Gang in die Kirche ans Taufbecken besagt objektiv, daß es mit der Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums in dieser Gesellschaft nichts sei. In der Kindertaufe wird die erstrebte Identifikation des Kindes mit dem Kollektiv zwangsweise vorweggenommen. Bereits das Neugeborene wird zum Mitmachen genötigt. Die Kindertaufe als ein Akt der Gleichmacherei lebt von latenter Gewalttat. Sie entspringt der christlichen Wut auf alles, was anders ist. Im Nichtertragenkönnen eines „Heidenkindes“ im Schoße einer christlichen Familie ist – pointiert formuliert – der Pogrom bereits mitgesetzt.

Aber wird damit dem harmlosen Akt des Wasserspritzens unter trinitarischen Formeln nicht doch zuviel Gewicht beigemessen? Hat nicht gerade die heutige volkskirchliche Kindertaufpraxis und die ihr nachfolgende religiöse Erziehung etwas Schwächliches, gar Chimärisches? Wie ist soziologisch und sozialpsychologisch zu beurteilen, daß Eltern ihre Kinder taufen lassen, obwohl sie objektiv unfähig sind, sie hinterher auch christlich zu erziehen?

In der Tat ist die heutige Funktion der Kindertaufe mit den bisherigen Ausführungen nicht hinreichend analysiert. In den Millionen Familien, die sich nicht mehr aktiv am kirchlichen Leben beteiligen, hat die Kindertaufe primär die Funktion eines Alibis, eines religiösen und eines pädagogischen Alibis.

Ein religiöses Alibi ist die Kindertaufe insofern, als sie auch den laxesten Eltern die günstige Chance bietet, ein christliches Pensum zu absolvieren und in einem für sie folgenlosen und zu nichts verpflichtenden Akt sich selbst und der Umwelt zu bestätigen, daß sie dazugehören, keine verdächtigen Außenseiter sind, sondern getreulich die Normen und Spielregeln des christlichen Abendlandes befolgen.

Diese Erkenntnis erhellt auch die sonstige erstaunliche Inanspruchnahme der kirchlichen Weihetätigkeit bei Hochzeit und Beerdigung. Sie sind Rituale der Selbstbestätigung und Selbstdarstellung ichschwacher Individuen, Momente jenes ideologischen und religiösen Kittes, der die Gesellschaft zusammenhält und die Menschen – an markanten Daten des Lebens – ihre Kräfte und Unsicherheit vergessen läßt.
Die Kindertaufe hat darüberhinaus in besonderer Weise den Charakter einer religiösen Ersatzhandlung. Die wehrlosen Sprößlinge müssen stellvertretend das vollziehen, wozu sich die Eltern nicht mehr aufraffen können, was ein unbewußtes Schuldgefühl ihnen aber doch noch nahelegt zu tun. Diese Sündenbock-Rolle der Kinder – in der Familiensoziologie ein wohlbekanntes Phänomen – manifestiert sich auch darin, daß die Kinder selbstverständlich in der Schule beten und den Religionsunterricht besuchen sollen.

Der Alibicharakter der Kindertaufe in pädagogischer Hinsicht muß auf dem Hintergrund des Zerfalls der bürgerlichen Familie gesehen werden. Dieser Auflösungsprozeß, des-sen sozialökonomische Ursachen hier nicht zur Debatte stehen, hat zu einer weitgehenden Depotenzierung und Entmythologisiening der Vätergestalten geführt. Wie Alexander Mitscherlich und die Soziologen der Frankfurter Schule gezeigt haben, leben wir in einer „vaterlosen Gesellschaft“. Im Zusammenhang damit hat die Familie ihre alte umfassende Erziehungsfunktion weitgehend an sekundäre Gruppen, Schule, Berufsausbildung, abgetreten. Da also die Fürsorgeleistungen und Fürsorgemöglichkeiten der Eltern rasch schrumpfen, halten sie umso mechanischer an den wenigen Einflussmöglichkeiten, die ihnen noch bleiben, fest – zumal wenn sie im Rufe des Ehrwürdigen und Bewährten stehen.

Die logische Konsequenz aus allen bisherigen Erwägungen kann nur lauten: die Kindertaufe muß abgeschafft und durch einen höchstrichterlichen Spruch unter Hinweis auf die Freiheitsrechte des Kindes für verfassungswidrig erklärt werden. Gleichzeitig müssen alle anderen staatlichen oder halbstaatlichen Erfüllungsgehilfen der Kindertaufe, die konfessionellen Kindergärten und Schulen sowie der christliche Religionsunterricht in öffentlichen Schulen abgeschafft werden.

Der christliche Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ist der einzige Unterricht, der ausdrücklich – sogar durch einen Grundgesetzartikel (7 Abs. 3) – auf Manipulation und Anpassung an das Bestehende festgelegt ist. Während beispielsweise ein guter Sozialkunde-Unterricht immerhin noch die Chance hat, unser bürgerliches System als Ganzes kritisch in Frage zu stellen, darf der Religionsunterricht nur „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt werden. Die kurz nach der Geburt autoritär über den Kopf des Kindes hinweg gefällte Entscheidung, daß dieser Mensch Christ zu sein habe, soll nur noch internalisiert werden. Mit einem Wort: der christliche Religionsunterricht an den Schulen ist von seiner Anlage her notwendig rein affirmativ, die institutionalisierte Jasagerei. Die Bestimmung des Grundgesetzes, daß der Religionsunterricht „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ zu erfolgen habe, ist nur zu vergleichen mit einer Bestimmung, daß der Sozialkundeunterricht nur „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Großindustrie“ erteilt werden dürfe.

Die Forderung, die Kindertaufe abzuschaffen, muß begleitet sein von der Forderung, für alle Kinder einen wissenschaftlichen religionskundlichen Unterricht neu einzurichten, der in alle Religionen und in ihre Kritik einführt.

Da würden die Kinder nicht nur das Neue Testament, sondern auch den Koran lesen, aber auch Ludwig Feuerbachs „Wesen der Religion“ sowie Sigmund Freuds „Zukunft einer Illusion“ kennen lernen. Dieser religionskundliche Unterricht vermittelt Kenntnisse, schafft Vergleichsmöglichkeiten und erweckt Problembewußtsein. Er steht unmittelbar im Dienste der Religionsfreiheit und soll die Kinder befähigen – unabhängig von den Schranken und Vorurteilen ihrer Eltern -, die Religion zu wählen, die sie überzeugt, oder auch religionslos zu bleiben. Dabei wird es dann natürlich auch vorkommen, daß die so unterrichteten Jugendlichen,
wenn sie mit etwa achtzehn Jahren religionsmündig werden, zu einem katholischen oder protestantischen Pfarrer gehen und um die Taufe bitten. Diese Erwachsenentaufe ist völlig legitim und durch das Recht auf Religionsfreiheit geschützt.

Dennoch kann ich es mir abschließend nicht versagen, auch diese Erwachsenentaufe einer Kritik zu unterziehen. Diese Kritik ist zugleich eine Kritik am Konzept eines „Kritischen Katholizismus“ und dessen liebstem Eiapopeia, dem Leitbild des mündigen Christen, der ja wohl durch die bewußte und freiwillige Übernahme der Taufe konstituiert wird.

Der Begriff des mündigen Christen ist eine contradictio in adiecto, und zwar deshalb, weil nach neutestamentlichem Verständnis auch jede Erwachsenentaufe in Wirklichkeit eine Kindertaufe ist. Den Begriff des Erwachsenen kennt das Neue Testament gar nicht, es kennt nur Kinder. Alle Menschen, auch die Erwachsenen sind Kinder Gottes, und Jesus hat ausdrücklich den Kindersinn als conditio sine qua non des Christseins bezeichnet. „So ihr nicht werdet wie die Kin-der, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen“ (Matthäus 18, 3).

Das Vaterprädikat ist konstitutiv für den neutestamentlichen Gottesbegriff. Dem Vater gebührt Dank, Ehre, Lobpreis, Akklamation, seinen Kindern gebührt Gehorsam, Demut, Folgsamkeit. Eine Emanzipation von diesem Vater ist nicht vorgesehen und auch objektiv unmöglich, da er zugleich allmächtig ist. Der Versuch, sich von seiner Autorität zu lösen, gilt als die Sünde, wie das Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt. Der Sohn, der den Vater verläßt, verfällt notwendig der Sünde, gerade das Verlassen ist die Sünde. Seine endliche Unterwerfung und Heimkehr ist das Modell des Christseins.
Dem Patriarchalismus in der Gotteslehre entspricht daher notwendig ein Infantilismus in der Anthropologie, weshalb Jesus beispielsweise seine Jünger mit „Kinder“ anredet oder auch die Apostel ihre Briefe mit „liebe Kindlein“ adressieren. Von da aus betrachtet, ist es zwar reaktionär, aber gut neutestamentlich, wenn katholische Pfarrer von ihren „Pfarrkindern“ oder „Beichtkindern“ sprechen, wie ja auch jahrhundertlang die christlichen Könige ihre Untertanen als „Landeskinder“ bevormundeten.

Segnete Jesus die Kinder und stellte sie als Inbegriff des Glaubens hin, so darf man hier nicht unhistorisch einen Begriff von Kindheit hineinprojizieren, wie ihn eine kritische Sozialphilosophie konzipiert. Die Kindheit, von der Marcuse und Adorno reden, ist gekennzeichnet durch eine spielerisch freie Entfaltung der Triebe, durch Phantasie, durch Freiheit von Arbeit, durch einen Schonraum ohne soziale Kontrollmechanismen. Die Kinder, von denen Jesus spricht, sind unfrei, nichtemanzipierte Wesen, der Verfügungsgewalt des Vaters unterworfen und bedingungslosen Gehorsam schuldig.

Hat man dies alles vor Augen und erkennt, daß es dem christlichen Glauben nicht äußerlich ist, wird man auch die Erwachsenentaufe ablehnen. Konsequente Emanzipation der Menschen ist auch innerhalb eines Kritischen Katholizismus nicht möglich, sondern nur in einem demokratischen Atheismus – aber das ist eine Tautologie, wie der Kritische Katholizismus eine contradictio in adjecto bleibt.

Fünf Thesen zur juris­ti­schen, religi­ons­so­zio­lo­gi­schen und pädago­gi­schen Kritik der Kindertaufe

1) Die Kindertaufe ist das ideologische Deckbild, der „spirituelle point d’honneur“ (Karl Marx) einer repressiven Erziehung und Sozialisation. Mit dem Taufwasser auf der Stirn des Säuglings beginnt die Gehirnwäsche, die bereits das Neugeborene dem Kollektiv integrieren soll. Jede reflektierte Kritik an der Kindertaufe impliziert daher eine Kritik am repressiven System als ganzem.

2) Die Kindertaufe ist in der BRD verfassungswidrig, da sie das Grundrecht des Kindes auf Religionsfreiheit verletzt. Laut GG darf niemand zu einer kirchlichen oder religiösen Handlung gezwungen werden (Art. 136 IV WRV mit Art. 140 GG). In der Kindertaufe wird ein wehrloser Mensch nicht nur zu einer religiösen Handlung gezwungen, schlimmer: er wird zum willenlosen Objekt der religiösen Handlung anderer degradiert.

3) In kirchengeschichtlicher Perspektive gehört die Kindertaufe in das reichhaltige Arsenal der Zwangschristianisierung. Nachdem Kreuzzüge („Taufe oder Tod“), erzwungene Massentaufen an Juden, durch Polizeistrafen herbeigeführter Gottesdienstbesuch zur Zeit nicht mehr möglich sind und auch das dynastische Prinzip („cuius regio eius religio“) sich überlebte, bleibt den Kirchen als verläßliche Agentur bloß noch die autoritär verfaßte Familie.

4) In der Kindertaufe wird das Neugeborene als lebendiges Eigentum seiner Erzeuger behandelt. Diese unumschränkte Verfügungsgewalt über Leib und Seele des Kindes parodiert die elterliche Fürsorge, auf die die Taufideologie sich so gerne beruft. Während wahre Fürsorge im Schutz des hilflosen Individuums vor den Fangarmen des Kollektivs bestünde und die Selbständigkeit des
Kindes respektierte und förderte, harmoniert die Kindertaufe nur zu gut mit Kinderkreuzzügen, Kinderarbeit und mit Prügelpädagogik.

5) Ein erfolgreicher Musterprozeß vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Kindertaufe könnte der Auftakt zu einer tiefgreifenden Demokratisierung der Erziehung sein. Während die durch die Kindertaufe inaugurierte christliche Unterweisung notwendig einen manipulativ-konformistischen Charakter hat – indem sie eine bereits über den Kopf des Kindes hinweg gefällte Entscheidung nur noch verinnerlichen, nicht aber kritisieren soll – dient eine demokratische Pädagogik der kritischen Aufklärung des Kindes über die Welt der Religion (religionskundlicher Unterricht).

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