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Engagierte Geister

Von Petrarca bis Habermas: Neue Literatur zur Geschichte und Gegenwart der Intellektuellen

In: vorgänge Nr. 167 (Heft 3/2004 ), S. 119-128

„Am Anfang waren die Städte“: mit diesen Worten beantwortete 1957 der französische Mittelalterhistoriker Jacques Le Goff gleich zu Beginn seiner Studie Die Intellektuellen im Mittelalter die alte und bis heute umstrittene Frage, wann in der Geschichte die Gestalt des Intellektuellen auftaucht. Er führte die mittelalterliche Stadt an, in deren gerade erst entstandenen arbeitsteiligen Welt der Handwerker und Kaufleute auch diejenigen eine Nische fanden, die lehrten und schrieben. Ein halbes Jahrhundert vor dem Historiker aus der Annales-Schule hatte schon der deutsche Soziologe Georg Simmel auf die geistige Wirkung der Städte bezogen aber auf die Moderne – hingewiesen: In seinem klassischen Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (1903) – Le Goff sicher unbekannt – beschrieb er die Stadt ebenfalls als Kommunikationsraum, in dem sowohl Vereinzelung als auch Vergemeinschaftung im Ideenaustausch untereinander problemlos möglich war. Le Goffs Klassiker wurde nunmehr vor einiger Zeit wieder aufgelegt und hat nichts von seiner anregenden Frische und sprachlichen Brillanz eingebüßt:

Jacques Le Goff. Die Intellektuellen im Mittelalter, 4. durchges. u. erw. Aufl., Klett-Cotta: Stuttgart 2001, 230 S., ISBN 3-608-93248-8; 22,50 Euro

Mit der Gründung von Universitäten tauchten Wissensproduzenten auf, die alte Disziplinen wiederentdeckten – Medizin, Geometrie und Arithmetik – und neue schufen: Jurisprudenz, Theologie und spezialisierte Philosophie. Le Goff schildert den Entstehungsprozess dieser geistigen Kulturen mit ihren Schulen, Institutionen, Personen, Ideen und Deutungskämpfen zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert. In seinem Nachwort von 1984 verweigert er dezidiert die theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff des „Intellektuellen“, um dann doch kursorisch auf Antonio Gramscis Konzept des „organischen Intellektuellen“ zu verweisen. Wir dürfen also weiter rätseln und streiten, wann historisch alle Komponenten beisammen waren, um den kritischen Geist als Sozialfigur zu konstruieren.

Im 14. Jahrhundert waren jedenfalls ein paar der benötigten Zutaten schon vorhanden, vor allem im Italien Dantes, Petrarcas und Boccaccios: Wissenschaftlich oder künstlerisch ausgebildete Geistesarbeiter, zwar von Fürsten oder Bischöfen angestellt, aber doch bekannt und anerkannt über den Kreis ihrer Herren hinaus, besaßen damals bereits Autorität in den Gesellschaften ihrer Städte und Länder. Hinzu trat ein allgemeines Krisenbewusstsein in jener Epoche angesichts des Massensterbens durch die Pest oder politischer Erdbeben wie des päpstlichen Exils in Avignon oder der römischen Rebellionen eines Cola di Rienzi. Partei ergreifen, Ideen für und Kritik an der Gesellschaft formulieren, die Stimme erheben und an eine, wenn auch kleine und begrenzte, Öffentlichkeit appellieren, obwohl man nicht zu den wirklich Mächtigen gehört – diese Techniken intellektuellen Engagements, wie wir es aus seiner klassischen Phase seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kennen (vgl. vorgänge 156, H. 4/2001 – Dezember: „Intellektuelle ohne Macht?“), finden wir auch schon damals bei einigen wenigen Akteuren in Ansätzen vor. Noch waren ihre Formen und Funktionen freilich ebenso diffus wie ihr Feld. Der Konstanzer Romanist Karlheinz Stierle hat über eine dieser Gestalten ein gewichtiges Buch geschrieben:

Karlheinz Stierle: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, Hanser: München 2003, 973 S., ISBN 3-446¬20382-6; 45 Euro

Pünktlich zum 700. Geburtstag des 1374 gestorbenen Dichters und Begründers des italienischen Humanismus kann sich der Leser durch diesen Wälzer kämpfen, so wie dessen Held einst auf den Mont Ventoux hinaufächzte – ohne jedoch am Ende einen vergleichbar freien Blick auf Raum und Welt wie damals Petrarca erleben zu können. Die bewundernswerte Fülle an Ergebnissen langjähriger Forschungen des Autors wird in erschöpfender Breite zur Schau gestellt; seine Sprache kennt auf jeder Seite nur den Ton der völligen Hingabe und des con passione, was in kürzester Zeit auch den geneigtesten Petrarcaverehrer ermüdet. Auch wenn es der Untertitel anders verheißt: Petrarca als Dichter, Rhetor und Wiederentdecker der Antike dominiert in diesem Buch alle anderen Facetten seines Lebens. Wenig findet man über den Gesandten, Zeitgenossen, Kritiker und politischen Berater vieler Herrscher, der sich lange in sein Haus in Vaucluse denkend und schreibend zurückzog,über den Anhänger des römischen Rebellen Cola di Rienzi, den er 1347 in ebenso enthusiastischen wie naiven Briefen unterstützte. Anstelle der ausführlichen Diskussion fachwissenschaftlicher Aufsätze und der extensiven Wiedergabe der Werke des Meisters hätte man sich eine stärkere Fokussierung und strengere Konzentration gewünscht. So mäandert die Darstellung durch die Landschaft dieses mittelalterlichen Intellektuellen, ohne uns heute viel sagen zu können.

Ratlos legt man auch einen Sammelband zur Seite, der auf eine Tagung des Osnabrücker Graduiertenkollegs Bildung in der Frühen Neuzeit im Jahr 2000 zurückgeht:

Jutta Held (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit, Wilhelm Fink: München 2002, 207 S., ISBN 3-7705-3731-9; 24,90 Euro

Gerne hätte man der Herausgeberin und Sprecherin des Kollegs etwas mehr von der „gei¬stigen Beweglichkeit“ gewünscht, die sie den Intellektuellen der Frühen Neuzeit attestiert. So verwundern jedoch ihre eher hilflosen Definitionsversuche, wonach beispielsweise „moderne Intellektualität“ sich durch „Erfahrungswissen, Diesseitigkeit und politischen Weitblick“ auszeichne, was sich dann zu „kreativem Denken und Handeln“ verbinde. Held postuliert zudem einen fragwürdigen Gegensatz zwischen dem neuen Intellektuellen jener Zeit („moderat und geduldig im Verhalten, undoktrinär, beweglich und experimentierfreudig, sucht er das Gespräch unter Gleichen“) gegenüber dem alten Humanisten. Dieses durchweg niedrige Niveau der theoretischen Reflexion ist vor allem deshalb bedauerlich, weil die Frage, ob es Intellektuelle im modernen Sinne (oder in einem Sinne, der mit den herkömmlichen Begrifflichkeiten der Intellektuellensoziologie erfassbar wäre) zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert gegeben hat, eine der großen offenen Fragen der Intellektuellenforschung ist – sie wird auch in diesem Band nicht geklärt. Einzelne, häufig gelungene Beiträge des Bandes haben dementsprechend Mühe, dem Thema des Bandes terminologisch zu entsprechen. Einige lehnen der Begriff des Intellektuellen ganz ab (Hartmut Stenzel in seinem klugen Beitrag über der französischen Gelehrten Gabriel Naue; andere verwenden ihn sehr sinnvoll wie Hans Rudolf Velten in seinem ausgezeichneten Beitrag über die Autodidakten am Ende des 17. Jahrhunderts oder Susanne Homeyer in ihrem ebenso gelungenen Text über Wissensvermittlung durch astronomische Flugblätter im 16. Jahrhundert: Hier scheinen die medialen Techniker zur Erlangung von Deutungshoheit auf, die intellektuelles Agieren später so zentral sind.

Im Flug durch die Epochen: Ebenfalls hinauf zum Himmel zog es den Zeitgeist Anfang des 20. Jahrhunderts. Nachdem die Deutscher ihre Weltkriegs-„Flieger-Asse“ bewundert hatten, machten sie die Luftfahrt auch zu einen Zentralprojekt der Weimarer Republik. Zwischen „Aufstiegshoffnungen“ und „Absturzangst“ gruppiert der in Kopenhagen lehrende deutsche Historiker Detlef Siegfried eine bunte Trupp( deutscher Intellektueller, die in der Revolution von 1918/19 und in den Jahren danach in Kiel ein linksradikales Bohemienleben als expressionistischer Maler (Peter Drömmer), zweifelhafter Literat (Richard Blunck) oder kommunistischer Funktionär und Staatswissenschaftler (Adolf Dethmann) verbracht hatten. Ende da 1920er Jahre heuerten sie nacheinander bei da Flugzeugfirma Junkers an und übernahmen schließlich unter dem Schutz des Firmenpatriarchen Hugo Junkers sogar für kurze Zeit die Führung in diesem Konzern:

Detlef Siegfried: Der Fliegerblick. Intellektu¬elle, Radikalismus und Flugzeugproduktior bei Junkers 1914 bis 1934, Dietz: Bonn 2001 335 S., ISBN 3-8012-4118-1; 26,60 Euro

Der Autor hat aus den Archiven eine filmreife Geschichte ausgegraben, die er mit Lust an Detail rekonstruiert. Es war der dem Pathos vor Technik und Sachlichkeit verpflichtete Junkers, der den mittlerweile avantgardistischen Industriedesigner Drömmer für die optische Darstellung seiner Produkte gewann; Blunck verfasste die PR-Texte und aufsehenerregende Grundsatzreden für den Chef; Dethmann säuberte die Direktionsetagen vom alten, in Ungnade gefallenen Management, begleitet von Landesverratsgerüchten über den angeblich von Moskau zur Unterwanderung der strategisch wichtigen deutschen Luftfahrtindustrie entsandten Ex-Kommunisten. Die „Egalisierung des Fliegens“ als utopisches Projekt lieferte die Brücke für jenen intellektuellen Radikalismus, der sich dann in dem Zukunftsunternehmen par excellence der Weimarer Republik praktisch erproben durfte. Während Blunck sich schon frühzeitig zurückzog, um frei für Junkers weiterzuarbeiten, wurden Drömmer und Dethmann nach 1933 kurzzeitig verhaftet, überlebten den Krieg, konnten jedoch später nicht mehr reüssieren. Siegfrieds drei Protagonisten vereinen in sich vieles von dem, was Intellektuelle der Zwischenkriegszeit kennzeichnete: utopischen Überschuss und Kritik an Vergangenheit und Gegenwart, die Nutzung quasireligiöser Technikbegeisterung, ergänzt um warmen Expressionismus in Worten und kalte sachliche Tat. Ihr Ziel hatte sich gewandelt, wie die Ziele vieler Linksintellektueller vor und nach ihnen sich noch wandeln sollten: Statt zum „Volk von Brüdern“ sollten die Deutschen nun zum „Volk der Flieger“ werden. Rückblickend betrachtet verliefen viele der vom Auf und Ab geprägten Werdegänge dieser Generation in der kurzen Zeitspanne zwischen Schützengrabenerlebnis und jähem Abbruch 1933 wie im Rausch.

In Frankreich entstand dagegen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein kontinuierliches intellektuelles Engagement für die Sache der Republik, das sich über Krisen und Brüche hinweg erstaunlich haltbare Organisationsformen schaffen konnte. Von 1892 bis 1939 existierte die Union pour l’Action Morale, die sich seit 1905 Union pour la vérité nannte, und an deren zumeist in einer Wohnung stattfindenden Treffen und Gesprächsrunden u.a. Berühmtheiten wie Jean Jaurès, Emile Durkheim, André Malraux, André Gide und Raymond Aron teilnahmen. Auch ausländische Gäste nutzten dieses Forum, um am geistigen Frankreich teilzuhaben: etwa Thomas Mann, Albert Schweitzer, Alfred Weber und viele andere. Es gehört zu den Verdiensten einer Kasseler Dissertation, die Geschichte dieser Intellektuellenassoziation erstmals aufbereitet und zudem in einen theoretisch ambitionierten Rahmen gestellt zu haben, der gewisse Lektüreanstrengungen erfordert:

Francois Beilecke: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation 1892-1939, Campus: Frankfurt/Main/New York 2003, 422 S., ISBN 3-593-37270-3; 49 Euro

Der Autor zeigt, wie Ideen über Personen, Zeitschriften, Bücher und Essays, Vorträge, Kongresse in andere Bereiche der Gesellschaft hineinwirkten und Netzwerke entstanden; er bündelt zudem das Krisendenken innerhalb der Union zu stimmigen Diskurstypen, die in variierter Form das intellektuelle Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägen konnten. Mit dieser Arbeit wurde eine Symbiose aus Intellektuellensoziologie und Diskursanalyse versucht, deren wichtigstes Ergebnis – die trotz aller inhaltlichen Wandlungen erstaunliche Kontinuität und Langlebigkeit republikanischen Engagements – zugleich die dauerhafte Existenz der Dritten Republik bis 1940 erklären soll. Darin wiederum wird die Macht der Ideen dann wohl doch überschätzt.

Oft ist schon darauf verwiesen worden, dass spezielle französische Bedingungen die Herausbildung einer soziologisch interpretierbaren Formation „Intellektuelle“ befördert haben. Vor allem ist das der Zentralismus, der bewirkte, dass das geistige Leben des Landes sich fast ausschließlich in Paris abspielte und somit eine kaum irgendwo sonst vorhandene räumliche Nähe unter den Geistesarbeitern schuf – eine idealtypische Großstadt im Sinne Simmels. Daneben muss auch auf die frühe, extrem hierarchisierte und einheitliche Elitenausbildung in der École normale verwiesen werden. So blieb man ein abgrenzbares Milieu über Jahrzehnte hinweg. Trotz aller politischen Entzweiungen zwischen links und rechts vermochten Intellektuelle im Frankreich des 20. Jahrhunderts das Land stärker zu prägen als ihre Kollegen anderswo. Und deshalb verwundert es nicht, dass gerade in Frankreich die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Intellektuellen nie aus der Mode zu kommen scheint (vgl. Beilecke 2001); eine theoretische Kategorie wie das „intellektuelle Feld“ (Pierre Bourdieu) konnte wohl nur unter diesen skizzierten Bedingungen entstehen.

Einer der wichtigsten Intellektuellenerforscher hat nun eine voluminöse Gesamtdarstellung dieses französischen Sonderwegs vorgelegt, für die er 1997 den Prix Méclicis in der Sparte „Essay“ erhielt:

Michel Winock: Das Jahrhundert der Intellek¬tuellen, UVK: Konstanz 2003, 885 S., ISBN 3-89669-948-2; 49 Euro

Dieses Jahrhundert unterteilt der Autor dreifach: in die „Ära Barrès“, benannt nach dem 1923 verstorbenen Dandy und reaktionären Nationalisten; die „Ära Gide“, geprägt durch den von Männern und zwischenzeitlich vom Kommunismus verführten Schriftsteller, der 1951 starb; und schließlich in die „Ära Sartre“, nach dem 1980 verstorbenen linken Geist, dessen Einfluss so stark war, dass uns noch heute automatisch sein Bild erscheint, sobald das Wort „Intellektueller“ fällt. Winocks brillant geschriebenen 62 Miniaturen machen den Wälzer zu einem Lesevergnügen zumindest für all diejenigen, die sich für Aberhunderte französischer Geister und deren zahllose Manifeste, Briefe, Intrigen, Kongresse, Skandale interessieren; auch dem drittrangigsten Chargen verschafft der Regisseur seinen Auftritt. Winock meißelt weiter am Denkmal: Es ist, trotz aller unbestechlicher Objektivität, eine Ruhmesgeschichte geworden, die zwischen Dreyfus-Affäre und dem Pariser Mai 1968 mit seinen Nachwehen in den 1970er Jahren durchaus eindrucksvoll inszeniert wird – so als ob die Gestalt des französischen Intellektuellen der wichtigste Beitrag des Landes zur Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts sei. Besonders verdienstvoll gerade für deutsche Leser ist die umfassende Darstellung des hierzulande zu Unrecht fast vergessenen Raymond Aron, jenem vielleicht wichtigsten antitotalitären Denker des Westens nach 1945. In dessen zahllosen erbitterten öffentlichen Auseinandersetzungen mit seinem früheren Ècole normale-Kameraden Sartre ist noch in der rückblickenden Lektüre der Pulverdampf des ideologischen Zeitalters sichtbar. 1979, kurz vor Ende ihrer beider Leben, kam es zum symbolischen Händedruck vor dem Élysée-Palast, als beide sich gemeinsam bei Präsident Giscard d’Estaing für die vietnamesischen boat people einsetzten. Beide sind auf dem Friedhof Montparnasse begraben.

Zehntausende waren Sartres Sarg dorthin bei seiner Beerdigung gefolgt, unter ihnen auch der 32jährige Bernard-Henri Lévy, der von dem ‚Meisterdenker“ (André Glucksmann) einst als „Agent der CIA“ beschimpft worden war. Gut zwei Jahrzehnte später hat Lévy, mittlerweile selbst ein omnipräsenter und vielfach angefeindeter Pariser Medienintellektueller, einen großangelegten Versuch unternommen, Leben und Werk Sartres zu rehabilitieren:

Bernard-Henri Lévy: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, Hanser: München 2002, 672 S., ISBN 3-446-20148-3; 32,90 Euro

Es ist ein eigenwilliges und selbstverliebtes Buch geworden, durchsetzt mit unzähligen rhetorischen Fragen, das bei seinem Erscheinen in Frankreich für Furore sorgte und ein großer Verkaufserfolg wurde. Lévy glaubt die zwei Körper des Intellektuellenkönigs entdeckt zu haben: den frühen fröhlich-nihilistischen Philosophen einerseits und ab ungefähr 1950 das optimistisch-messianische Sprachrohr des Kommunismus andererseits. Die Schizophrenien Sartres werden mit Verständnis präsentiert; dieser sei ein Produkt eines schizophrenen Jahrhunderts gewesen. Ob der Besuch bei den RAF-Terroristen in Stammheim, die Debatten im Pariser Mai 1968 oder die Ablehnung des Nobelpreises: der eigentliche Antrieb von Sartres exzessiver Existenz mit einem unglaublichen Ausstoß an Auftritten, Meinungen, Texten, Manuskripten, Büchern war die Angst vor dem Schweigen, das er vielleicht stärker fürchtete als den Irrtum. Hat er also mit seinen zahllosen Worten im doppelten Sinne überredet? Worin die Verführungskraft Sartres für so viele Zeitgenossen bestand, bleibt für die Nachgeborenen auch nach Lévys Porträt rätselhaft.

Jenseits des Kanals sieht ein linkes Denkerleben anders aus. Der britische Historiker, unerschütterlicher Marxist und Jazzliebhaber, hat seine Autobiographie als „B-Seite“ (Hobsbawm) seines Weltbestsellers über das 20. Jahrhundert Das Zeitalter der Extreme (München 1995) verfasst:

Eric Hobsbawm: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, Hanser: München 2003, 499 S., ISBN 3-446-20357-3; 24,90 Euro

Seine beeindruckende Karriere – er ist international erfolgreich wie nur wenige andere Historiker – lässt sich vielleicht auf eine spezielle Lösung des Theorie-Praxis-Problems zurückführen: In der Praxis des Historikers genügt Hobsbawm den Ansprüchen wissenschaftlicher Solidität, betreibt eher stilistisch ansprechende Sozialgeschichte denn die orthodoxe marxistische „Methode“, auf Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zu starren, bis jeweils die Revolution auftaucht. In der Theorie seines privaten und öffentlichen Lebens dagegen bleibt er fünfzig Jahre lang Mitglied der britischen KP. Er ist ein Kind der Zwischenkriegszeit, das in Wien seine Kindheit verbrachte und von 1931 bis 1933 in Berlin lebte, was ihn zum jungen Kommunisten formte. Seine Studienjahre später in England machten aus ihm den Wissenschaftler; sein politisches Engagement der späteren Jahre lebte sich, jenseits der Partei, hauptsächlich auf Kongressen

in aller Welt aus. Hobsbawm schildert ein umtriebiges Gelehrtenleben, dessen Resonanz in der bürgerlichen Welt von Buch zu Buch wuchs. Trotzdem möchte er seinen politischen Leidenschaften nicht abschwören – vielleicht blieb seine revolutionäre Seite über die Jahrzehnte hinweg zu theoretisch und er zu britisch-gesittet, um das für nötig zu halten.

Deutschland hat nach 1945 drei Intellektuelle von internationaler Ausstrahlungskraft hervorgebracht, auf deren Worte man noch heute jederzeit in der Presse aller Länder stoßen kann: Günter Grass, Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf. Alle drei sind immer noch mit Interventionen zur Stelle, wenn es darum geht, Bekenntnisse in öffentlichen Angelegenheiten abzulegen; Ermüdungserscheinungen sind nicht erkennbar. Doch unvermeidlich müssen auch sie allmählich ihrer Historisierung zuschauen, zusammen mit der ihrer anderen Altersgenossen aus der sogenannten „45er“-Generation.

Der Journalist und ehemalige Stern-Chefredakteur Michael Jürgs hat sich an einer Biographie von Günter Grass versucht (wie zuvor an Romy Schneider, Axel Springer und dem Tenor Richard Tauber). Gestützt auf „intensive Gespräche“ mit ihm und Menschen seines Umfelds, schrieb er ein Buch über die „Geschichte des Schriftstellers und Verfassungspatrioten, des Vaters und Großvaters, des Mannes, der die Frauen liebte“. So steht es im Klappentext und so liest sich das Buch dann auch:

Michael Jürgs: Bürger Grass. Biografie eines deutschen Dichters, C. Bertelsmann: München 2002, 447 S., ISBN 3-570-00576-3; 24,90 Euro

Der Autor verfolgt die Karriere von Grass „wie die aktive Laufbahn eines Sportlers“ (Jürgen Busche in der taz); immerfort wird gekämpft und triumphiert. Die bewundernde, keinerlei Abstand wahrende Sprache macht die Lektüre schwer erträglich; hierhin und dorthin wird gesprungen, was die Bewältigung der -immerhin – vertratschten Faktenfülle nicht erleichtert. Von subtiler Auseinandersetzung mit dem Werk des „wundersamen Romanverführers“ (Jürgs) kann ohnehin keine Rede sein. Aber es soll ja auch vor allem um den Bürger gehen, wie schon der Titel verheißt. Tatsächlich ist Jürgs jenseits der ästhetischen Gefilde eher auf seinem Terrain. Die Jahre des ewigen Wahlkämpfers für die SPD in der Brandt-Ära bis zum notorischen Mahner, der „andere mit seiner Meinung stört“ (Süddeutsche Zeitung), erscheinen bei Jürgs wie ein einziges Dauerengagement: Grass wusste, „wie man Reden schreiben musste und worauf es ankam, damit sie ankamen“ – das weiß immerhin sein Biograph. So neugierig man in ihr stöbert und so penetrant man ihren Gegenstand vielleicht finden mag: Diese Biographie entspricht nicht dem Rang des Literaturnobelpreisträgers, dessen 100.000 Briefseiten und 70.000 Manuskriptseiten im Archiv der Berliner Akademie der Künste wohl noch einige Zeit auf eine überzeugende Deutung warten müssen.

Wenn Günter Grass sich auch gegenwärtig für Rot-Grün in die Bresche wirft („Ich bewundere Gerhard Schröder für seine Standhaftigkeit bei den notwendigen Reformen der Agenda 2010″), so ähnelt er darin der Verkörperung deutschen kritischen Denkens nach 1945: Auch Jürgen Habermas erklärte 1998 dem Publikum im Willy-Brandt-Haus, warum es ganz gut wäre, Gerhard Schröder zu wählen. Und ein Jahr später wachte Habermas während der Lufteinsätze im Kosovo-Krieg ohne UN-Mandat als intellektueller Abfangjäger für Rot-Grün über die Front, was vom Verfasser der jüngst rechtzeitig zum 75. Geburtstag des Philosophen erschienenen rowohlt monographie übergangen wird:

Rolf Wiggershaus: Jürgen Habermas, Rowohlt Taschenbuch: Reinbek 2004, 155 S., ISBN 3-499-50644-0; 8,50 Euro

In der bewährten Manier dieser Reihe bietet der Autor einen gelungenen, von Sympathie getragenen Überblick über das Schaffen des Philosophen und Soziologen; darüber kommt der Intellektuelle und Bürger Habermas, dem begrenzten Raum dieser Buchreihe geschuldet, ein wenig zu kurz. Worüber man großzügig hinwegsehen könnte, entpuppte es sich nicht als Zentralproblem, wenn es um das Werk von Jürgen Habermas geht. Der zuerst nationale, später weltweite Erfolg seiner Theorien beruhte ganz wesentlich auf seiner öffentlichen Rolle. Seiner Forderung an jeden seiner Interpreten, diese unterschiedlichen Funktionen nicht „durcheinander zurühren“ (Habermas), wird kaum ein seriöser Biograph künftig entsprechen können. Leider ist bei Wiggershaus zuwenig von den Kehren des Denkers die Rede; in dessen Werdegang scheinen alle Fragen systematisch nacheinander gestellt und dann in der Folge logisch beantwortet worden zu sein. ,Kritische Theorie als Problemlösungsrezeptur im Geiste Poppers?`, möchte man ironisch fragen.

Einen „theoretisch anspruchsvollen, sozialwissenschaftlich informierten politischen Schriftsteller“: So hatte Habermas einst mit Sinn für die Nuance in einer Laudatio zum Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa seinen Jahrgangsgenossen Ralf Dahrendorf gekennzeichnet. Lord Dahrendorf, seit 1974 in England lehrend, hat nun seine „Grabrede auf mich selbst“ (David Hume) verfasst:

Ralf Dahrendorf: Über Grenzen. Lebenserinnerungen, C.H.Beck: München 2002, 189 S., ISBN 3-406-49338-6; 19,90 Euro

Wie die Wissenschaft ist auch die Autobiographie im wesentlichen eine Stilfrage. Einen herkömmlichen Text über sich hatte Dahrendorf geschrieben, ihn aber dann nicht veröffentlichen wollen, sondern noch einmal von vorne angefangen: Es sind Patchwork-Erinnerungen geworden, 22 meisterliche Vignetten seiner selbst, die nichtlinear erzählend wie ein Kaleidoskop die zahlreichen Leben des Grenzgängers zeigen. „Er war brillant – und er wußte es“, so hatte ihn Habermas als 25jähriger kennengelernt. Einiges an Eitelkeit findet sich auch in dem schmalen, geistvoll inszenierten und inszenierenden Band. Grund hierfür hat Dahrendorf allemal, im Alter von 29 Jahren Professor in Hamburg, der seine mit noch nicht 23 abgeschlossene Dissertation in der Buchfassung eben mal Marx in Perspektive genannt hatte und bei Adorno und Horkheimer nach einem Monat am Institut für Sozialforschung gekündigt hatte. Es liegt am auf Kindheit und die Jahre bis zum 29. Geburtstag konzentrierten Fokus seiner Erinnerungen, dass sein späteres Wirken nur partiell in den Blick kommt: der liberale Politiker, der 1968 mit Dutschke am Rande des FDP-Parteitags in Freiburg diskutiert, der Staatssekretär im Außenamt unter Walter Scheel, der EG-Kommissar, der liberale Theoretiker, der das „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ ausrief. Unruhe, Unstetheit, vielleicht auch Unkonzentriertheit kennzeichnen Dahrendorf – was bei vielen nur Schwäche wäre, wurde bei ihm auch zur Stärke: ein zwar wenig systematischer, aber dafür kreativer, anregender Geist.

Am 26. Oktober 1962 abends begann das Ereignis, das man als die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik bezeichnen könnte: die Spiegel-Affäre, die von Zeitgenossen mit der DreyfusAffäre verglichen wurde. Nach der Durchsuchung der Hamburger Redaktion und der Inhaftierung von Rudolf Augstein setzte eine bis dahin nicht erlebte Solidarisierungswelle ein; es formierte sich eine kritische Öffentlichkeit. In einem Buch, das auf einer Bielefelder Magisterarbeit beruht, wird nun dieses Ereignis rekonstruiert und theoretisch mit Hilfe von Kategorien der Intellektuellensoziologie sorgfältig interpretiert:

Dorothee Liehr: Von der Aktion gegen den Spiegel zur Spiegel-Affäre. Zur gesellschafts-politischen Rolle der Intellektuellen, Peter Lang: Frankfurt/Main u.a. 2002, 209 S., ISBN 3-631-39964-2; 35,30 Euro

Schriftstellerresolutionen und Professorenpetitionen kämpften für Augstein, konservative Kollegen wie Sebastian Haffner konvertierten und schrieben nicht mehr für Springer, sondern für den Stern und Konkret. Ein plötzlicher Umbruch erfasste das Land. Martin Walser lieferte ein Protestgedicht.; Bazon Brock schrieban Franz-Josef Strauss offene Briefe; Grass, Enzensberger, Bachmann, Johnson, Unseld telegrafierten von der Tagung der Gruppe 47, die gleichzeitig zu den Ereignissen in Hamburg stattfand, solidarische Grüße. Die geistige Landschaft der Bundesrepublik war nach allen Podiumsdiskussionen, Protestversammlungen und Fernsehstreitgesprächen dieser Wochen eine andere als zuvor.

Doch stand der westdeutsche Geist seither immer links? Freund und Feind hatten lange Zeit den ideellen und intellektuellen Siegeszug der Kritischen Theorie und die öffentliche Resonanz linksliberaler Schriftsteller entsprechend gedeutet. Darüber wurden liberale und konservative Intellektuelle in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Bundesrepublik bisher zu Unrecht vernachlässigt (vgl. Hacke 2001). Allmählich beginnt sich das nun zu ändern. Werk und Wirken des konservativen Historikers Golo Mann beispielsweise ist jüngst zum Gegenstand einer umfangreichen Biographie geworden:

Urs Bitterli: Golo Mann. Instanz und Außenseiter. Eine Biographie, Kindler; Berlin 2004, 708 S., ISBN 3-463-40406-5; 29,90 Euro

Der Schweizer Verfasser des Buches, bis zum Jahr 2001 Geschichtsprofessor an der Univer-sität Zürich, stützt sich auf den Nachlass Manns, den er extensiv ausgewertet hat – keinen Brief, keine Tagebuchnotiz, keinen Aufsatz aus der unübersehbaren Produktion Golo Manns scheint er ausgelassen zu haben. Viele Teile dieser systematisch angelegten Biographie werden deshalb von Textparaphrasen dominiert, was die Lesbarkeit oftmals stört. Mit 120 Seiten ist das Kapitel über den politischen Publizisten vielleicht zurecht das umfangreichste. Und hier tritt uns ein schillernder Vielschreiber entgegen, der von der Illustrierten Quick über die Welt bis zur Zeit alle mit Artikeln bestückt, die solche von ihm haben wollen – und darüber unglücklicherweise am Ende keine Zeit mehr findet, seine Erinnerungen zu vollenden. Seit den 1950er Jahren begleitete Mann den Werdegang der Bundesrepublik, offenbar befreit durch den Tod seines Vaters. Engagiert im Congress for Cultural Freedom, gab er früh Willy Brandts Ostpolitik publizistische Rückendeckung. Er verfasste Redeentwürfe für den Kanzler Brandt, schickte ihm bei Gefahr im Verzug auch schon mal Telegramme ins Kanzleramt, auf französisch, naiverweise in der Annahme, seine Mahnungen so vor Mitlesern im Amt zu schützen. Fragen der internationalen Politik trieben Mann immer wieder uni. Er war bei internen Gesprächsrunden des Kanzlers mit Intellektuellen wie Böll und Grass dabei: „Ich hätte ihm früher etwas helfen sollen; muss es von jetzt ab“, heißt es nicht ohne Hybris im Tagebuch. Der Bruch kam allmählich, aber umso heftiger: Hatte er schon früher scharf die Studentenbewegung kritisiert, machte ihm nun die Stärke der sozialdemokratischen Linken um das „Fräulein Dr. Wieczorek“ Sorgen; plötzlich polemisierte er auch gegen die zu weitgegangene Ostpolitik. Golo Manns irrlichternder politischer Weg führte von nun an weit nach rechts, nicht zuletzt unter dem Eindruck des RAF-Terrorismus: Franz-Josef Strauss wurde sein Held, dem er in peinlichen Elogen im Wahlkampf 1980 als Staatsmann huldigte, u.a. im Männermagazin Penthouse. In seinen Scharmützeln mit dem Zeitgeist, die er zeitlebens ausfocht (man lese die Passagen über seine Kämpfe mit Adorno und Horkheimer sowie seine ätzende Kritik am Jargon von Habermas), bleibt er im Grunde immer reaktiv; auch insofern kann man in Golo Mann die Verkörperung des konservativen Intellektuellen nach 1945 sehen. Was das hieß, wusste er schon 1947: „Ich bin auch wirklich ein Intellektueller […]; das heißt, ich weiss, dass Gott gewisse Aufgaben an mich gestellt hat, die ich erfüllen muss, wenn ich nicht als unerlöster Geist umgehen soll, in diesem und jenem Leben“. Die Rastlosigkeit war damit vorgezeichnet. Doch ob sein Geist erlöst wurde, mag man bezweifeln.

In den Erinnerungen einer anderen Zentralgestalt deutscher Bürgerlichkeit nach 1945 bekommt Golo Mann jedenfalls einen Platz von Bedeutung zugewiesen, in Form eines brillanten Psychogramms. Joachim Fest, lange Jahre Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Verfasser vieler Studien zur Geschichte des Nationalsozialismus, hat eine Porträtgalerie in Form von Erinnerungen an Weggefährten veröffentlicht, in gewohnt eleganter Manier:

Joachim Fest: Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde, Rowohlt: Reinbek 2004, 352 S., ISBN 3-498-02088-9; 19,90 Euro

Anhand seiner Gesprächsnotizen, die sich Fest unregelmäßig gemacht hatte und aus denen er oft zitiert, lässt er sie alle in durchaus überraschenden Konstellationen noch einmal Revue passieren: einsame Spaziergänge mit Ulrike Meinhof, begleitet von Wind und heftigen Debatten über die Gewaltfrage; Sebastian Haffner, über den er in England 1950 hört, er sei die bedeutendste zeitgenössische Persönlichkeit neben Churchill und de Gaulle; den konservativen Publizisten und Aphoristiker Johannes Groß, der antiintellektuell austeilen konnte: „Die politische Prosa von Günter Grass ist den Erzählungen von Rainer Barzel ebenbürtig“; Hannah Arendt, deren bekannte Liebesgeschichte mit Heidegger Fest hier unangenehm voyeuristisch ausbreitet; Dolf Sternberger, der Adorno „ein großes Unglück“, einen „Drogisten“ mit „Giftschrank“ nannte; Wolf Jobst Siedler, Journalist und Verleger, mit dem Fest eine verblüffende Interessengleichheit verband. Die Gründe, weshalb in Westdeutschland nach 1945 das Bürgertum nicht wie in der Weimarer Republik zum Gegner der Demokratie wurde, lassen sich am Beispiel Fest studieren – und vielleicht am besten anhand der Veränderungen in den ästhetischen Prämissen beschreiben: Für den Bürger waren Gottfried Benn und Thomas Mann keine einander ausschließenden Alternativen mehr wie noch Jahrzehnte zuvor. Sondern er konnte sie, wie Wolf Jobst Siedler, beide parallel zu seinen Hausgöttern machen. Das (Selbst-)Bild des konservativen Intellektuellen der Bundesrepublik allerdings, das Fest entwirft, ist aufs Ganze gesehen sicher geschönt: als „partisan of sinking ships“ (Lord Acton) u.a. mit „Nonkonformismus“ und einer „Prise Ironie“ ausgestattet. Zu spürbar sind die unterschwelligen Aggressionen gegen die Linke und Verletzungen durch die ideologischen Kämpfe, stilvoll maskiert.

Und die Zukunft der engagierten Geister? Die Neue Zürcher Zeitung veröffentlichte vor einiger Zeit eine Artikelserie, in der sich bedeutende Intellektuelle der Gegenwart Gedanken über sich selbst machten: über die künftigen Bedingungen der Möglichkeit intellektuellen Engagements. Dahrendorf, die Philosophen Michael Walzer und Axel Honneth, die Soziologen Sighard Neckel, Dirk Baecker, Heinz Bude und Wolfgang Sofsky, der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht und der britische Publizist Jan Buruma und viele andere beteiligten sich an der geistreichen Debatte. In einem Taschenbuch finden sich die Beiträge wieder, leider ohne Nachweise des Erstdrucks:

Uwe Justus Wenzel (Hg.): Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden, Fischer Taschenbuch: Frankfurt/Main 2002, 188 S., ISBN 3-596-15332-8; 12,90 Euro

Der Soziologe als Prophet: Heinz Bude beschreibt den kommenden (und bereits sichtbaren) Personalaustausch in den intellektuellen Debatten. Mediziner und Biologen würden diese künftig dominieren; „Gesellschaft“ dürfte als Bezugsgröße hinter dem „Leben“ zurücktreten, der Kritiker durch den Definierer abgelöst werden. Wie ein roter Faden zieht sich durch dieses sicher interessanteste Buch zum Thema die klassische Frage nach dem korrekten Rollenverhalten der Intellektuellen: Sollen sie dem Princeton-Philosophen Walzer folgen und als connected critic durch spezielle Tugenden in die Gesellschaft eingebunden agieren? Oder sollen sie auf seinen deutschen Kollegen Honneth hören, der den Intellektuellen ganz im Ge-genteil ein „inneres Ausland“-Gefühl wünscht, jenen Abstand also, der Diagnose und Kritik erst möglich macht? Womöglich ebenfalls eine Stilfrage.

Prognosen über das künftige Rollenspiel sind riskant. Andere intervenierende Gespenster werden vielleicht die klassischen engagierten Geister noch weiter verdrängen. Es wird zu neuen Mischungsverhältnissen kommen, in denen der Intellektuelle aber erkennbar bleiben wird, wie seit Jahrhunderten. Vielleicht täte es den engagierten Geistern auch ganz einfach gut, eine Zeitlang nur „kritische Seismographie“ zu treiben, so wie es Karl Heinz Bohrer im zuletzt erwähnten Band vorschlug – um sich dann, nach Ressourcenverstärkung und erneutem Phasenwechsel, wieder ins Getümmel zu stürzen. Dieser „Einsamkeitslehre“ (Bohrer) zwecks Schärfung des kritischen Arsenals folgte schon einmal jemand höchst erfolgreich: Petrarca in seinem einsamen Refugium in Vaucluse.

Literatur

Beilecke, François 2001: „Der Intellektuelle ist tot, es lebe der Intellektuelle?“ Anmerkungen zur neueren französischen Intellektuellenforschung; in: vorgänge 156 (Heft 4, Dezember) „Intellektuelle ohne Macht?“, S. 41-49

Hacke, Jens 2001: Skepsis und Kompensation. Rückblick auf eine liberalkonservative Intellektuellengeneration in der Bundesrepublik; in: vorgänge 156 (Heft 4, Dezember) „Intellektuelle ohne Macht?“, S. 18-27

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