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Presse­kam­pa­gnen: Anmerkugen wider einen Mythos

aus: vorgänge Nr. 132 (Heft4/1995), S. 109-117

Eines der Hauptmotive dafür, daß sich so viele junge Leute für den politischen Journalismus entscheiden (die Berufschance liegt bei knapp drei Prozent), ist sicherlich ein narzisstisches, wenn nicht gar ein missionarisches: die Vorstellung, man/frau könne mit der Feder die Welt aus den Angeln heben, d.h., zum Guten, Schönen, Wahren hin ausrichten, indem man die Massen mobilisiert, zumindest die Eliten der Gesellschaft auf sich aufmerksam macht – nur mit der Kraft des überlegeneren Arguments und der aufrichtigeren Absicht. Jemand sein, von dem man spricht; berühmt sein, einen Namen haben (der die Gegner erzittern läßt), vielleicht gar zum Star werden. Amerikanische Filme, in denen der unbeugsame, unbestechliche, zähe Reporter einen unerbittlichen Feldzug, eine Art Kampagne, gegen den Bösewicht führt und ihn schließlich sogar gegen den Widerstand seines eigenen Verlegers und der Polizei zur Strecke bringt, nähren solche Phantasien. Es dauert dann meist ein Berufsleben, ehe die journalistische Alltagserfahrung der Ohnmacht angenommen wird, ohne sie zur Resignation werden zu lassen.
Allerdings gilt es zu differenzieren: Wie der Nachrichtenwert eines Ereignisses und die Wirkung einer Meldung hat auch die journalistische Wirkung einen Gradienten, d.h., sie wird mit der Entfernung schwächer. Am schwächsten ist sie auf der globalen Ebene, am stärksten auf der lokalen und regionalen. Es bleibt, um ein Beispiel zu nennen, absolut folgenlos, ob ein deutscher Journalist die Ungerechtigkeiten des Weltwirtschaftssystems oder den amerikanischen Präsidenten kritisiert, auch wenn ihm seine Leser, Hörer, Zuschauer begeistert applaudieren. Dagegen kann die Kritik, etwa auf lokaler an der „Politik” eines Vereins oder des Bürgermeisters vor erheblicher Wirkung sein. Um so bedauerlicher, daß der Gradient der Bekanntheit oder gar der Berühmtheit exakt umgekehrt zur Wirkung verläuft: Die Korrespondenten und Kommentatoren des großen Weltgeschehens haben im Vergleich zu ihrer geringen Effizienz oft einen beutenden Namen (der sich freilich auch der Autorität des Presseorgans, für das sie arbeiten, verdankt), den wirkungsvollen Lokaljournalisten kennt man halt nur in der Region.
Was ist eine Kampagne? Dem dtv-Lexikon zufolge „eine zeitlich begrenzte, gemeinschaftlich durchgeführte Unternehmung politischer, werbetechnischer, wissenschaftlicher oder wirtschaftlicher Art”. Zu ergänzen wäre: um ein bestimmtes Ziel zu einem bestimmten Zweck zu erreichen. Dabei hängen die Methoden, die für die Durchführung einer Kampagne eingesetzt werden können, von den Gebieten ab, auf denen sie stattfinden soll. Wer eine Kampagne startet, um beispielsweise ein neues Produkt auf dem Markt einzuführen, muß gewisse gesetzlich vorgeschriebe Regeln beachten. So darf er Konkurrenzprodukte nicht namentlich erwähnen und in ihren einzelnen Eigenschaften negativ beurteilen bzw. im Vergleich als minderwertiger bezeichnen. Eine Werbekampagne darf einzig für ein Produkt bzw. einen Hersteller geführt werden. Dabei kann sie auf eine relative Unvoreingenommenheit bei den Adressaten bzw. Rezipienten der Werbebotschaft setzen, auf eine Offenheit der potentiellen Käufer, auch wenn ein Großteil von ihnen – die meisten oder gar alle – auf die Konkurrenzprodukte „schwören” und ihnen weiterhin die Treue halten. Aber gerade diese Treue zum Konkurrenzprodukt muß der Werber mit sei-ner Kampagne schwächen und durchbrechen, er muß eine Vielzahl (pluralistische) „emotiver Konsonanzen”, Übereinstimmungen, Ab und gleichzeitig Zustimmung zu seinem Produkt aufbauen.
Wer hingegen eine politische Kampagne führt, kann, ja muß, den Gegner durchaus erstens benennen und zweitens im direkten Vergleich abqualifizieren, sofern er nicht beleidigend wird oder falsche Behauptungen aufstellt (aber der Comment ist diesbezüglich allgemein sehr großzügig). Eine Kampagne kann gegen oder für jemanden (Personen, Parteien, Überzeugungen/Programme) geführt werden. Die Grenzen der Kampagne bilden dabei – ähnlich und doch anders – wie bei den Konkurrenzprodukten und den auf sie eingeschworene Käuferschichten pluralistische politische Überzeugungen.
Die politischen Parteien haben sich längst von der Wirksamkeit der Werbeindustrie beim Verkauf irgendwelcher Produkte oder Dienstleistungen überzeugen lassen und auch ihre Wahlkampagnen danach ausgerichtet. Werbeagenturen entwerfen die Kampagne, angefangen von den Slogans und den Werbespots über die Gestaltung der Anzeigen und Plakate bis hin zur Auswahl der einzusetzenden Politiker als Redner. Über die Wirksamkeit politischer Wahlwerbekampagnen streiten sich die Fachleute; sie gilt im allgemeinen als derart gering, daß man sie sich eigentlich sparen könnte. Die Präferenz für oder gegen eine Partei ist nicht zu vergleichen mit der Präferenz für oder gegen ein Produkt. Parteipräferenzen liegen etwa drei Monate vor einer Wahl relativ eindeutig fest, sogar bei den noch Unentschlossenen. Parteipräferenzen und darüber hinaus politische Einstellungen oder Überzeugungen werden im Sozialisationsprozess erworben, zumindest die Prädisposition für Überzeugungen. Je prägender bestimmte Vermittlungsprozesse während der Sozialisation waren, desto festsitzender und unverrückbarer die Überzeugungen. Der idealtypische Stammwähler steht vor uns. Je schwächer oder relativierender die Vermittlungsprozesse, desto schwankender die Überzeugungen, desto vielfältiger beispielsweise die Optionen der Entscheidung etwa bei Wahlen. Das ist der gefürchtete und umworbene Wechselwähler, aber auch der Nichtwähler.
Die Pluralität jedweder Einstellungen und Überzeugungen des Publikums würde der Wirkung von Pressekampagnen rasche und klare Grenzen setzen. Selbst wenn die Medien unisono ein Thema propagieren und entsprechend eine Einstellungs- bzw. Verhaltensänderung beim Publikum bewirken wollten, wäre das Ergebnis nicht nennenswert. Eine halbjährige Medienkampagne würde eine stabile Veränderung des Verhaltens von schätzungsweise maximal drei Prozent erzielen.
Die Sozialisation – Erfahrungen der frühen Kindheit und Jugend, mit primären Bezugspersonen wie den Eltern oder nahen Verwandten, aber auch sekundären wie Lehrern oder Ausbildern, in der Schule, Familie, im Freundes- und Kollegenkreis, am „Stammtisch” als Symbol für eine bestimmte Form des privaten Diskurses – erweist sich als stärker. Allenfalls wirken die Medien indirekt an der Entstehung von meinungsbildenden Trends, Moden, Denkmustern usw. mit, die das Verhalten von Subkulturen prägen. Die vielfältigen und komplexen Sozialisationsprozesse, die ja größtenteils unbewußt ablaufen (über Internalisierung und Identifikation) haben im übrigen eine Selektion der Print-medien zur Folge: Der Käufer oder Abonnent einer Zeitung beispielsweise wählt diese entsprechend seiner politischen Überzeugung aus. Er will seine Meinung bzw. Überzeugung bestätigt sehen und leitet vom Grad der Bestätigung, der emotiven oder kognitiven Konsonanz mit dem Blatt, seine Maßstäbe für die Beurteilung beispielsweise eines Kom-mentars ab. Eine redaktionelle Meinungsäußerung, die seiner während der Sozialisation erworbenen Prädisposition entspricht, findet Zustimmung und damit eine gute Zensur. Ein Kommentar hingegen, der beim Leser (Hörer oder Zuschauer) emotive oder kognitive Dissonanzen erregt, wird abgelehnt, unbeschadet der Qualität und Differenziertheit seiner Argumentation, unbeschadet letztlich, ob er zutreffend oder falsch ist. Die Leser-Blatt-Bindung, unverzichtbar für jedes politische Pressorgan, ergibt sich aus der Kongruenz der „Haltung” bzw. der Richtlinien, die der Verleger dem Organ vorgegeben hat, und den (kongruenten) Einstellungen der Leser.
Daraus ergibt sich eine Wechselwirkung, die bei der Einschätzung der Wirkung von Presseorganen in der Regel unterschätzt wird: Jede Redaktion kennt die Einstellungen ihrer Leserschaft, zumindest in ihren Hauptzügen. Sie hütet sich, gegen diese zu verstoßen, indem sie durch die Berichterstattung und vor allem durch die Kommentierung emotive oder kognitive Dissonanzen auslöst. Leserbriefe oder Abonnementskündigungen im Dissonanz Fall (aber auch Auflagensteigerung im Falle der Konsonanz, d.h. der konsequenten Verfolgung der vorgegebenen redaktionellen Linie) signalisieren der Redaktion das notwendige Maß der politisch-gesellschaftlichen Übereinstimmung mit „dem” Leser. Geht beispielsweise der gesamtgesellschaftliche, von den Medien nicht oder nur marginal zu beeinflussende Trend in einer bestimmten Frage wie etwa der Einstellung zu Ausländern in die konservative Richtung, wird eine konservative Zeitung dem Rechnung tragen müssen, auch wenn sich liberale Redaktionsmitglieder, mögen sie sogar die Mehrheit bilden, dem zunächst energisch widersetzen sollten. Denn vor jeder Kauf- oder Abonnementsentscheidung steht die generelle Zustimmung zur grundsätzlichen politischen bzw. gesellschaftlichen Einstellung der Zeitung, aus der sich die Einstellung zu Einzelfragen ergibt. In komplexen modernen Gesellschaften zeigt sich ein sich verstärkendes Bedürfnis des Lesers nach Identifikation mit „seiner” Zeitung. Er will sich bestätigt sehen, seine Vorabmeinung mitsamt Vorurteilen und Ressentiments. Die ständig – bewußt-reflektiert oder unbewusst – wahrgenommen Ohnmachtsgefühle gegenüber politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen als übermächtig erlebten „Autoritäten” werden auf die Zeitung projiziert und als Stärke empfunden. Das Blatt soll dann aufgrund seiner öffentlichen Position die Interessen des (sich ohnmächtig fühlenden) Lesers vertreten und es den Herrschenden – „denen da oben“ – oder anderen bedrohlichen, starken Instanzen bzw. vermeintlichen „Gefahren” wie Gewerkschaften, Bürokratien, Ausländern, Nachbarstaaten usw. die Meinung sagen und sie in die Schranken weisen.
Die Wirkung der Medien ist erheblich – und kann sogar bedrohlich werden – wenn sie Trends, die sich aus dem „sub- oder transmedialen”, also von den Medien nicht oder nur indirekt beeinflußten, Kommunikationsprozess einer Gesellschaft entwickeln, verstärken und dabei emotive und/oder kognitive Konsonanz herstellen. (Wie Trends entstehen, kann in diesem Zusammenhang nicht nachgezeichnet werden, abgesehen davon, daß es m.W. keine allgemein akzeptierte soziologische Theorie dafür gibt. Das komplexe Geschehen weist jedoch auf den Vernetzungscharakter moderner Gesellschaften hin. Nur in seltenen Fällen sind Einzelpersonen oder klar definierbare Gruppen Trendsetter. Trends nivellieren die Pluralität der Ansichten bzw. Überzeugungen zugunsten einer Konformität. Man wird beispielsweise wesentlichen Teilen der Medien in Deutschland schwerlich den generellen Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit machen können, wohl aber jenen, daß sie für aufkommende ausländerfeindliche Trends viel Verständnis auf-brachten und sie – um keine emotiven oder kognitiven Dissonanzen bei ihren Lesern, Hörern bzw. Zuschauern zu erregen – dann sogar billigten und propagierten. Offene oder versteckte, direkte oder vor allem sublimierte Ausländerfeindlichkeit bzw. Vorbehalte gegen Ausländer sind in Deutschland in Verbindung mit der Asylrechts-Problematik „zum guten Ton” geworden. Die ursprüngliche Pluralität und Differenziertheit der Ansichten zur „Ausländerfrage” ist ohne Zweifel erheblich nivelliert worden – dank der trendverstärkenden Wirkung der Massenmedien.
Medien sind mit anderen Worten von Trends auch abhängig. (Und Journalisten – dies sei an dieser Stelle eingeschoben – sind insbesondere, wenn sie investigativen Journalismus betreiben, abhängig von Informaten aus den jeweiligen Szenen; das Öffentlich-werden politischer Skandale ist folglich nie allein Resultat journalistischer Arbeit oder auch von journalistischen Kampagnen.) Es gibt Trends, die „intermedial” wirken, d.h., denen sich ein einzelnes Presse- oder Medienorgan nicht entziehen und dem es folglich auf Dauer nicht oder nicht mit der „an sich” zu erwartenden Intensität oder Entschlossenheit entgegenwirken kann. Der Trend – und das ist immer ein Geflecht von normbildenden oder Werte zersetzenden Meinungen und Überzeugungen, somit auch Verhaltensweisen, die rasch zu Gewohnheiten werden – entwickelt sich dann anarchisch, ohne differenzierende Kritik (die vielfach tabuisiert wird), somit ohne die Möglichkeit einer Korrektur, geschweige denn der Trendumkehr. Denn ein mehrheitsfähig gewordener Trend ist ja für diejenigen, die ihm zustimmen, eine „soziale” bzw. normative Wahrheit. Oft freilich wird ein Trend schon verortet, wo nur Wunschdenken, die Projektion der eigenen Wünsche, ist. Meinungsumfragen und Statistiken können eine Korrektur dieser „Überzeugung” sein. Sollte er sich als Fehlentwicklung herausstellen, ist der öffentliche, gesamtgesellschaftliche Schaden groß. Beispiele für gefährliche, ja unheilvolle Trends lassen sich aus der Vergangenheit zur Genüge aufzeigen: Die Dolchstoßlegende nach dem Ersten Weltkrieg, der Antisemitismus, die Kommunismus Phobie in den USA nach 1945. Gegenwärtige aktuelle Trends sind die Akzeptanz des kapitalistischen Systems als einzig sinnvoller Gesellschaftsordnung; die Akzeptanz von Naturwissenschaft und Technik als Träger eines notwendigen Fortschritts (wohingegen Erkenntnisse der Sozialwissenschaften, etwa die Sozialisationstheorie und ihre Folgen, einschließlich der zu ziehenden politischen Konsequenzen, immer noch weitgehend negiert werden); die selbst bei Betroffenen anzutreffende Ansicht, nur durch Verzicht und Sozialabbau lasse sich der Wirtschaftsstandort Deutschland erhalten; die Gleichsetzung von Konsum sowie Unterhaltung mit „Glück” oder auch nur Zufriedenheit, was einen De-facto-Utilitarismus zur Folge hat (mit allen Konsequenzen wiederum für das ethische Niveau einer Gesellschaft); die Überzeugung, daß die globale ökonomische Situation eine Art darwinistisches System sei, in dem sich der Stärkere durchsetzen müsse; die Überzeugung, mit Atomwaffen könne sich ein Staat „verteidigen”; die erwähnte Ausländerfeindlichkeit, damit verbunden die Gleichgültigkeit gegenüber der Not in der Dritten Welt; die Zustimmung zum Abbau liberaler Grundrechte und Positionen; der entpolitisierte Rückzug in die Privatsphäre mit massenhafter Wahlenthaltung.
Entsprechend hat öffentlichen Erfolg, auch publizistischen, wem es gelingt, auf den fahrenden Zug eines Trends aufzuspringen und sich massenhaft Zustimmung zu sichern, also sein Mäntelchen nach dem Winde zu hängen. Es gibt Presseorgane, die dies mit Exzessivität tun, etwa die Boulevard- und/oder die Regenbogenpresse. Der Erfolg, sichtbar in hohen Auflagenzahlen, beruht auf der publizistischen Verstärkung von Trends, aber auch von kollektiven Gewohnheiten, bestehenden Vorurteilen, Ressentiments, Klischees. Umgekehrt schmälert sich der Erfolg für denjenigen, der einem Trend entgegen argumentiert und Gewohnheiten, Vorurteile, Ressentiments, Klischees usw. kritisiert. Er bewirkt damit emotive und/oder kognitive Dissonanzen, stößt damit den Rezipienten buchstäblich vor den Kopf. Was indes nicht bedeuten kann, dass ein Presse-Imperium oder eine Presse-Zar wie etwa Berlusconi nicht auch in der Lage wären, durch ein entsprechendes Stakkato Kampagnen zu inszenieren.
Die Presse definiert ihr Ethos u.a. als Anspruch, erstens Informationen „nach bestem Wissen und Gewissen” so zu vermitteln, daß ein öffentlicher Diskurs über sie in Gang kommt und Interessierte sich zum jeweiligen Sachgebiet ein abgewogenes, „objektives” Urteil bilden können, zweitens Entwicklungen und Trends kommentierend so zu begleiten, daß Korrekturen möglich werden. Dieser im wesentlichen politische Anspruch wurde während des Kampfes des Bürgertums gegen die absolutistische Herrschaft entwickelt. Er hat die Pressefreiheit als verfassungsrechtlich garantiertes Grundrecht zur Voraussetzung, wobei ihm die politische Annahme zugrundeliegt, daß es die Politik ist, die für eine Gesellschaft oder einen Staat schicksalshafte und zukunftsdeterminierende Prozesse in Gang setzt.
Tatsächlich aber werden zukunftsdeterminierende Entscheidungen bzw. Prozesse von Wissenschaft und Technik bewirkt, vermittelt durch die aus – und verwertende Industrie. In vielen Fällen muß sich die Politik auf die Funktion eines Verwalters der dadurch ausgelösten Folgen beschränken. Da heute etwa achtzig Prozent aller Forschung von der Industrie und der Wirtschaft finanziert, ergo abhängig sind, lässt sich sagen, daß Industrie und Wirtschaft die gesellschaftlichen Prozesse auslösen und teilweise steuern, allerdings anarchisch, nicht nach Plan, geschweige denn zu einem Zweck, sondern nach Maßgabe des Profits und, mehr noch, der Durchsetzungsfähigkeit auf dem (größtenteils präparierten und gesteuerten) Markt gegenüber der Konkurrenz. Wissenschaft und Technik beeinflussen, marxistisch formuliert, nicht nur die Produkte, sondern auch und in noch bedeutenderem Maße die Produktionsmittel. Damit strukturieren sie Gesellschaft nicht nur technisch, sondern auch sozial (Wohlstand, Höhe der Arbeitslosigkeit usw.) und normativ: Traditionelle Milieus und Strukturen (etwa Ehe und Familie), die den einzelnen lebenslang „trugen” und ihm Orientierung sowie Sicherheit vermittelten, werden aufgelöst, damit auch Verhaltensweisen und Kommunikationsformen verändert. Wo Konsum zu einer wichtigen Verhaltensmaxime avanciert, kann sich keine tradierte Moral mit dem Ideal des „Maßes” halten. Der einzelne ist überdies für seine Lebensplanung allein verantwortlich, und zwar in einem immer früheren Lebensalter und in einer als undurchschaubar empfundenen Gesellschaft. Das führt häufig zu Desorientierung und aggressivem Verhalten.
Diese eher stichwortartige Skizze soll lediglich verdeutlichen, welchen enormen Einfluß Wissenschaft und Technik sowie die sie verwertende Wirtschaft auf die alle Bereiche einer vernetzten Gesellschaft haben, bis hinein in die Psyche der einzelnen. Dieser – politischen – Bedeutung steht die institutionelle Unfähigkeit der Presse gegenüber, Entscheidungen und Prozesse, die von Wissenschaft und Technik initiiert werden, adäquat, ihrem Ethos entsprechend, zu vermitteln. Weder gelingt ihr, Informationen aus Wissenschaft und Technik so zu formulieren, daß ein breiter, öffentlicher Diskurs und Meinungsbildung ermöglicht würde, noch kann sie durch eigene Meinungsäußerung korrigierend in vermutete Fehlentwicklungen eingreifen. Der Grund ist simpel: Es fehlt ihr erstens die dafür notwendige Fachkompetenz – Journalisten sind überwiegend keine Naturwissenschaftler -, zweitens die notwendigen Vermittlungsformen: Niemand wüsste anzugeben, wie komplexe naturwissenschaftliche Sachverhalte, zumal in ihrer gesellschaftlich determinierenden, sprich: politischen Bedeutung, sprachlich überhaupt so zu vermitteln wären, daß sie für Laien verstehbar wären und obendrein auf Interesse stießen. Die regelmäßigen Wissenschaftsseiten bei einzelnen Tageszeitungen haben wenig mehr als Alibifunktion, auch wenn sie als Indiz für ein gewachsenes Problembewusstsein gelten können. Mit der wachsenden, im übrigen auch für Naturwissenschaftler längst nicht mehr durchschaubaren und erklärbaren Gesellschaft, wächst die Entfremdung der Menschen nicht nur von iher Arbeit, sondern von dieser Gesellschaft insgesamt. Damit aber nimmt Angst zu, und mit ihr notwendig Entpolitisierung und Politikverdrossenheit. Die Politik vermag nicht mehr die Notwendigkeiten und Ziele bestimmter Entwicklungen und Prozesse zu definieren – außer daß ihre Vertreter stereotyp das Argument wiederholen, man müse mitmachen, weil die anderen mitmachen, und man ansonsten im globalen Konkurrenzwettlauf „den Kürzeren ziehen” würde.
Da die Medien in diesem anarchisch wuchernden gesellschaftlichen Prozeß mit unbekannten Folgen selbst orientierungslos sind, können sie auch keine Orientierung geben, keine Korrekturen vorschlagen und letztlich auch nichts zum gesellschaftlichen Diskurs beitragen. Diese – strukturelle – Unfähigkeit wird verstärkt durch ihren problematischen Aktualitätsbegriff: Die Verkürzung selbst globaler Informationsprozesse auf Sekunden und die gewaltige Ausweitung der Informationskapazitäten hat dazu geführt, aktuell, damit wichtig und ergo von Interesse sei das Ad-hoc-Geschehene. Dies scheint sich jedoch zunehmend als Irrtum herauszustellen. Die „ereignisaktuelle” Informationsflut, zunehmend überall und jederzeit abrufbar (ob in den zahlreichen Nachrichten-Kanälen des Kabelnetzes, via Internet oder kommerzielle Netzwerke selbst am privat genutzten PC) und verfügbar, führt in Wahrheit zu Desinteresse, weil die Aufmerksamkeitsschwelle angehoben wird: Damit eine ereignisaktuelle Information noch Aufmerksamkeit erregen kann, muß sie „aufgepeppt” werden, sei es durch eine „marktschreierische” Aufmachung, sei es durch ein entsprechendes Layout. Dem einzelnen, der sich „normal” durch Tageszeitung, Funk und Fernsehen über das Geschehen außerhalb seines unmittelbaren Lebensbereichs informieren möchte, werden heute rund 100 mal mehr Informationen angeboten als dies noch gegen Ende des letzten Jahrhunderts der Fall war. Das potentielle, zunehmend rapide wachsende Informationsangebot läßt sich kaum mehr quantifizieren. Brachten in den zwanziger und noch in den fünfziger Jahren die Tageszeitungen – einem entsprechenden Informationsinteresse an Ereignisaktualität Rechnung tragend – im Schnitt fünf bis sechs Sonderausgaben pro Jahr heraus, ist heute kaum noch ein Ereignis vorstellbar, das eine solche verlegerische Entscheidung rechtfertigen könnte. Mit anderen Worten: Aufmerksamkeit und damit Aktualität sind in einer Zeit sekundenschnell vermittelbarer und unerschöpflicher Informationen zu knappen Gütern geworden.
Eine Alternative zur ereignisaktuellen Berichterstattung und vor allem Kommentierung wäre die „zustandsaktuelle”: Berichterstattung und Kommentierung aus Lebensbereichen und Lebenswelten (Heidegger), die nicht ein gerade geschehenes Ereignis aktuell werden läßt, sondern die für die meisten Menschen ein Zustand sind, also ständig oder chronisch aktuell, mithin von anhaltender Bedeutung. Zu nennen wären Gesundheit bzw. Krankheit, Partnerschaft, Wohnungssituation, Arbeitslosigkeit oder Ängste um den Arbeitsplatz, finanzielles Auskommen, Umweltängste, Erziehungsfragen, die Lage der Alleinstehen-den, Alleinerziehenden, Rentner usw., ferner Diskussionen um Orientierung oder gar Lebenssinn; verstärkt Informationen aus der und über die Lebenswelt des einzelnen, des Bürgers, der Gemeinschaft.
Die Schwierigkeit, die die Medien mit einem zustandsaktuellen Journalismus haben, könnte auch mit ihrem Verständnis von Objektivität zusammenhängen. Zustandsaktuelle Themen fordern Stellungnahme, Engagement, was als subjektiv verstanden wird, als einseitig und damit dem journalistischen Ethos widerstreitend. Bis zur Jahrhundertwende waren die europäischen Printmedien durchaus in diesem Sinne „einseitig” oder parteilich. Erst im 20. Jahrhundert setzte sich, aus den USA kommend, das heutige Verständnis von „Objektivität” durch, dem indes seine Herkunft niemand mehr ansah. Es war entstanden, als im amerikanischen Bürgerkrieg die Nachrichtenagentur AP (Associated Press) versuchte, mit beiden Seiten, den Nord- wie Südstaaten, ins Geschäft zu kommen und ihnen gleichermaßen die Nachrichten zu verkaufen. Sie entwickelte dazu standardisierte Muster der Berichterstattung, die auf jegliche Form der Meinungsäußerung, Bewertung, Stellungnahme usw. verzichtete und so den Anschein erweckte, nur über die Faktizität der Wirklichkeit zu berichten, eben objektiv. Indes weiß jeder, daß Realität sich je nach „Standpunkt” des Betrachters, seiner Wahrnehmungsfähigkeit, seinen Interessen, seiner Kompetenz, seiner Selektion und gewichtenden Vor-Einstellung, seinem Vor-Urteil usw. anders darstellt. Das Problem der realitätsadäquaten Darstellung ist ein Problem im Journalismus geblieben.
Allerdings ist bedauerlich, daß dem Bemühen, möglichst objektiv zu berichten, die gute alte Form der Reportage geopfert wurde – zugunsten des amerikanischen „Features”. Die Reportage berichtet nicht nur über ein Ereignis oder einen Vorgang, sie wertet auch und interpretiert, ist also dynamisch. Das Feature hingegen ist eine Situationsbeschreibung, die unter dem Gewande einer sehr witzigen und intelligenten Schreibe ihre Subjektivität und Voreingenommenheit nur schwer verbergen kann. In der Regel bleibt das Feature statisch. Die bedeutendsten Journalisten nicht nur der deutschen Presse – Karl Kraus, Alfred Polgar, Maximilian Harden, Theodor Wolff, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Egon Erwin Kisch, Karl-Hermann Flach, Karl Gerold oder auch Rudolf Augstein – waren und sind parteiergreifend, engagiert, so gesehen einseitig. In ihnen erkannten und erkennen sich die Leser wieder mit ihren Sorgen, Ängsten und auch Hoffnungen.
Zumindest die -„seriösen“ – Printmedien sollten trotz Normen und Anschauungs- bzw. Einstellungspluralität das werden, wofür sie der Leser hält und entsprechend selektiert: Interessenvertreter von Individuen, die sich im modernen Gesellschaften bewußt oder unbewußt ohnmächtig fühlen. Vermutlich könnten sie dann auch Kampagnen in gesellschaftlichem Rahmen führen.
Der womöglich folgenschwerste Irrtum eines unreflektierten Objektivitätsbegriffs wirkt sich im Verhältnis der Medien zu Minderheiten aus. Unreflektiert ist in diesem Falle der Objektivitätsbegriff, weil Minderheit quantitativ verstanden wird, analog den Spielregeln in einer Demokratie. Ihnen zufolge kann in einer Demokratie nur die Mehrheit entscheiden und damit wirksam werden. Die demokratische Idee unterstellt dabei, daß auf ihrer Seite auch der größte Sachverstand versammelt und die Mehrheitsentscheidung dank des besseren Arguments zugleich auch „objektiver” ist. Der Minderheit bleibt allerdings die Chance, für sich und ihre Idee zu werben, um Mehrheit werden zu können.
Dieses Modell, auf die journalistische Berichterstattung übertragen, wirkt in der gesellschaftlichen Realität steril und stereotyp. Denn Ideen, Prognosefähigkeit, Sensibilität für Fehlentwicklungen, Risikobewußtsein, Offenheit für bessere Alternativen usw. werden häufig, wenn nicht fast immer, zuerst von Minderheiten entwickelt und artikuliert, sei es von einem Individuum, der kleinsten denkbaren Minderheit, oder von Gruppen. Doch Minderheit zählt nicht zu jenen Nachrichtenfaktoren, die die Relevanz einer Nachricht bestimmen, im Gegensatz etwa zu Quantität bzw Frequenz oder Elite bzw. Prominenz. Entsprechend werden Minderheiten und ihre Innovationsfähigkeit von den Medien nicht genügend wahrgenommen, geschweige denn gefördert. Denn Minderheiten stehen zunächst ebenfalls vor dem Problem, daß sie emotive und/oder kognitive Dissonanzen erzeugen müssen. Gleichwohl könnte und müßte ihr Anliegen und das Maß an gesellschaftlicher Vernunft quantifizierbar sein. Sollte die evolutionäre Erkenntnistheorie recht haben, vollziehen sich auch zivilisatorische und kulturelle Entwicklungen nach dem Modell der Evolution und ihrer Grundprinzipien Selektion und Mutation: Der Selektion entsprechen im kulturellen Raum das Bewährte, das Überkommene, der Mutation die Idee, der Einfall. Aber während in der Evolution die Auswahlkriterien der Selektion und damit die Durchsetzungschancen der Mutation objektiviert sind – die Mutation setzt sich durch, wenn die Umweltbedingungen es zulassen und die Überlebenschancen der Art, sozusagen das Allgemeinwohl, tatsächlich verbessert werden – kommt im kulturellen Raum das Interesse ins Spiel, verbunden mit Macht. Das Allgemeinwohl ist mit Partikularinteressen durchaus nicht immer vereinbar, ja, das Interesse der Mehrheit muß nicht mit dem Allgemeinwohl übereinstimmen.
Wiederum bietet die Geschichte zahllose Beispiele für die unverzichtbare Innovationsfähigkeit von Minderheiten, die von der Mehrheit einer Sozietät, vor allem von den Medien, nicht oder zu spät wahrgenommen wurden, und wenn sie sich durchgesetzt haben, dann nicht dank der Medien.
Die Warner vor der heraufziehenden Barbarei der Nationalsozialisten um Tucholsky und Ossietzky blieben in der Minderheit. Eine Minderheit blieben weltweit die Pazifisten und ihre konkreten Vorschläge, wie Gewaltfreiheit zu einer wirksamen, institutionalisierten politischen Praxis umgesetzt werden könnte. Minderheit immer noch die Umweltschützer mit ihren Warnungen vor drohenden Umweltkatastrophen, die mittlerweile bereits zeitlich und in ihren Folgewirkungen berechenbar und quantifizierbar sind. Auch die feministische Bewegung blieb bislang Minderheit, wenngleich ihre Durchsetzungsfähigkeit wächst, ebenso die Menschenrechtsbewegung und eine Vielzahl sozialer Bewegungen und Initiativen, denen wahrscheinlich niemals die Chance beschieden sein wird, mehrheitsfähig zu werden und gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen.
Die Potentiale an Vernunft und Ethik der Minderheiten bleiben weitgehend ungenutzt, dank einer unzulänglichen, ja falschen Vorstellung von politischer oder gesellschaftlicher, „objektiver” Bedeutung sozialer Gruppen, und einem Mangel an Kriterien, den gesamtgesellschaftlichen Nutzen der von Minderheiten vertretenen Anliegen zu erkennen und zu bewerten.

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