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Vom „58er” zum „68er”. Ein biogra­phi­scher Rückblick

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 1-6

Das Leben richtet sich nicht nach Jahrzehnten. Die „60er Jahre” beginnen für mich 1958. Ich wurde damals 30; hatte nach dem Krieg (in dem ich ein Jahr Luftwaffenhelfer war und nach kurzer Kriegsgefangenschaft auf dem Lande gearbeitet, eine Lehre als Werkzeugmacher absolviert, war in die IG Metall und 1954 in die SPD eingetreten. Ich begann nach einem (von der Studienstiftung unterstützten) Jura-Studium in Münster/Westfalen und zusätzlichen Studien in anderen Wissenschaften und an anderen Orten (Bristol und Bologna) in Münster meine Referendarzeit. Ich arbeitete an einer Dissertation, war Korrekturassistent, nahm am Collegium philosophicum von Joachim Ritter teil und gehörte seit meiner Rückkehr aus Italien 1957 auch dem sozialdemokratischen „Sozialistischen Deutschen Studentenbund” (SDS) an. Das Jahr 1958 führte zu vier Freundschaften, die in den sechziger Jahren zu wichtigen Bezugspunkten meines Lebens wurden: Ich begegnete Ulrike Meinhof und Monika Mitscherlich, Peter von Oertzen und Wolfgang Abendroth.

Ulrike Meinhof kam im Februar 1958 in die Münsteraner SDS-Gruppe und warb für den Aufbau einer studentischen Gruppierung gegen die atomare Aufrüstung. Ich habe nur wenige Menschen kennengelernt, die wie sie fähig waren, Menschen so zu politisieren. Auch ich – damals nicht gerade unpolitisch – wurde durch ihren konzentierten politischen Willen (und die Adenauer-Restauration) neu angestoßen. Doch mich störte im Laufe der Zeit immer mehr ein hartes Entweder-oder. Wir bildeten einen studentischen „Arbeitskreis für ein kernwaffenfreies Deutschland”. Damals entstand an den Universitäten eine studentische Anti-Atombewegung. In kurzer Zeit veränderten wir – eine Gruppe von 18 Leuten – das politische Leben der Universität. Ulrike und ich haben Flugblätter und andere politische Texte gemeinsam geschrieben. Wir waren uns sehr nahe. Für sie ging es darum: „Was sagen wir einst unseren Kindern, wenn sie uns fragen, was habt ihr damals gegen einen neuen Faschismus getan?” Für mich ging es von Anfang an auch darum, daß diese Bewegung nicht von den Parteigängern des DDR-Regimes „verheizt” wurde. Wir haben um den Vorrang der Bewegung gegenüber solchen Interessen gerungen; als Ulrike kam, war sie das, was man damals „Fellow traveller” nannte, dann stieß sie im Herbst 1958 fest zu dem von mir nicht nur politisch abgelehnten Klaus Rainer Röhl und der Gruppe um die ost-finanzierte Zeitschrift „konkret” (nach Angaben von Röhl wurde Ulrike Meinhof später Mitglied der illegalen KPD).

Damals war die Einbindung der wenigen Studierenden, die mit der KPD sympathisierten oder mit ihr liiert waren, im Rahmen der besonderen Struktur der kleinen SDS-Gruppen eine Gegebenheit. Einige von ihnen wurden später treue SPD-Mitglieder. Nach dem spektakulären Anti-Atomkongress Anfang 1959 in Berlin, der wegen des Begriffs „interimistische Konföderation“ zu einem Eklat führte, schalteten sich SPD und Westpolitik der DDR ein. Die studentischen Anti-Atomausschüsse und der SDS wurden vor die Frage gestellt: Für wen seit ihr? Das hat sie zerrieben. Damals habe ich gelernt: Sowohl SPD als auch KPD fürchten jeden unabhängigen Ansatz; beide haben in jahrzehntelangen Auseinandersetzungen Methoden entwickelt, jeden Keim dazu zu zertreten. Im Frühjahr 1959 hatte die „konkret” -Gruppe alle Schaltstellen der studentischen Atombewegung besetzt. Doch es ging ihr wie dem König Midas: Es war nur ein Scheinerfolg, die studentische Anti-Atombewegung verschwand; übrig blieb für die „konkret” – Gruppe nichts als eine Handvoll neuer Leute vermutlich auch mehr Gelder aus der DDR)

Monika Mitscherlich hatte ich im Sommer 1958 m der studentischen Anti-Atombewegung kennengelernt. Wir wurden im Herbst beide in den fünfköpfigen Bundesvorstand des SDS gewählt. Für uns bedeutete das Ende der studentischen Anti Atombewegung Konzentration auf die Arbeit im SDS. Sozialistische Positionen — wie sie damals vor allem Abendroth, von Oertzen und Fritz Lamm vertraten — waren für mich in doppelter Hinsicht wichtig zur Abgrenzung von kommunistischer Politik: Einmal als Alternative zum Stalinismus; zum anderen gegenüber dem bloßen „Friedenskampf”, wie ihn die Interessenvertreter der DDR damals im Blick auf die Gründung einer parteipolitischen Alternative (,‚Deutsche Friedensunion“, gegründet 1960) betrieben. Marx und vor allem Rosa Luxemburg, Georg Lukács, Ernst Bloch und die Kritische Theorie gaben ein Fundament m einem nach zwei Seiten geführten Konflikt. Wir hatten die rechten Genossen, die den SDS als ein Sprungbrett für eine Parteikarriere ansahen, aus dem Bundesvorstand des SDS abgewählt. Diese Leute versuchten nun, uns gegenüber dem Parteivorstand der SPD madig zu machen; zugleich gab es im Verband Leute aus dem Umkreis von „konkret” oder der illegalen KPD, die einen Unvereinbarkeitsbeschluß der SDP gegenüber dem SDS zu provozieren suchten, um den SDS zueinem Faktor bei der Gründung einer Friedenspartei zu machen.

In dieser Phase wurde für mich die Zusammenarbeit mit Peter von Oertzen und Wolfgang Abendroth wichtig. Beide waren, als ich sie kennenlernte, in der Redaktion des monatlich erscheinenden Blättchens ,Sozialistische Politik“ (1454-1966) tätig. Ich schrieb Beiträge, die meist mit der Überschrift „Diskussion” versehen wurden. Bald habe ich selbst an Redaktionssitzungen teilgenommen. Diese Sitzungen und die SOPO waren für meine sozialistische Sozialisation von großer Bedeutung. Von Abendroth lernte ich nicht nur den Kampf um Verfassungspositionen, sondern auch die Analyse von Kräfte- und Klassenkonstellation; Erich Gerlach vermittelte mir durch seine prägnanten ökonomischen Analysen mehr als alle Lehrbücher; durch ihn lernte ich auch den mir damals völlig unbekannten Anarcho-Syndikalismus kennen. In der Redaktion gelang es vorübergehend unterschiedliche sozialistische Positionen zusammenzubringen: revolutionär denkenden, aber realistischen Reformismus, libertären Anarcho-Syndikalismus und trotzkistischen Internationalismus. Ernest Mandel fand ich damals beeindruckend; dennoch war ich mir bald klar: Vom Trotzkismus kann man lernen; aber das ist nicht mein Weg. Erich Gerlach und Peter von Oertzen machten mich auf Karl Korsch aufmerksam. Orientiert habe ich mich auch an der sozialistischen, aber strikt antistalinistischen Zeitschrift „Funken” (herausgegeben von Fritz Lamm und Fritz Opel). Mit von Oertzen, der später in Distanz zu Abendroth ging, gab es für mich und meine Freunde eine sehr enge Zusammenarbeit mit linken Sozialdemokraten in dem der Öffentlichkeit gegenüber abgeschirmten „Elzer Kreis” und dann in der Zeitschrift „Arbeitshefte”. In dieser Zeitschrift ging es um die Rolle der Gewerkschaften, um Mitbestimmung und Arbeiterselbstverwaltung. Die Gewerkschaften erschienen uns als eine dritte Ebene. Bald galt ich als ein „Gewerkschaftstheoretiker”.

Wir verstanden den SDS als einen theoretisch fundierten, zugleich politisch eingreifenden Studentenverband. Demokratischer Sozialismus war sowohl eine Alternative gegenüber Adenauer als auch gegenüber Ulbricht. Eine linkssozialistische Partei haben weder ich noch die Mehrheit meiner Freunde angestrebt. Wir orientierten uns an der IG Metall. Wir wußten, die Grenze zu dem, was damals als „demokratische Politik” definiert wurde, verlief am linken Rand der SPD. Im „Initiativ-Ausschuß für die Amnestie und der Verteidiger in politischen Strafsachen” hatte ich erfahren, was nur wenige in der Bundesrepublik wußten; Bei der Verfolgung von Kommunisten und allen, die man diesen zurechnete, wurden rechtstaatliche Prinzipien schwer verletzt. Eines der prägendsten Erlebnisse in diesem Zusammenhang war das Auftreten und das evangelische Pathos des damaligen Rechtsanwaltes Dieter Posser (Freund von Gustav Heinemann und später SPD-Minister in Nordrhein-Westfalen): „Das kann doch nicht rechtens sein!”

In der SPD bleiben, hieß Kröten schlucken. Doch gab es auch erfreuliche Begegnungen, beispielsweise mit Waldemar von Knöringen und Fritz Erler. Wir stellten die Mitarbeiter von „konkret” vor die Alternative entweder SDS oder „konkret”. Ich formulierte den Beschluß (und die Begründung) über eine Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft im SDS und der Mitarbeit in der „konkret”-Gruppe. Im Klima des blinden Antikommunismus sagte ich nicht, ihr betreibt DDR-Politik denn das hätte Staatsanwälte an den Plan gerufen), sondern „konkret” ist „keine sozialistische Zeitung” und „konkret” hat sich „verbandsschädigend” verhalten und „einen Keil zwischen SDS und SPD getrieben”. Wer aus diesem Vorstandsbeschluß keine Konsequenzen zog, wurde aus dem SDS ausgeschlossen. Das bedeutete nicht nur einen harten politischen Eingriff in die meist kleinen SDS-Gruppen, sondern die Ausschaltung der politischen Freunde von Ulrike Meinhof aus der SDS-Arbeit. Das fiel mir schwer. Ulrike Meinhof ging von Münster nach Hamburg und meldete sich bei der Hamburger SDS-Gruppe nicht wieder an.

Doch all unsere Bemühungen um die SPD blieben erfolglos. Als ein „Sozialdemokratischer Hochschulbund” (SHB) gegründet wurde,  brach die SPD jeden Kontakt mit uns ab. Das hieß auch, SPD-Mitgliedern, die im SDS waren, wurde vom SPD-Parteivorstand jedes Gespräch verweigert. Dieses Verhalten (wir sprachen damals von einem „Stalinismus von rechts”) hat wesentlich zu unserer Reaktion beigetragen. Nicht zuletzt unter dem Einfluß von Oertzens hatte der Führungskreis im SDS beschlossen (es war 1960 am Tage nach der Hochzeit Mitscherlich / Seifert), den SDS aufzulösen, um unsere SPD-Mitgliedschaft zu behalten. Doch von Herbert Wehner, Helmut Schmidt und anderen wie der letzte Dreck behandelt, verhielten wir uns „existentialistisch” : „Wir brechen uns selbst das Rückgrat, wenn wir jetzt klein beigeben.“ Beschlüsse und stundenlange Debatten galten nichts mehr im Augenblick der Entscheidung. Wer unsicher war, wurde fast immer durch die Entschiedenheit von Monika Seifert überzeugt. Wir hatten in den Monaten zuvor die Distanzierung der SPD uns gegenüber genutzt. Viele Studierende waren zu uns gekommen, weil wir jetzt „offiziell” parteiunabhängig waren. Nun fragten noch mehr, wie können wir euch unterstützen? Wir wußten, daß wir nicht allein standen. Da waren Soziologen, die zu uns hielten (wie Jürgen Habermas und Hans Paul Bahrdt), Politologen, die sich unseretwegen aus der SPD ausschließen ließen (wie Wolfgang Abendroth) oder aus der Partei austraten (wie Ossip K. Flechtheim), da standen Sozialdemokraten und Gewerkschafter zu uns (wie Walter Hesselbach und Otto Brenner), da erklärten politische Frauen wie Helga Einsele und Carola Stern ihre Solidarität.

Wir brauchten diese Solidarität. Wer von uns halbwegs namhaft war, wurde aus der SPD ausgeschlossen. Das bedeutete nicht nur gesellschaftliche Ausgrenzung, sondern auch hoheitliche Verrufserklärungen (zielend auch auf Beeinträchtigung der ökonomischen Existenz). Da tauchte ein Herr beim Rektor der Technischen Hochschule in Darmstadt auf und sagte. „Wissen Sie, wen Professor Gurland als Assistent eingestellt hat?” Der Emigrant Arkadij Gurland, seit seiner Jugend Sozialdemokrat, antwortete: „Ich weiß es, denn Herr Seifert berichtet mir sehr genau über seine politische Tätigkeit.” Da unterrichte jemand Werner Hansen, Mitglied des Bundesvorstandes des DGB; Hansen schrieb daraufhin einen Brief an Walter Fabian, Chefredakteur der „Gewerkschaftlichen Monatshefte”, in dem es heißt: „Vielleicht dürfte Dir nicht bekannt sein, daß Jürgen Seifert Ende 1961 wegen seiner Tätigkeit als führender Funktionär des SDS ausgeschlossen wurde.“ Walter Fabian, ebenfalls Emigrant, ließ mich weiter schreiben. Meine erste Buchveröffentlichung über die Notstandsgesetzgebung konnte nur erscheinen, weil der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (wiederum ein Emigrant) durch ein Vorwort für mich eintrat. Auch die Weichenstellungen von Peter von Oertzen für Oskar Negt und mich vor den Ernennungen zum Ordinarius 1970/71 gehören in diesen Zusammenhang.

Die eigene Ausstoßung hat mich sensibler und fähig gemacht, Ausgrenzungen besser entgegenzutreten. Allerdings habe ich fortan jeden politischen DDR-Kontakt vermieden. Die Wunden sind vernarbt, doch gibt es noch immer Situationen, in denen sie aufbrechen. Dann ahne ich, was diejenigen leiden, die solche Solidarität nicht erhalten.

Die Unabhängigkeit gegenüber der SPD erwies sich als Befreiungsakt. Wir konzentrierten uns nun auf politische Alternativen. Die Sache stand im Vordergrund. Wir schrieben eine Hochschuldenkschrift, die später in Teilen von der SPD als Hochschulreform umgesetzt wurde. Wir glaubten, Industriesoziologie in gewerkschaftlicher Arbeit in Richtung Arbeiterselbstverwaltung übertragen zu können. Wir entwickelten rechtspolitische Gegenpositionen gegenüber dem Erosionsprozeß der rechtsstaatlichen Demokratie. (u. a. die Aufarbeitung der „Ungesühnten NS-Justiz”, Aktionen in der SPIEGEL-Affäre, Aufklärung über die Notstandsgesetzgebung und politische Strafjustiz). Wir entdeckten die Psychoanalyse, lasen Wilhelm Reich, Texte der Frankfurter Schule und entwickelten das, was dann zur antiautoritären Bewegung wurde. Wir suchten neue Formen internationaler Solidarität durch Hilfestellung im französischen Algerien-Krieg (und dann vor allem im Vietnam-Krieg). Wir verstanden uns (in Anlehnung an vergleichbare Ansätze in England, Frankreich und den USA) als „Neue Linke”. Wir übernahmen von dort neue Aktionsformen. Wir entwickelten — trotz der Finanzprobleme — in der Zeitschrift „neuen kritik” interessante Diskussionen. Wir konstituierten auf einer anderen Ebene als SPD und KPD eine öffentlich anerkannte „nichtkommunistische Linke“.

Ich wirkte in Theorie und Praxis mit an der Entstehung einer Protestbewegung, die später zum Mythos „1968” wurde. So bin ich nicht nur „58er“, sondern auch etwas „68er”. Mein Feld war bald die Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze, die im Jahre 1968 ihren Höhepunkt erreichte. Ich war auch beteiligt an dem, was Monika Seifert (durch die Gründung der Frankfurter Kinderschule 1967) in der antiautoritären Protestbewegung realisierte. Allerdings wollte ich nur noch in Sachen Notstandsgesetze Wortführer sein. Ich hatte Unbehagen gegenüber der für mich überzogenen Sicherheit dieser Protestbewegung.

Der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetzgebung habe ich sechs Jahre meines Lebens gewidmet. Heute will man vielfach nicht mehr wahrhaben, in welcher Weise die Pläne zu einer Grundgesetzänderung die Demokratie in der Bundesrepublik bedrohten. Ich war tätig sowohl als Initiator von Widerstand und Bewegung als auch als Berater auf verschiedenen Ebenen. Das reichte vom SDS zur Theologischen Sozietät Baden, von der IG Metall bis zur FDP-Bundestagsfraktion, von Basisbewegungen in Betrieben und Schulen bis zur SPD-Gruppe in der Bundestagsfraktion um Hans Matthöfer. Ich habe auf zwei Schultern getragen: Verbreiterung des grundsätzlichen Neins zur Notstandsgesetzgebung, um auf dieser Basis inhaltliche Veränderungen durchzusetzen. Das war eine Gratwanderung.

Ich ging angesichts der Beschlußlage der Gewerkschaften davon aus, daß es unmöglich sei, die Notstandsverfassung zu verhindern. Für mich kam es seit Ende 1962 darauf an, eine Auffangposition vorzubereiten. Die SPD bejahte die Notstandsverfassung grundsätzlich und war damit den Manipulationen der Regierung ausgeliefert; die Gewerkschaften und die anderen Notstandsgegner mußten auf dem grundsätzlichen Nein beharren; dabei versuchte ich, (und wurde dabei unterstützt) Giftzähne zu ziehen, damit die Sache ungefährlich wurde oder die Promotoren dieser Politik, die Lust an diesem Unternehmen verloren. Das Ergebnis ist bekannt: Auf der verfassungsrechtlichen Ebene haben die „Notstandsgegner”, gesiegt (die Sicherungen haben bis heute gehalten), politisch war es eine Niederlage. Ich habe damals nicht die verfassungsrechtlichen Erfolge betont, sondern die verbliebenen Gefahren.

Das, was ich machte, bezeichnete ich (in Anlehnung an Rudolf von Iherings „Kampf ums Recht”) als „Kampf um Verfassungspositionen”. Es es ging mir darum, die demokratische und rechtsstaatliche Substanz der Verfassung gegen einen neuen Faschismus oder ein autoritäres  System zu verteidigen. Im Unterschied zu Ulrike Meinhof und ihren Freunden habe ich rechtzeitig die Problematik des bei den „konkret“- Leuten üblichen Faschismusverdikts erkannt. Dabei hat mir ein Freund geholfen: „Phänomen der sterbenden Zeit. Ich habe in den letzten 20 Minuten gezählt, wie oft du das Wort Faschismus gebraucht hast. Hast Du keine anderen Kategorien? Wann hast du das letzte Buch gelesen?” Der Verfassungskampf gegen autoritative Tendenzen ist in meinen Augen nicht das Ziel von Politik, sondern ist nur ein Ausgangspunkt für Politik, die auf einer anderen Ebene eingreifen muß.

Ich habe nach 1968 weiterhin versucht, politische Demokratie zu sichern; zunächst vor allem durch die Verteidigung persönlicher und politischer Rechte (seit 1968 in der Zeitschrift „kritische Justiz fast    1 1/2 Jahrzehnte im Vorstand der Humanistischen Union und seit 10 Jahren in der Redaktionsarbeit der „vorgänge“); bei diesen Aktivitäten teilweise auch durch Versuche, Demokratie zu erneuern (jetzt besonders in der Vorarbeit für neue Länderverfassungen, im  „Verfassungskuratorium” und bei der Reform von Polizei und Verfassungsschutz in Niedersachsen).

Nachhaltiger beeinflußt ist das demokratische Verhalten von Menschen in der Bundesrepublik möglicher Weise durch das, was Monika Seifert im Bereich der antiautoritären Erziehung in Gang setzte. Ich dachte zunächst, es ginge nur um eine angemessene Erziehung unserer Tochter Anna. Dann erkannte ich, daß die eingerichtete Kindergruppe und das Prinzip „Selbstregulierung” mehr bedeuten, auch mich und autoritäre Strukturen der Gesellschaft in Frage stellte. Monika Seifert wollte eine Veränderung der Kindergarten und versuchte dies durch sogenannte „Kinderläden” zu realisieren, in denen Kinder fähig werden sollten,  „sich selbst zu regulieren”. Diese Formel war eine Antwort auf die damalige Fremdbestimmung in der Erziehung. Monika Seifert orientierte sich neben Wilhelm Reich vor allem an A. S. Neil. Ihr Ansatz provozierte andere Gruppen, die in der Ersetzung autoritärer Erziehung durch eine (doktrinierende)  „sozialistische” einen Fortschritt sahen. Auch auf dieser Ebene kippten  „Jung-68er” den ursprünglichen Ansatz um. Mich hat die „Kinderladenbewegung” verändert. Doch habe ich auf diesem Gebiet das Schreiben Monika Seifert überlassen.

Zur antiautoritären Bewegung gehörten die „begrenzte Regelverletzung” und eine spezifische Provokationstechnik, die das Ziel verfolgt  (dank einer Überreaktion der Polizei), Solidarität hervorzurufen. Beide Techniken haben sich in der politischen Auseinandersetzung verselbständigt. Instrumente zum Beseitigen von Publizitätsbarrieren und zum In-Gang-Setzen von massenhaften Aufklärungs- oder Solidarisierungprozessen wurde (in einer „Romantik der Illegalität”) reduziert auf den Gesetzesbruch als kriminellen Akt. Die RAF kam dadurch zu der irrealen Vorstellung, man müsse Faschismus provozieren, um dadurch Gegenkräfte zu mobilisieren (oder der DDR den Nachweis für Faschismus in der Bundesrepublik zu liefern).

1969 wandte ich mich gegen die ersten Ansätze einer neuen „Romantik der Illegalität”. Als Ulrike Meinhof in der Baader-Befreiung verwickelt wurde, war ich erschrocken. Ebenso ging es mir bei den Aktionen der RAF. Die alte Freundschaft von Monika Seifert und mir zu Ulrike Meinhof (die von politischen Meinungsunterschieden absehen konnte) machte uns damals verdächtig. Gegen Monika Seifert lief ein Ermittlungsverfahren, das Aufsehen erregte, aber eingestellt wurde. Ich habe Erfahrungen sammeln können, wie Hausdurchsuchungen, Observationen, offene Beschattung und ähnliches auf Betroffene wirken.

Mein Eintreten für den Hannoverschen Psychologie-Kollegen Peter Brückner (der 1972 beschuldigte wurde, Ulrike Meinhof beherbergt zu haben) und mein „Plädoyer wider die Ächtung des politischen Gegners” wurden nicht verstanden. Der Unterschied zwischen einer von mir abgelehnten „politischen Solidarität” (als Identifizierung) mit der RAF und der von mir geübten Sensibilität für die Opfern von Verstrickung und dem selbstverständlichen Eintreten für die Errungenschaften des Rechtsstaates auch gegenüber Gewalttätern wurde damals (von beiden Seiten) nicht erkannt. Für die einen war ich ein „Brandstifter der Demokratie” (so ein CDU-Repräsentant) oder ein „Sympathisant des Terrorismus” (so ein „Verfassungsschützer” in Niedersachsen), für die anderen wurde ich (so ein Flugblatt aus dem Umkreis der RAF) zum „Faschisten Seifert”. Es herrschte Freund-Feind-Denken. Dazu kamen Versuche, Solidarität zu erpressen. Ich habe in diese Zeit unter der (wie ich es dann nannte) „bleiernen Solidarität” gelitten, weil Solidarität dabei damals verheizt, kurz: um ihre produktive Kraft gebracht wurde.

Nicht disziplinarrechtliche Vorermittlungen (wegen einer Solidaritätsrede für Brückner) haben mich blockiert. Auch neue Ausgrenzungen habe ich ertragen. Gelähmt hat mich jedoch die Provokation politischer Freunde, die als „organisierte Selbstbefreiung” definiert wurde, aber (im Widerspruch zu hehren Zielen) Solidarität zum Nutzen der eigenen Politik verrechnete. Es dauerte lange, bevor ich dieses Kalkül erkannte und mich befreite. 

In meiner Sicht sind die Voraussetzungen für ein Ineinandergreifen des Kampfes um Verfassungspositionen und gesellschaftsverändernder Praxis gegenwärtig nicht gegeben. Vielleicht liegt das an der zunehmenden Arbeitsteilung, der vorherrschenden Fragmentierung von Politik und dem Unvermögen, globale Kapitalbewegungungen, gesellschaftliche Zusammenhänge und politische Frontstellungen noch wahrzunehmen. Wenn man mich fragt, ob ich Sozialist bin, sage ich Ja; aber ich kann „Sozialismus” (der in meinen Augen nur weltweit möglich ist) heute nur unscharf bestimmen und vermeide deshalb dieses Wort.

Meine Tätigkeit wird (auch wenn ich darüber hinaus will) gegenwärtig verengt auf das zwar wichtige, aber nicht ausreichende Eintreten für die Erhaltung der Substanz der Menschen- und Bürgerrechte.

Meine Biographie zeigt: Es gibt in der alten Bundesrepublik seit Jahrzehnten eine meist nicht wahrgenommene Bürgerrechtsbewegung. Für mich waren das 35 Jahre meist leidenschaftlicher Auseinandersetzung.

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