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Ein Wider­stands­recht in der Verfassung

vorgänge Heft 1/1968, S. 1 – 2

Zum Schutz vor Gefahren für Freiheit und Demokratie, insbesondere vor verfassungswidriger Ausübung der Staatsgewalt sollte im Grundgesetz ein Widerstandsrecht der Bürger, einschließlich ihrer freien Vereinigungen (z. B. der Gewerkschaften) verankert werden. So fordert auch eine Notstands-Resolution der Mitgliederversammlung der Humanistischen Union.

Für die von der Bundesregierung beabsichtigte Neuregelung des inneren Notstandes (Änderung des Art. 91 GG, Aufhebung des Art. 143 GG) ist es charakteristisch, daß hierbei nur an die Erweiterung des staatlichen Machtinstrumentariums, nicht auch an die mündigen Bürger gedacht wird, um deren Staat und deren Freiheit es dabei geht. Bundesgrenzschutz, zusätzliche Verwaltungseinrichtungen und Bundeswehr sollen eingesetzt werden dürfen, dem Bürger aber ein Grundrecht beschnitten werden. Eine freiheitliche Staatsordnung ist aber auf Sand gebaut, wenn sie ihren Schutz ausschließlich dem staatlichen Machtinstrumentarium anvertraut. Die freiheitliche Staatsordnung lebt von der Zustimmung, der Mitwirkung und der Wachsamkeit ihrer Bürger. „Keine Demokratie kann ohne die Wachsamkeit bestehen; denn sie hat nicht Mittel anderer Regime, sich gegen die Gegner zu verteidigen, insbesondere dann nicht, wenn ihre Gegner unter dem Schutze der Legalität sich in ihrer eigenen Mitte festsetzen können” (Carlo Schmid am 18. 4. 1956 im Bundestag). Dem mündigen Staatsbürger muß daher auch der Schutz seiner freiheitlichen Staatsordnung — und damit der Schutz der Freiheit selbst — an-vertraut werden. Deshalb wird die verfassungsrechtliche Verankerung eines Widerstandsrechts der Bürger gefordert.

Das schon im Mittelalter und in der Reformationszeit (Calvin) bekannte Widerstandsrecht ging auf dem europäischen Kontinent im Zeitalter des absoluten Staates verloren, während es vom englischen Parlament in seiner Auseinandersetzung mit den Stuart-Königen im 17. Jahrhundert erfolgreich behauptet werden konnte. Auf dem Kontinent brachte Naturrechts- und Staatsvertragslehre eine Wiederbelebung des Widerstandsrechtes, das Eingang in die moderne Verfassungsentwicklung freiheitlicher Staaten fand, so schon in der Virginia Bill of Rights und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. 7. 1776 (wonach es das „selbstverständliche Recht des Volkes” ist, eine „schädliche Regierung” — d. h. eine solche die nicht auf dem Willen der Regierten beruht — „abzusetzen”) und, hierauf beruhend, in der amerikanischen Bundesverfassung von 1787. Auf dem europäischen Kontinent brachte die Französische Revolution von 1789 die ausdrückliche Statuierung des Widerstandsrechtes. 1Väcli Artikel 2 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. B. 1789 ist „der Widerstand gegen Unterdrückung” ein natürliches und unverjährbares Menschenrecht. Hieraus basierte Art. 21 des (aus anderen Gründen durch Volksentscheid abgelehnten) französischen Verfassungsentwurfs von 1946, der — in der Übersetzung von Dennwitz, „Die Verfassungen der modernen Staaten” – lautet: „Wenn die Regierung die durch die Verfassung garantierten Freiheiten und Rechte verletzt, ist der Widerstand in allen seinen Formen das heiligste aller Rechte und die gebieterischste aller Pflichten.”

In der vom starren Rechtspositivismus getragenen deutschen Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts war für ein Widerstandsrecht kein Raum. Selbst die so freiheitliche Paulskirchenverfassung von 1849 konnte sich hierfür nicht bereit finden, erst recht nicht die Verfassung des autoritären Kaiserreichs von 1871. Auch die Weimarer Reichsverfassung (und die damaligen Landesverfassungen) enthielten keinen Rechtssatz über den Widerstand. In die Zeit der Weimarer Verfassung fällt aber das für die neuere deutsche Geschichte maßgebliche Beispiel für Ausübung und Erfolg des Widerstandsrechts gegen den Angriff auf die Freiheit und die Verfassung der Republik: der Generalstreik der Gewerkschaften — die wichtigste Form der Ausübung des kollektiven Widerstandsrechts — gegen den Kapp-Putsch von 1920. Das autoritäre Reichsgericht hat damals allerdings in seiner Entscheidung zum Kapp-Putsch (RG St 56, 259/268) dahingestellt sein lassen, ob “einer Verfassungsverletzung gegenüber ein Staatsnotwehrrecht des Bürgers überhaupt anzuerkennen sein würde.“ Die auch heute noch zumindest unsichere Einstellung unserer Justiz zum Widerstandsrecht — auch hier ihren noch immer nicht ganz überwundenen autoritären Denkvorstellungen folgend — muß auch denjenigen zum Nachdenken Anlaß geben, die sagen, daß das Widerstandsrecht ein ungeschriebener Verfassungssatz oder sogar ein über der Verfassungsordnung stehender Satz des Naturrechts sei.

Auch das Grundgesetz erwähnt das Widerstandsrecht nicht. Es ist aber in Art. 146/147 der Hessischen Verfassung verankert, und diesem Vorbild ist die Verfassung Berlins (Art. 23) und die Verfassung Bremens (Art. 19) gefolgt. Art. 146 Abs. 1 der Hess. Verf. lautet: „Es ist Pflicht eines jeden, für den Bestand der Verfassung mit allen ihm zu Gebote stehenden Kräften einzutreten.” Art. 147 Abs. 1 lautet: „Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht und Pflicht.” In den anderen Landesverfassungen fehlt aber das Widerstandsrecht ebenso wie im Grundgesetz.

Nun wird in der Begründung der letzten Notstandsvorlage der Bundesregierung (S. 24) ausgeführt, das Bundesverfassungsgericht habe das Widerstandsrecht eines jeden Staatsbürgers und jeder verfassungstreuen Koalition gegenüber einem die Verfassungsordnung bedrohenden Machthaber anerkannt. Dies ist in dieser Allgemeinheit nicht richtig. Der in diesem Zusammenhang genannte Leitsatz 10 des KPD-Verbotsurteils (BVerfGE 5, 85) lautet: „Wenn es angesichts des grundgesetzlichen Systems der gegenseitigen Hemmung und des Gleichgewichts staatlicher Gewalten und des wirksamen Rechtschutzes gegen Verfassungsverstöße und -verfälschungen von Staatsorganen ein dem Grundgesetz immanentes Widerstandsrecht gegen einzelne Rechtswidrigkeiten gibt, so sind an seine Ausübung jedenfalls folgende Anforderungen zu stellen: – Das Widerstandsrecht kann nur im konservierenden Sinne benutzt werden, d. h. als Notrecht zur Bewahrung oder Wiederherstellung der Rechtsordnung. — Das mit dem Widerstand bekämpfte Unrecht muß offenkundig sein. Alle von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfe müssen so wenig Aussicht auf wirksame Abhilfe bieten, daß die Ausübung des Widerstandes das letzte verbleibende Mittel zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechts ist.”

Es wird also auch hier wieder letztlich offen gelassen, ob es das Widerstandsrecht gibt; denn es wird gesagt: wenn es ein Widerstandsrecht gibt, dann müssen folgende Voraussetzungen gegeben sein; die aufgezählten grundgesetzlichen Sicherungen gegen Verfassungsverstöße nach dem „Wenn” lassen deutlich erkennen, wie skeptisch das Bundesverfassungsgericht gegenüber dem Widerstandsrecht ist, was nur noch deutlicher wird, wenn man in der Begründung (S. 376) liest: „Berücksichtigt man die Abwehr von Verfassungsverletzungen, die schon im System der gegenseitigen Hemmung und des Gleichgewichts staatlicher Gewalten gegeben ist, und den wirksamen Rechtsschutz, der in der Bundesrepublik gegen Verfassungsverstöße und -verfälschungen von Staatsorganen durch den weiten Ausbau der Gerichtsbarkeit, vor allem der Verfassungsgerichtsbarkeit, besteht, so fragt sich, ob überhaupt noch ein Bedürfnis für ein Widerstandsrecht anzuerkennen ist. Diese Frage braucht hier nicht erörtert zu werden, denn selbst wenn …”

In der Tat ist die Fragestellung nach dem Bedürfnis für das Widerstandsrecht entscheidend, wenn auch die Betrachtungsweise des BVerfG nicht frei von Einseitigkeiten ist. Zweierlei ist der Skepsis des BVerfG gegenüber einem Bedürfnis nach einem Widerstandsrecht entgegenzuhalten:

1. Wir haben tatsächlich ein weitverzweigtes System des Verfassungsschutzes, sowohl nach dem Grundgesetz wie nach den einfachen Gesetzen, insbesondere dem eigentlichen Staatsschutzrecht. Aber gerade gegen dieses System muß eingewandt werden, daß es sich in erster Linie und sehr einseitig gegen Angriffe auf die Verfassung von unten richtet, ja daß es hier maßlose Übertreibungen in unserem politischen Strafrecht gibt.

Dem gegenüber sind die verfassungsrechtlichen und einfachen gesetzlichen Sicherungen gegen Angriffe auf die Verfassung von oben unzulänglich. Es wird nicht verkannt, daß es im bescheidenen Umfang solche Sicherungen gibt, daß — beispielsweise — Art. 91 GG oder die Vorschriften gegen Hochverrat bei Angriffen auf die Verfassung sowohl von oben wie von unten anwendbar sind und daß es eine Strafvorschrift gegen diejenigen gibt, die durch Mißbrauch oder Anmaßung von Hoheitsbefugnissen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen (§ 89 StGB).

Entscheidend aber ist in diesem Zusammenhang folgendes Argument: In den Fällen gewaltsamer Angriffe gegen unsere freiheitliche Verfassungsordnung, insbesondere bei der bewaffneten Besitzergreifung von der Staatsgewalt oder (und) ihrer verfassungswidrigen Ausübung nützen die oben genannten rechtlichen Sicherungen ebensowenig wie das vom BVerfG genannte „grundgesetzliche System der gegenseitigen Hemmung” oder der nur in Normalzeiten wirksame Rechtsschutz. Sehr wohl aber kann in diesen Fällen außer dem Einsatz verfassungstreuer Machtmittel der individuelle und kollektive Widerstand der Bürger wirksam sein: der anläßlich des Kapp-Putsches von 1920 durchgeführte Generalstreik der Gewerkschaften — die eindrucksvollste Form des kollektiven Widerstandes — zeigt dies anschaulich.

2. Die Frage nach dem Bedürfnis für ein Widerstandsrecht darf aber nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Qualität der schon bestehenden Sicherungen betrachtet werden. Die grundsätzliche Frage geht vielmehr dahin, wem in erster Linie diese Sicherungen in einem Staate anzuvertrauen sind, der sich als freiheitlich und demokratisch versteht. Die Antwort kann nur sein: dem freien und mündigen Bürger, um dessen Staat, um dessen Freiheit, um dessen Demokratie es hier geht. Erkennt man aber diesen Grundsatz an, so muß er auch einen verfassungskräftigen Ausdruck dahingehend finden, daß den Bürgern ein Widerstandsrecht gegen Angriffe auf die Freiheit und Demokratie eingeräumt wird.

Gegen das Widerstandsrecht wird eingewandt, es gäbe Querulanten die Möglichkeit, gegen nur vermeintliche Rechtsverletzungen unter Berufung auf dieses Recht noch hartnäckigeren Widerstand zu leisten, und selbst wohlmeinende Staatsbürger könnten gegen Maßnahmen, die sie nur irrtümlich für rechtswidrig hielten, zum illegalen Widerstand verleitet werden. Dieses Argument ist sehr oberflächlich. Auch ohne Widerstandsrecht gibt es Querulanten und das Problem des Rechtsirrtums. Mit beiden hatten und haben Recht und Rechtsprechung sich seit jeher beschäftigt. Auch ist ein illegaler Widerstand aus Rechtsblindheit oder irriger Auslegung des Rechts keine so gewichtige Tatsache, als daß sie als stichhaltiges Argument gegen all das angesehen werden könnte, was für die verfassungsrechtliche Verankerung des Widerstandsrechts spricht.

Im übrigen soll das Widerstandsrecht nicht gegen jede Rechtswidrigkeit, ja nicht einmal gegen jede Verfassungswidrigkeit — die ja durch fehlerhafte Verwaltungsakte oder durch eine grundgesetzwidrige Gesetzesnorm tagtäglich vorkommen kann — gewährt werden; hierfür sind der Rechtsweg, einschließlich der Verfassungsbeschwerde und des Petitionsrechts sowie der Aufdeckung geheimer Verfassungsverstöße (deren Geheimhaltung niemandes Pflicht sein darf!) gegeben. Ein Widerstandsrecht kommt in diesen Fällen nicht in Betracht. Vielmehr soll es — in Anlehnung an Artikel 147 Abs. 1 der Hessischen Verfassung sowie an die geschützten Güter der Art. 18, 2111, 91 GG — nur in den Fällen „einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, insbesondere verfassungswidrig ausgeübter öffentlicher Gewalt” gewährt werden. Auch müßte sichergestellt sein, daß die Bürger das Widerstandsrecht „einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen” ausüben können. Hiermit wäre sowohl das individuelle wie das kollektive Widerstandsrecht zum Ausdruck gebracht, deren wichtigster Fall der Generalstreik der Gewerkschaften zur Aufrechterhaltung der freiheitlichen und demokratischen Verfassungsordnung ist. Andererseits darf das Widerstandsrecht nicht als ein Unterfall des Streikrechts der Gewerkschaften angesehen werden. Der Schutz der Freiheit und der Widerstand gegen Verfassungsbruch muß ein allen Staatsbürgern — und nicht nur den Gewerkschaften und ihren Mitgliedern — zu-stehendes Recht sein.

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