Themen / Demokratisierung

Die Demon­s­tra­ti­ons­frei­heit und die Polizei-Pa­ra­gra­phen des StGB

01. August 1970

Aus: vorgänge Heft 8-9/1968, S. 305/306

(vg) In diesem Jahr der politischen Demonstrationen in der Bundesrepublik ist bei kritischen Juristen und Staatsbürgern ein Grundrechtsproblem in den Vordergrund gerückt: wie nämlich die im kaiserlichen Strafgesetzbuch von 1871 kodifizierten Paragraphen, die sich gegen Demonstrationen richten bzw. auswirken (also etwa: Auflauf, Aufruhr, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Landfriedensbruch u. a.) unter der Herrschaft des Grundgesetzes, speziell der Grundrechte der Meinungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, zu verstehen und auszulegen seien.

Der Gesetzgeber hat bisher versäumt, die einschlägigen Paragraphen unter diesem Gesichtspunkt zu reformieren. Anderseits ist aber auch die Rechtsprechung durch das Grundgesetz verpflichtet, bei ihrer Gesetzesauslegung die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht so zu berücksichtigen, daß sie das einfache Gesetz an dem von ihnen gesetzten Maßstab prüfen. Was bisher an Urteilen der Gerichte gegen Demonstranten bekannt wurde, läßt nicht erkennen, daß unsere Justiz dieses Verhältnis von Grundrechten und Strafgesetz-Paragraphen angemessen abzuwägen in der Lage ist. Vielmehr häufen sich die Urteilssprüche, die Demonstranten wegen des alten kaiserlichen Prinzips der „Sicherheit und Ordnung” bestrafen, teils zu übermäßigen Strafen und meist mit sehr autoritären Begründungen. Hier folgen nun ein Bericht über Gerichtsverhandlungen in solcher Sache und eine Verfassungsbeschwerde. Sie haben den Vorteil, daß sie sich nicht auf die sachlich „explosiveren” Osterdemonstrationen beziehen, sondern auf den vergleichsweise „harmloseren” Fall der Demonstrationen im Stadtstaat Bremen gegen Erhöhungen der Straßenbahntarife im Januar dieses Jahres. An ihm läßt sich das gegebene Problem vielleicht mit geringerem emotionellen Aufwand studieren.

Der Ortsverband Bremen der Humanistischen Union bemüht sich seit Anfang dieses Jahres intensiv um eine Aufklärung der Problematik, die manche jüngen Bremer Bürger sehr direkt betrifft, zugunsten des Grundrechts der Demonstrationsfreiheit. Am Demonstrationsfall Bremen ließe sich unter Umständen erreichen, daß unsere Justiz zu einer freiheitlicheren und demokratischeren Klärung der bestehenden Diskrepanz zwischen Grundrechten und „Polizei“-Paragraphen des Strafgesetzbuches kommt.

Der bekannte Strafverteidiger Rechtsanwalt Heinrich Hannover (auch als Autor der Vorgänge seit langem bekannt) hat verschiedene bremische „Demonstrationstäter” vor Gericht vertreten, hat vom Gericht nicht Recht bekommen und hat, weil es um eine prinzipielle Klärung geht, inzwischen den Weg der Verfassungsbeschwerde beschritten.

In dem hier dokumentierten Fall hat der Jugendrichter in erster Instanz eine Verurteilung ausgesprochen, die Jugendkammer des Landgerichts in zweiter Instanz die Berufung verworfen. Weil das am Tage der erstinstanzlichen Verhandlung niedergeschriebene Protokoll des Verteidigers über deren Verlauf das gegebene Problem lebendiger und verständlicher dokumentiert als die ergangenen Urteilstexte, veröffentlichen wir hier an erster Stelle diesen, natürlich „subjektiven” (aber Urteile sind letztlich auch „subjektiv”) Bericht.

Bemerkenswert für die Sache ist der Umstand, daß der „Angeklagte”, .dem ein Vergehen des »Auflaufs« vorgeworfen wurde, sich nicht, wie in manchen anderen gleichartigen Prozessen, darauf berufen hat, er habe die Aufforderung der Polizei, sich zu entfernen, nicht gehört oder ihr nicht Folge leisten können, sondern daß er wegen des höherrangigen Grundrechts der Demonstrationsfreiheit der Aufforderung der “Staatsgewalt” bewußt mit „demokratischem Ungehorsam” begegnet ist. (Zur prinzipiellen Bedeutung solchen Ungehorsams gegen die Staatsgewalt vergleiche man die allgemeinen Ausführungen von Generalstaatsanwalt Fritz Bauer über „Ungehorsam und Widerstand” im Hauptaufsatz dieses Heftes.)

Bericht über zwei Verhand­lungen vor dem Jugend­ge­richt Bremen am 23. Februar 1968

I.

Am heutigen Tage (23. 2. 1968) habe ich als Strafverteidiger an den Verhandlungen des Jugendgerichts Bremen gegen die minderjährigen Wolfgang Schwiebert (Aktenzeichen: 104 Ds 32/68 jug) und Herbert Jegodtka (Az.: 12 Js 168/68 jug) teilgenommen. Als Einzelrichter fungierte Landgerichtsrat Dr. Landscheidt, als Jugendstaatsanwältin Frau Staatsanwältin Jandray. Beide Angeklagte, deren Fälle nacheinander verhandelt worden sind, wurden beschuldigt, am 17. Jan. 1968 als Jugendliche mit Verantwortungsreife „auch der dritten Aufforderung vom zuständigen Beamten an eine auf öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen versammelte Menschenmenge, sich zu entfernen, nicht nachgekommen zu sein” (Vergehen nach § 116 StGB, §§ 1, 3 ff JGG). Beide Angeklagte hatten sich an den Demonstrationen gegen die Fahrpreiserhöhung der Bremer Straßenbahn und gegen den massiven Polizeieinsatz in der Bremer Innenstadt im Januar dieses Jahres beteiligt. Der Angeklagte Schwiebert verließ nach der Anklageschrift am 17. Jan. 1968 gegen 22.00 Uhr den Liebfrauenkirchhof nicht, obwohl die Polizei mindestens dreimal zum Fortgehen aufgefordert hatte, der Angeklagte Jegodtka wurde beschuldigt, am gleichen Tage gegen 21.30 Uhr die Domsheide trotz mehrmaliger polizeilicher Aufforderung nicht verlassen zu haben.

Die Frau Staatsanwältin erörterte in ihrem Plädoyer in formaler Weise die Tatbestandsmerkmale des § 116 StGB und vergaß in diesem Zusammenhang auch nicht die Zuständigkeit der Auffordernden zu erwähnen. Sie betonte ferner, daß der Einsatz der Beamten pflichtgemäß gewesen sei; daran könne angesichts der ganzen Situation gar kein Zweifel bestehen. Im Bezug auf die Demonstranten äußerte sie: „Diese Menschen waren eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.” Strafmildernd fand die Staatsanwältin, daß der Angeklagte aus „falsch verstandener Demokratie” gehandelt habe. Im Hinblick darauf, daß der Angeklagte sich nicht getraute, den Ausführungen des Richters während der Verhandlung über die vermeintlichen Grenzen der Demonstrationsfreiheit zu widersprechen, meinte die Staatsanwältin, teilweise scheine der Angeklagte heute schon einsichtig zu sein.

In meiner Verteidigungsrede habe ich zunächst darauf hingewiesen, daß die Bestimmung des § 116 StGB nicht ohne ihre Bezogenheit auf die Grundrechte unserer Verfassung interpretiert werden dürfe. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Demonstranten, die hier vor dem Richter stünden, in legaler Weise von ihrem Demonstrationsrecht aus Art. 5 und Art. 8 GG Gebrauch gemacht hätten, und daß unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsätze bei der Kollision von Grundrecht und Gesetzesrecht auch die Einschränkung des Gesetzesrechts durch die grundrechtliche Freiheit beachtet werden müsse. Die Demonstration in der Bremer Innenstadt am 17. Jan. sei nicht ohne weiteres dadurch illegal geworden, daß von einzelnen Kriminellen, die sich möglicherweise gerade durch den brutalen Polizeieinsatz angelockt fühlten, Beschädigungen an Straßenbahnwagen und Omnibussen vorgenommen worden sind. Ich wies darauf hin, daß jedenfalls meine Mandanten sich an derartigen Ausschreitungen nicht beteiligt haben und solche selbst auch nicht beobachtet haben. Sie waren daher, so lautete das Fazit meines Plädoyers, nicht verpflichtet, einer Aufforderung der Polizei, sich zu entfernen, nachzukommen und müßten freigesprochen werden.

Das Urteil lautete in beiden Fällen dahin, daß die Angeklagten des Auflaufs nach § 116 StGB schuldig seien. Von einer Strafe wurde abgesehen. In beiden Fällen wurde den Verurteilten auferlegt, an zwei Sonntagen körperliche Arbeit zu leisten.

In der Begründung des gegen den Angeklagten Schwiebert ergangenen Urteils führte der Richter unter anderem folgendes aus:

Der Polizeieinsatz sei im vorliegenden Falle rechtmäßig gewesen. Der Verteidiger habe daran erinnert, daß das Gericht im Namen des Volkes Recht spreche. Zum Volk gehörten aber nicht nur einzelne Interessengruppen, sondern der Richter müsse die Interessen des ganzen Volkes berücksichtigen. Er müsse auch die Interessen derjenigen schützen, die abends müde nach Hause kommen und zu Fuß gehen müssen, weil die Straßenbahn nicht fahre.

Die Polizei sei nicht nur berechtigt gewesen einzugreifen, sondern geradezu verpflichtet, etwas zu tun, nachdem Bremsschläuche der Straßenbahn von Demonstranten zerschnitten und Fensterscheiben eingeschlagen worden seien. Wenn da die Polizei nicht eingegriffen hätte, hätte sie sich einer Verletzung ihrer Dienstpflicht schuldig gemacht.

Es sei nicht richtig, daß es sich bei §116 StGB um eine antiquierte Vorschrift handle, wie der Verteidiger ausgeführt habe. Man brauche nur Fernsehsendungen über Ereignisse in anderen Ländern zu verfolgen. Der Richter erwähnte in diesem Zusammenhang unter anderem Frankreich, England und die USA, die er als klassische Demokratien bezeichnete. Da gebe es entsprechende Gesetze. Insbesondere in der USA gehe die Polizei nicht zimperlich vor, „im Gegenteil, die Polizei kann sich da größere Rücksichtslosigkeit leisten als bei uns, wo sich die Polizei noch durch eine Kollektivschuld belastet fühlt, obwohl das gar nicht berechtigt ist.”

Der Richter machte sodann Ausführungen, die unterstellten, der Verteidiger habe eine völlige Aufhebung des § 116 StGB befürwortet. Er führte diesen von dem Verteidiger gar nicht vertretenen Standpunkt in der üblichen Weise durch Bildung von Extrembeispielen ad absurdum. Wenn z. B. die Demonstranten angefangen hätten, Häuser anzuzünden, dann hätte die Polizei die Menge nicht vertreiben können. „Dann müßte die Polizei also zusehen, wenn öffentliche Häuser und Privathäuser angezündet werden; das kann nicht rechtens sein.”

Der Richter ließ auch die Distanzierung des Angeklagten von den Übergriffen einiger Rowdies nicht gelten, sondern meinte, die Demonstranten hätten ja mittelbar diese Gefahr heraufbeschworen, indem sie überhaupt demonstrierten. Wer demonstriere, müsse die Rechtsnachteile in Kauf nehmen, die sich aus der Demonstration ergeben könnten und ein gewisses Risiko eingehen. Wenn Radikale Ausschreitungen machten, dann sollten die Demonstranten selbst etwas gegen die Radikalen unternehmen. Da die ordentlichen Demonstranten ja immer in der Mehrheit seien, könnten sie die Übergriffe einer radikalen Minderheit sofort ersticken. Das sei auch in Berlin passiert. (Der Richter erläuterte später, daß er nicht die von Bürgermeister Schütz einberufene Demonstration von 50 000 bis 150 000 Demonstranten, sondern die zuvor von Dutschke und dem SDS veranstaltete Demonstration gemeint habe.) Die Veranstalter der Berliner Demonstration hätten verkündet, daß man die Radikalen im Zaume halten werde, und das sei dann ja auch geschehen.

Der Richter bestritt, daß die Demonstrationsfreiheit anderen Interessen vorgehe. Man müßte eine statistische Erhebung durchführen, um festzustellen, welche Rechte vorgehen. Er könne sich vorstellen, daß insbesondere ältere Leute sagen würden, daß ihre Interessen den Vorrang hätten. Und wer wolle sagen, daß das Recht der freien Meinungsäußerung höher stehe als das Recht auf Eigentum und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Zum Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit gehöre das Recht, daß man seinen Feierabend ungestört verbringen könne.

Bei der Demonstration am Mittwoch, dem 17. 1., könne gar kein Zweifel bestehen, daß die Polizei berechtigt war, einzuschreiten. Ein Staatsbürger, der etwas auf seine Rechte halte, werde bereit sein, ein solches Risiko einzugehen und sich dadurch, daß hier Demonstranten Ausschreitungen begangen haben, nicht davon abhalten lassen, bei anderer Gelegenheit wieder zu demonstrieren. „Das wird der Angeklagte ja wohl im Hinblick auf das andere, was er mit seiner Demonstration erreicht hat, in Kauf nehmen wollen”, sagte der Richter wörtlich und meinte anscheinend die von ihm verhängte Arbeitsauflage.

In der zweiten Sache (Jegodtka) hatte es der Richter mit einem Jugendlichen zu tun, der es einige Male wagte, den vom Richter ausgearbeiteten Gedanken über die Grenzen der Demonstrationsfreiheit zu widersprechen. „Warum stehe ich hier als einzelner für alle anderen, die auch demonstriert haben?” fragte der Angeklagte den Richter. Dieser bildete ein Beispiel: Wir hätten sicher zehnmal so viel Einbrecher, wie vor Gericht gestellt werden könnten. Sie könnten auch nicht sagen, daß die anderen auch eingebrochen haben und warum sie hier allein vor Gericht stehen sollten. Der Angeklagte wagte einzuwenden, daß zwischen einem Einbrecher und einem Demonstranten ja wohl ein Unterschied bestehe. Der Richter beendete schließlich die Debatte mit der Erklärung: „Wenn Sie auf Ihrem Standpunkt beharren und wenn viele junge Leute so verantwortungslos denken wie Sie, dann ist das für unsere Demokratie sehr gefährlich.” Der Angeklagte sagte darauf: „Ich lehne ja die Ausschreitungen, die vorgekommen sind, ab.” Er wurde jedoch vom Richter belehrt, daß es hier nur darum gehe, ob an dem Tage, als er festgenommen worden sei, vorher Ausschreitungen vorgekommen seien. Schließlich fragte der Richter den Angeklagten: .,,War der Mittwoch der einzige Tag, wo Sie teilgenommen haben?“ Als der Angeklagte mit der Antwort zögerte, sagte der Richter: „Na, nun seien Sie mal ein aufrechter Demonstrant!” Der Angeklagte räumte daraufhin ein, daß er auch am Donnerstag an den Demonstrationen teilgenommen habe.

Der Richter lehnte einen Antrag des Verteidigers ab, das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 262 StPO bis zur Beendigung der Untersuchungen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses der Bürgerschaft auszusetzen. Für ihn stand aufgrund seiner Beweiserhebung, die in jedem der beiden Verfahren in der Vernehmung eines Polizeibeamten bestand, fest, daß die Polizei die Demonstranten durch dreimalige Aufforderung nach Hause schicken durfte und daß jeder, der diese Aufforderung nicht befolgte, sich wegen Auflaufs strafbar gemacht habe.

II.

Die vorstehend geschilderten Verhandlungen und Urteile geben zu grundsätzlicher Kritik Anlaß.

Gegenstand der Anklage war die aus dem Jahre 1871 stammende Bestimmung des § 116 Abs. 1 StGB: „Wird eine auf öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen versammelte Menschenmenge von dem zuständigen Beamten oder Befehlshaber der bewaffneten Macht aufgefordert, sich zu entfernen, so wird jeder der Versammelten, welcher nach der dritten Aufforderung sich nicht entfernt, wegen Auflaufs mit Gefängnis bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bestraft.”

Zu der Zeit, als diese Strafvorschrift, die sich damals in erster Linie gegen eine politisch bewußt werdende Arbeiterschaft richtete, in das Strafgesetzbuch des monarchistischen Obrigkeitsstaats aufgenommen wurde, galt noch der Grundsatz „Gesetz ist Gesetz”. Deutsche Richter und Staatsanwälte haben aus diesem Prinzip auch noch ein gutes Gewissen bezogen, als sie die anti-jüdischen „Nürnberger Gesetze”, das „Heimtückegesetz”, die „Volkschädlingsverordnung”, den Paragraphen über „Wehrkraftzersetzung” und, andere Terrorgesetze des Nazireichs anwendeten. Spätestens seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Jahr 1949 gilt der Grundsatz „Gesetz ist Gesetz” nicht mehr. Der Richter hat jedes Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit den Freiheitsrechten der Verfassung zu prüfen. Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes schreibt ausdrücklich vor: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.” Daraus folgt, daß auch im vorliegenden Falle zu prüfen war, ob zwischen der Strafvorschrift des § 116 Abs. l StGB und den Grundrechten unserer Verfassung ein Widerspruch auftritt. Ausgangspunkt der richterlichen Erwägungen hatten die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung (Art. 5) und Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) zu sein, auf die sich die Demonstranten im vorliegenden Falle zu Recht berufen.

Bei einer Kollision zwischen Grundrecht und Gesetzesrecht braucht die Folge keineswegs, wie in den vorliegenden Sachen vöm Richter unterstellt, die zu sein, daß das Gesetz generell verfassungswidrig und überhaupt unanwendbar würde. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen — erstmals im Lüth-Urteil vom 15. 1. 1958 (BVerfGE 7, 198 ff) — das Verhältnis von Grundrecht und Gesetzesrecht dahin gekennzeichnet, daß die sachliche Reichweite des Grundrechts nicht jeder Relativierung durch einfaches Gesetz überlassen sei, sondern daß die Gesetze in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden müßten, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts auf jeden Fall gewahrt wird. Im Bezug auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung hat das Bundesverfassungsgericht in dem genannten Urteil ausgeführt:

„Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht und ,allgemeinem Gesetz‘ ist also nicht als einseitige Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts durch die ,allgemeinen Gesetze‘ aufzufassen; es findet vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die ,allgemeinen Gesetze‘ zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.”

Der Richter kann sich also nicht einfach darauf berufen, daß es Sache des Gesetzgebers sei, Gesetze zu ändern, die mit Grundrechten unserer Verfassung kollidieren. Er muß vielmehr selbst aufgrund der auch ihm durch Art. 1 Abs. 3 GG auferlegten Verpflichtung die Grenzen beachten, die dem Gesetz durch die Grundrechte gesetzt sind. Er kann also nicht einfach aus der Bestimmung des § 116 StGB ablesen, daß jedermann strafbar sei, der trotz dreimaliger Aufforderung der Polizei eine Demonstration. fortsetzt, sondern er muß fragen, ob die Polizei überhaupt berechtigt war, die Demonstration aufzulösen und die Demonstranten nach Hause zu schicken. Gericht und Staatsanwalt durften den § 116 StGB nicht mehr aus dem Geist interpretieren, aus dem er 1871 geschaffen worden ist. Damals allerdings durfte die Polizei Demonstranten nach Belieben nach Hause schicken, wenn sie der Obrigkeit unbequem wurden. Heute ist das Recht der Demonstranten, ihre Demonstration auch gegen den Willen der Polizei und der „Obrigkeit” durchzuführen, durch die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit gedeckt.

Es war also im vorliegenden Falle eine Abwägung vorzunehmen zwischen den durch § 116 StGB geschützten Interessen und den von den Demonstranten in Anspruch genommenen Grundrechten unserer Verfassung. Eine solche Abwägung fehlt in dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. 10. 1953 (BGHSt 5, 250 ff), das sich Staatsanwältin und Richter offenbar zum Vorbild genommen hatten. Bei der hiernach vorzunehmenden Güterabwägung braucht das Grundrecht nur dann zurückzutreten, wenn schutzwürdige Interessen eines anderen von höherem Rang durch die Betätigung des Grundrechts verletzt würden (so für das Grundrecht der freien Meinungsäußerung BVerfGE 7, 210). Auch in anderem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder darauf hingewiesen, daß Gesetze, die eine grundrechtlich garantierte Freiheitssphäre eingrenzen, sich stets dadurch auszuweisen haben, daß sie dem Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter dienen und das Grundrecht nur insoweit beschränken, als dies zum Schutz dieser überragenden Gemeinschaftsgüter erforderlich ist (vgl. BVerfGE 7, 377 ff). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (das „Übermaßverbot”) ist demgemäß vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als verfassungsrechtliches Gebot anerkannt worden, durch das der Staatsgewalt bei freiheitsbeschränkenden Maßnahmen Grenzen gesetzt sind.

Es genügte nun im vorliegenden Falle keineswegs, auf die Interessen derjenigen Bürger zu verweisen, deren Recht auf ungestörten Feierabend durch die Demonstrationen beeinträchtigt worden sei. Das von dem Richter kreierte „Grundrecht auf Feierabend” mag zwar Bestandteil des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. I GG) sein, erhält dadurch aber nur zusätzlichen Schutz gegen Eingriffe seitens der Staatsgewalt, während man sich gegen die Party im Nachbarhaus und andere Störungen des Feierabends von privater Seite nach wie vor nicht auf die Grundrechte berufen kann. Seltsamerweise ist auch bisher noch niemand eingefallen, die Leitung der Straßenbahn und die senatorische Aufsichtsbehörde der Grundrechtsverletzung, der Nötigung und anderer Straftaten anzuklagen, weil sie in den Abendstunden nach Beendigung der Demonstrationen den Straßenbahnverkehr jedenfalls an einem der Demonstrationstage nicht wieder aufgenommen hat. Man reagiert nur dort allergisch, wo die Feierabendruhe des Bürgers durch die Ausübung von Freiheitsrechten gestört wird, nicht aber dort, wo eine monopolistische Eigentümerstellung mißbraucht wird.

Aber selbst wenn das Argument überhaupt zuträfe, daß den von den Demonstranten ausgeübten Grundrechten hier zum Schutze höherwertiger Interessen Grenzen gesetzt werden durften, so mußte doch die Frage geprüft werden, ob der Polizeieinsatz das angemessene Mittel war. Zunächst ist in diesem Zusammenhang festzustellen, daß in der Bevölkerung und in der Presse schon nach den ersten Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten Stimmen laut wurden, die dem unvernünftigen Polizeieinsatz die Schuld an der lawinenartigen Ausbreitung der Demonstration und an den auch auf Seiten der Demonstranten vorgekommenen Exzessen gaben. Als ich dem Richter sagte, daß ich am Donnerstag der Demonstrationswoche einen verantwortlichen Regierungsbeamten dahin zu beraten versuchte, er möge die Polizei aus dem Stadtkern zurückzuziehen, den Straßenbahn- und Omnibusverkehr um den Stadtkern herumleiten und Abgeordnete der Parteien auf die Straße schicken und mit den Demonstranten diskutieren lassen, erwiderte der Richter, dies interessiere ihn nicht, da wir es hier mit einem Fall zu tun hätten, der sich nicht am Donnerstag, sondern am Mittwoch abgespielt habe. Diese Äußerung zeigt, wie weit entfernt er vom Verständnis dessen war, worüber er zu entscheiden hatte. Es ging darum, aufzuzeigen, daß es andere, demokratiegemäßere Mittel gegeben hätte, um etwaige höhere Rechtsgüter, auch das „Recht auf Feierabend”, zu schützen, als den brutalen Einsatz des Polizeiknüppels. Am Freitag der Demonstrationswoche hat sich; worauf ich den Richter ebenfalls vergeblich hinwies, die Richtigkeit dieser gewaltlosen und demokratiegemäßen Mittel bewährt. Für konservative Gemüter freilich mag ein Stachel in dieser „Kapitulation vor dem Druck der Straße” verblieben sein. Für sie war nach wie vor der Polizeieinsatz mit Gummiknüppel und Wasserwerfer das angemessene Mittel, sich mit jungen Demonstranten auseinanderzusetzen. Mögen die jungen Demonstranten auf der Straße Recht behalten haben, im Gerichtssaal dürfen es ihnen jetzt die Konservativen heimzahlen, wenn die Öffentlichkeit diese Rechtsprechung stillschweigend akzeptiert.

Die Justiz verkündet ihre Urteile „im Namen des Volkes”. Die ganz überwiegende Mehrheit der Bremer Bevölkerung hat sich im Januar mit den jugendlichen Demonstranten solidarisiert. Die Motive dieser Solidarisierung mögen verschieden gewesen sein, doch ist zu hoffen, daß die meisten den Prozeß der Jungen gegen unsoziale Straßenbahntarife und Polizeiterror als Zeichen der Bereitschaft, sich von den Herrschenden nicht mehr alles gefallen zu lassen, gebilligt haben. Gerade ein Jugendrichter sollte junge Menschen ermutigen, gegenüber der öffentlichen Gewalt eine kritische und jederzeit zum Widerstand bereite Haltung einzunehmen. Es war das Unglück der Justiz der Weimarer Republik, daß sich in ihr Richter betätigen durften, die das Recht nicht als Ausgestaltung einer spezifisch demokratischen Staatlichkeit begriffen, sondern sich für berechtigt hielten, die abstrakten Formen der Gesetze im Geiste einer antidemokratischen Autoritätsbindung zu interpretieren. In den eingangs geschilderten Verfahren des Bremer Jugendgerichts ist jungen Menschen mit dem Anspruch, pädagogisch wirken zu wollen, die Autoritätsgläubigkeit als höchstes Staatsprinzip der Demokratie gepredigt worden. Hier ist „im Namen des Volkes” der Geist beschworen worden, der 1871, als preußische Richter den § 116 StGB „im Namen des Königs” angewendet haben, der damaligen Funktion des Richters angemessen gewesen sein mag. Unter der Geltung eines demokratischen Grundgesetzes haben junge Menschen, die ihren berechtigten Protest mit Zustimmung der Bevölkerung auf die Straße getragen haben, Anspruch darauf, „im Namen des Volkes” freigesprochen zu werden.

nach oben