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Zwischen " Muddling Trough", "Doomsday" und Saut Qualitif

Europas Weg aus der Krise

aus: Vorgänge 196 (Heft 4/2011)

Spätestens seit Beginn dieses Jahres ist der Krisen-Diskurs um die Europäische Union (EU) – erneut – beherrschend. Dabei überrascht die Intensität einer Diskussion, die der EU in ihrer gegenwärtigen „Verfassung” oft kaum Überlebenschancen einzuräumen scheint. So werden erneut Vorschläge für eine Intensivierung und Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit – bis hin zu einer erneuten Vertragsreform – diskutiert; gleichzeitig aber auch Szenarien einer Auflösung der EU bzw. der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) oder der Verkleinerung des Euroraumes skizziert.

Vor diesem Hintergrund geht der vorliegende Beitrag der Frage nach den Entwicklungsperspektiven der EU ab 2012 in drei Schritten nach: Im ersten Teil soll der Begriff der „Euro-Krise” der EU betrachtet und in den Kontext der bisherigen Integrationsentwicklung gestellt werden, um den aktuellen Krisendiskurs differenzierter einzuordnen. Im zweiten Schritt wird das Spannungsverhältnis zwischen Vertiefungs- und Erweiterungsoptionen im europäischen Einigungsprozess ausgeleuchtet, bevor im dritten Teil Szenarien der zukünftigen Entwicklung der EU ab 2012 vorgestellt werden.

Krise? Was für eine Krise?

Der Begriff der „Krise“[1] in der wörtlichen Übersetzung „(Ent-)Scheidung” oder „entscheidende Wendung”, steht im übertragenen Sinn für eine „schwierige Situation” oder eine (kurze) Zeitspanne, die „den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung” darstellt. Allerdings kann dieser Wendepunkt – und damit auch die Faktizität einer Krise – in der Regel erst ex post verlässlich konstatiert werden, nachdem eine Krise entschieden ist bzw. eine Krisensituation sich gewendet hat.

Betrachtet man die Gründungsjahre der Europäischen Gemeinschaften (EG) in den 1950er und 1960er Jahren, so wird deutlich, durch wie viele unterschiedliche „Krisen” die EG/EU in ihrer Geschichte bereits gegangen ist:[2] Die Krise des „leeren Stuhls” (1965/66), die Budgetkrise und der Haushaltsstreit mit Großbritannien (1970er/1980erJahre), die Phase der „Eurosklerose” (Mitte bis Ende der 1970er Jahre), die Ratifikations- und Legitimationskrise nach Abschluss des Vertrages von Maastricht (1991–93) und nicht zuletzt die Verfassungskrise (2006) nach dem Scheitern des EU Verfassungsvertrages sind nur einige Beispiele hierfür. Von Beginn an war das europäische Integrationsprojekt (auch) immer ein Ergebnis vorangegangenen Scheiterns bzw. die EG/EU das Krisenlösungsinstrument für Europa: „Vielmehr bewegt sich die Geschichte der europäischen Einigung in gleichsam suchenden Bewegungen, von Krise, über Erfolg, zur nächsten Krise und zum nächsten Erfolg voran” (Piepenschneider 2001: 75). Insofern ist die aktuelle europäische Wirtschafts- und Währungskrise weder in ihrem Auftreten an sich noch in ihrer Dramatik ein singuläres Ereignis: Zuletzt wurde nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages 2006 in Frankreich und Dänemark über ein Auseinander-brechen der EU spekuliert. Zudem bestätigen sich die wichtigsten „Lehren” aus der bisherigen Integrationsentwicklung auch in der aktuellen Wirtschafts- und Währungskrise: Die europäische Einigung bleibt ein Prozess der „ longue duree”, eine permanente Suche nach Kompromissen, die ständigen Veränderungen und Anpassungen unterworfen ist. Dabei besteht weiterhin ein ständiger Widerstreit nationaler und gemeinschaftlicher Interessen. Gleichzeitig bleibt die Weiterentwicklung der EU abhängig nicht nur von Entwicklungen auf mitgliedsstaatlicher Ebene, sondern auch auf internationaler Ebene.

Spezifisch an der gegenwärtigen Krise ist jedoch erstens das Ausmaß dieser AbhänL gigkeit; Die Lösung der Wirtschafts- und Währungskrise liegt längst nicht mehr allein im politischen Willen und in den Händen der EU-Mitgliedstaaten. Vielmehr sind die EU und ihre Mitgliedstaaten bei der Lösung ihrer fiskalischen und währungspolitischen Probleme stark abhängig vom internationalen Währungssystem und dem Verhalten einer Vielzahl anderer Akteure auf der internationalen Ebene. Darin könnte jedoch gleichzeitig die größte Chance zu einer positiven entscheidenden Wendung liegen: Unter dem Druck der Finanzmärkte mussten sich die Mitgliedstaaten sehr viel schneller und überzeugender für – oder gegen – Lösungswege entscheiden als etwa nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages, auf den eine mehr als einjährige „Phase der Reflexion” (und faktisch der Untätigkeit) auf europäischer Ebene folgte.

Spezifisch an der aktuellen Wirtschafts- und Währungskrise ist zweitens die Tatsache, dass die inzwischen 27 Mitgliedstaaten der EU in Folge der zuletzt im Vertrag von Lissabon (2008) kodifizierten Konstitutionalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse immer enger in die Gemeinschaftslogik eingebunden worden sind. Seit dem Vertrag von Maastricht (1991) sind damit eine dichte und dynamische Phase der Weiterentwicklung europäischer Politiken und Aufgabenbereiche, der weitere Aus- und Aufbau europäischer Entscheidungsverfahren und Institutionen sowie – parallel dazu – eine Erweiterung der EU von zwölf auf 27 Mitglieder zu konstatieren. Diese Entwicklungen sprechen eher für eine Erfolgsbilanz in der Vertiefungs- wie auch in der Erweiterungsdimension, die alte wie neue Mitgliedstaaten eng in Koordinierungs-unl Zusammenarbeitsprozesse auf der europäischen Ebene einbindet. Ein Ausscheren aus diesem Verbund (durch einzelne Mitgliedstaaten) oder die Rückübertragung von Kompetenzen und Aufgaben von der europäischen auf die mitgliedsstaatliche Ebene schließt dies zwar nicht aus; beides erscheint aber vor dem Hintergrund der vielfältigen wechselseitigen Verflechtungen und Interdependenzen im politischen wie im wirtschaftlichen Bereich zunehmend kostenintensiv und wenig rational (vgl. auch Enderlein 2010: 11). Damit er-höht sich der Handlungs- und Lösungsdruck auf die europäische Ebene auch in der Wirtschafts- und Währungskrise weiter.

Drittens ist die aktuelle Krise der EU insofern spezifisch, als sich mit ihr die Frage nach einer europäischen Werte- und Solidargemeinschaft erneut und deutlicher als bis-her stellt: Inwieweit sind wir als EuropäerInnen bereit und in der Lage, wechselseitig auch finanziell füreinander Verantwortung zu übernehmen? Welche sozialen und aus-gleichenden Politiken und Instrumente der EU müssten gestärkt bzw. eingeführt wer-den, um eine solche Solidarität nach innen wie nach außen verlässlich zu institutionalisieren? Können oder müssen wir – als EU-27 oder auch nur als Euroraum von gegenwärtig 17 Mitgliedstaaten – nun nicht auch den Weg in eine echte Fiskal- und Transferunion wie in Deutschland, den USA oder Kanada beschreiten?

Die EU ist somit zwar ohne Zweifel das krisenerprobteste Krisenlösungsinstrument auf dem europäischen Kontinent. In der gegenwärtigen Wirtschafts- und Währungskrise muss sie jedoch erneut und sehr viel nachdrücklicher als bislang ihre Handlungskompetenz beweisen und dabei vor allem auch substantielle Antworten auf Fragen finden, die traditionell eher umgangen worden sind. Damit erweist sich der strukturelle Charakter der gegenwärtigen Krise der EU: „Schon vor Beginn der internationalen Krise hatte also die Währungsunion selbst einen Teufelskreis erzeugt, in dem anfängliche Unterschiede der nationalen Inflations- und Wachstumsraten durch die einheitliche EZB-Geldpolitik verstärkt wurden” (Scharpf 2011: 329). Auch die der Währungskrise zugrunde liegen-den Wirtschaftskrisen in Griechenland, Portugal, Spanien und auch in Italien unterstreichen diesen strukturellen Charakter der gegenwärtigen Krise in der europäischen Währungsunion. Strukturelle Krisen jedoch „verlangen einen ,Paradigmenwechsel`, und zwar hinsichtlich unserer zentralen normativen Überzeugungen über die Zielsetzungen staatlicher Macht und über die zentrale Einschätzung, wie finanzielle und wirtschaftliche Mechanismen funktionieren” (Dyson 2010: 21). Die bis zum 9 Dezember 2011 schrittweise auf den verschiedenen EU-Krisengipfeln beschlossenen, überwiegend kurz-und mittelfristig angelegten, reaktiven finanzpolitischen Maßnahmen werden, so die These dieses Beitrages, für eine langfristige Stabilisierung der europäischen Währung daher nicht ausreichen.

Erweiterung vs. Vertiefung

In der aktuellen Krise der EU scheint sich zudem ein Auseinanderdriften der 27 Mitgliedstaaten – und zwar längst nicht nur mit Blick auf Großbritannien – zu manifestieren. Damit stellen sich fundamentale Fragen nach der Verfasstheit und den Zielen der Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Ist eine Einigung über grundsätzliche Fragen überhaupt noch möglich? Oder hat die Europäische Union mit 27 Mitgliedstaaten längst jene „kritische Masse” erreicht, mit der ein gemeinsamer, einheitlicher Integrationsfortschritt aller Mitgliedstaaten unmöglich geworden ist? Werden weitere Vertiefungs- und Reformprojekte zukünftig also nur von kleineren Gruppen von Mitgliedstaaten vorangetrieben werden können?

Ohne Zweifel hat die Erweiterung der EU seit 1995 von 15 auf nunmehr 27 -und ab Mitte 2013 sogar 28 – Mitgliedstaaten eine noch stärkere Akzentuierung der unterschiedlichen Ziele, Interessen und Perspektiven der Mitgliedstaaten im europäischen Einigungsprozess zur Folge gehabt. Entgegen vieler Erwartungen hat der Beitritt der zehn plus zwei neuen Mitgliedstaaten 2004 bzw. 2007 [3]jedoch nicht zu einer Lähmung des europäischen Entscheidungsapparates und auch nicht zu einer nennenswerten Verringerung des europapolitischen „outputs” geführt.[4] Im Gegenteil: Die größten Schwierigkeiten auch bei der Lösung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise bereiten Mitgliedstaaten aus dem Kreis der zwölf alten Mitgliedstaaten. Am deutlichsten kommen diese Differenzen gegenwärtig wohl in der gegensätzlichen Haltung des britischen Premierministers Cameron und der deutschen Kanzlerin Merkel zum Ausdruck: Während ersterer die Verteidigung britischer Interessen in den Vordergrund seiner Verhandlungsstrategie stellt und eine Rückübertragung von europäischen Kompetenzen an die Mitgliedstaaten anstrebt, schließt die deutsche Kanzlerin – neuerdings – den Transfer weiterer Kompetenzen auf die europäische Ebene nicht mehr aus.

Vor diesem Hintergrund stellt sich im Kern nicht die Frage, ob die EU in den letzten zehn Jahren zu „groß” geworden ist, sondern, ob ihre Mitgliedstaaten nicht zu lange die Diskussion substantieller Fragen nach den Zielen und Grenzen des europäischen Integrationsprozesses aufgeschoben bzw. immer wieder umgangen bzw. in ambivalenten, in; terpretationsoffenen primärrechtlichen Vereinbarungen sowie Paketlösungen „versteckt” haben. Die Politik der „kleinen Schritte” hat dabei zuletzt nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages 2006 die bestehenden Differenzen und Widersprüche aufgefangen. Mit „einer Stimme” hat die EU nach innen wie nach außen aber sowohl vor 1992 als auch seit der Verabschiedung des Vertrages von Lissabon nur in sehr wenigen grundlegenden Fragen gesprochen.

Entwick­lungs­sze­na­rien ab 2012

Der vorerst letzte Brüsseler Gipfel zur Wirtschafts- und Währungskrise der EU am 8. und 9. Dezember 2011 hat im Kern folgende Beschlüsse gefasst:

  1. Gesetzliche Festschreibung von Schuldenbremsen (Festlegung der Grundsätze durch die Europäische Kommission) in den nationalstaatlichen Verfassungen, gültig mindestens für die Euro-Länder.
  2. Automatische Strafen für Defizitsünder (Ziel: ausgeglichene Haushalte).
  3. Stärkere Kontrolle der nationalen Haushalte durch Brüssel und engere Kooperation in Wirtschaftsfragen.

   4.  Vorerst keine Einführung von Euro-Bonds (Staatsleihen mit   

       gemeinschaftlicher Haftung

Bis spätestens März 2012 sollen diese Beschlüsse in einen Vertragstext gegossen werden, der dann von den 17 Euro-Ländern sowie den übrigen Mitgliedstaaten, eventuell nur mit Ausnahme Großbritanniens, unterzeichnet und gemäß der jeweils vorgesehenen nationalen Verfahren ratifiziert werden soll. Der noch auszuhandelnde Vertragstextstellt damit keine Änderung des Vertrages von Lissabon dar, sondern eine zwischen-staatliche Vereinbarung der Unterzeichnerländer außerhalb der EU-Verträge.Mit dieser Einigung erübrigt sich die Frage nach den weiteren Entwicklungsszenarien der EU jedoch keineswegs. Im Gegenteil: „Da dieses [europäische Stabilitätsregime; A.F.] sich ausschließlich auf die Steuerung und Kontrolle von […] Entscheidungen der Mitgliedstaaten beschränkt, wird es auch mit den härtesten Sanktionen nur Lösungen erzwingen können, welche die Mitgliedstaaten selbst mit den noch verbliebenen Instrumenten der nationalen Politik ,objektiv` […] auch erreichen könnten. Und diese Instrumente […] werden auch künftig nicht ausreichen, um die Divergenz verstärkenden Effekte einer geldpolitischen Fehlsteuerung unter Bedingungen der Währungsunion zu neutralisieren” (Scharpf 2011: 333).

Ungeklärt bleiben damit weiterhin folgende zentrale Fragen:  

  • Müssten nicht zumindest die Euro-Länder den Einstieg in eine veritable Fiskal[5]- und damit auch eine Transferunion vorbereiten? Dies würde eine Vergemeinschaftung der Schulden bedeuten sowie die Übertragung weiterer Kompetenzen auf die europäische Ebene und damit deutlich über die Beschlüsse des Brüsseler Gipfels vom 9. Dezember hinausgehen, die in der Tat höchstens einen „Einstieg” in eine Fiskalunion darstellen.
  • Sollte nicht die Europäische Kommission – und in ihr ein neuer, mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteter Haushaltskommissar – die Kontrolle über die nationalen Haushaltspolitiken der Mitgliedstaaten (bzw. mindestens der Euro-Länder) übernehmen?
  •  Welche Konsequenzen würden sich hieraus jedoch für die verfassungsrechtlichen Grundordnungen dieser Staaten und die Kompetenzen der nationalen Parlamente ergeben?
  •  Wie lassen sich solch weitreichende, zur Stabilisierung des Euro-Raumes und damit auch der EU insgesamt aber unter Umständen unumgängliche Entscheidungen demokratisch legitimieren?

Vor dem Hintergrund dieser weiterhin ungeklärten Fragen lassen sich drei Szenarien für die weitere Entwicklung der Wirtschafts- und Währungskrise in Europa und der EU insgesamt skizzieren:

Szenario 1: „Muddling through” – Beruhigung der Krise nach dem Brüsseler Gipfel vom 8.-9. Dezember 2011

Die nach dem Gipfel vom 8. und 9. Dezember 2011 kurzfristig eingetretene Beruhigung von Politik und Märkten könnte sich auf der Grundlage der getroffenen Beschlüsse stabilisieren und mittelfristig zum Abklingen der Krise führen. Dies würde bedeuten, dass private Anleger wieder vermehrt Gelder in europäische Anleihen investieren und damit über die („gehebelte“) Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) sowie den spätestens ab Juli 2013 folgenden dauerhaften Stabilitätsmechanismus (ESM) ausreichend Mittel für die Stabilisierung der gefährdeten Länder (Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und auch Irland) bereitstünden, ohne dass die EU weitere Maßnahmen beschließen müsste.

Eine derartige Beruhigung der Krise zeichnet sich – nach einer kurzen Atempause direkt in Folge des Gipfels – bislang allerdings nicht ab. Stattdessen sorgen weiter im Raum stehende Fragen wie die drohende Herabstufung der Bonität Deutschlands oder Frankreichs durch die Ratingagentur Standard & Poor’s, die innenpolitische Entwicklung in Griechenland und in Italien nach den aufgelegten bzw. geplanten Sparmaßnahmen und nicht zuletzt der Verlauf der Ratifizierung der Gipfelbeschlüsse in Finnland, Dänemark, Tschechien, Ungarn, Polen und auch Deutschland für finanzmarktpolitische Unruhe. Zudem stehen im Frühjahr 2012 in Frankreich Präsidentschaftswahlen an. Für den Fall seines Sieges hat der Sozialist Fran9ois Hollande bereits angekündigt, die Brüsseler Beschlüsse mit Blick auf eine Einführung von Euro-Anleihen, ein stärkeres Eingreifen der Europäischen Zentralbank sowie eine aktive Wachstumspolitik nachverhandeln zu wollen (vgl. Ulbrich in der SZ vom 13.12.2011: 7). Die Angemessenheit und Nachhaltigkeit der gegenwärtig verfolgten Strategie der EU, einerseits den Stabilitätspakt zu erweitern und zu verschärfen und andererseits die Hilfen für die am stärksten verschuldeten Ländern an harte Sparauflagen zu knüpfen, könnte damit noch vor Abschluss der Verhandlungen über den neuen Vertrag in Frage gestellt werden.

Zudem bleiben zentrale rechtliche Fragen ungeklärt: Wie ist das Verhältnis eines neuen, völkerrechtlichen Vertrages von maximal 26 EU-Mitgliedstaaten im Verhältnis zu den Regelungen des Vertrages von Lissabon zu werten? Welche Regelung wird gelten, wenn sich der Vertrag von Lissabon und der neue Vertrag widersprechen? Kommissionspräsident Barroso wie auch der zuständige Wirtschafts- und Währungskommissar 011i Rehn haben hierzu bereits wenige Tage nach dem Brüsseler Gipfel festgestellt, „[d]er neue Automatismus, wonach ,automatisch Konsequenzen‘ für ein Land eintreten, das mehr neue Schulden macht als erlaubt, könne nur […] eintreten, solange keine Regierung dagegen klage. Somit seien auch die neuen Haushaltsregeln am Ende vom politischen Willen der Regierungen abhängig” (SZ vom 14.12.2012: 7).

Szenario 2: „Dooms­day-S­ze­na­rio” -Ausein­an­der­bre­chen der Euro-Zone

Der entgegengesetzte Fall, d. h. die radikalste Folge eines vollständigen Scheiterns der bisherigen Rettungsversuche, könnte im Auseinanderbrechen der Euro zone liegen. Dies würde bedeuten, dass die am stärksten verschuldeten Staaten – Griechenland, Portugal, Spanien, aber auch Irland und Italien – aus dem Euro austreten und erneut eine nationale Währung einführen (und diese drastisch abwerten) müssten, während die verbliebenen Euro-Länder sich noch enger zusammenschließen könnten bzw, müssten. In einem solchen Szenario müssten nicht nur Wege für den geordneten Ausstieg und die an-schließende Konsolidierung der Schuldnerländer konzipiert werden, sondern auch die Wirtschafts- und Währungsunion für die verbleibenden Euro-Länder neu strukturiert werden, um zukünftig stabil funktionieren zu können. Faktisch könnte dies gleichzeitig den Einstieg in eine Kernunion nicht nur in wirtschafts- und währungspolitischer, sondern auch in politischer Hinsicht bedeuten, wenn sich die in der Euro-Zone verbliebenen Länder zu weiteren Kompetenz- und Souveränitätstransfers auf die Gemeinschafts-ebene entschließen.

Für die austretenden Länder könnte dies – in sorgfältiger Abwägung mit den wirtschaftlichen, arbeitsmarktpolitischen und sozialen Kosten eines Verbleibs in der Währungsunion – die Chance einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft nach erfolgter Abwertung bedeuten (vgl. auch Scharpf 2011: 333). In Kombination mit neu aufzulegenden europäischen Wachstumsprogrammen (s. u.) könnte dies für die Schuldnerländer einen möglichen Weg aus dem Teufelskreis von tief greifenden strukturellen Wirtschaftsproblemen einerseits und restriktiver Fiskalpolitik andererseits darstellen.

Für die in der Euro-Zone verbleibenden Länder hingegen könnte der Austritt eines oder mehrerer Länder aus der Euro-Zone mit wesentlich unkalkulierbareren finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Kosten verbunden sein: „Ließe sich noch argumentieren, für Griechenland, Portugal und Spanien gleiche die Wahl zwischen dem Euro und der Wiedereinfiihrung von Drachme, Escudo und Peso der Wahl zwischen Scylla und Charybdis, führt die Betrachtung der weiteren ökonomischen und politischen Folgen eines Zusammenbruchs der Eurozone zu einer differenzierteren Bewertung Eine Aufgabe der Eurozone würde in Europa eine solch negative Dynamik auslösen können, dass auch mit einem Rückfall hinter das Binnenmarktsprojekt zu rechnen wäre, ja, der Integrationsprozess als Ganzer in Frage stünde” (Busch 2011: 62; vgl. auch Bellce 2011: 13; Dullien/Schwarzer 2011: 6ff). Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund, so ist zu vermuten, wird die Verteidigung des Euro von politischer Seite bislang als „alternativlos” dargestellt. Zudem ist weiterhin ungeklärt, wie ein solcher „Austritt” eines Landes aus der Währungsunion, nicht aber aus der EU, rechtlich und technisch auf der Basis des Vertrages von Lissabon zu bewerkstelligen wäre.

Szenario 3: Der „saut qualitatif‘ – Etablierung einer echten europä­i­schen Fiskal- und Trans­fe­ru­nion in Verbindung mit einer vertieften politischen Union

Dieses dritte Szenario ist gleichzeitig das voraussetzungsreichste: Maximal alle 17 Euro-Länder sowie die übrigen willigen Mitgliedstaaten der EU, oder aber auch eine kleinere Gruppe von Mitgliedstaaten, könnte eine veritable europäische Fiskal- und Transferunion als „Kernunion” gründen. Auch im Rahmen einer solchen Kernunion könnte ein jeweils individuell gestalteter, aber gemeinschaftlich finanzierter europäischer „Marshallplan” für Griechenland, Portugal, Spanien und Italien sowie Irland aufgelegt werden (vgl. Dullien/Schwarzer 2011: 8). Allerdings wäre dabei zu beachten, dass ein solcher Marshallplan einen Schuldenschnitt oder eine Abwertung nicht zwangsläufig ersetzen kann: „Der europäische Marshallplan wäre eine großartige Lösung nach einem harten Schuldenschnitt und nach vollzogener (realer oder nominaler) Abwertung.

Wenn er diese aber ersetzen soll, dann könnte er auf die Dauersubventionierung eines europäischen Mezzogiorno hinauslaufen” (Scharpf 2011: 336). Zusätzlich zu einem solchen Marshallplan müssten eine gemeinsame Haftung für Schulden (Eurobonds), Regulierungskonzepte für die Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik und Reformen auf den Finanzmärkten eingeführt sowie die Wirtschaftspolitik auf die europäische Ebene übertragen werden (vgl. Busch 2011: 48ff).

Die unabdingbare Grundvoraussetzung für die Schaffung einer Kernunion wäre die politische Bereitschaft in den teilnehmenden Ländern, weitere Kompetenzen und Souveränität in den genannten Bereichen auf die europäische Ebene zu transferieren. Damit stellen sich nicht nur Fragen nach der Vereinbarkeit nationalstaatlicher Verfassungen mit einem solchen Schritt[6], sondern noch grundlegender die Legitimitätsfrage: Wie könnte ein solch weitreichender Souveränitätsverzicht demokratisch legitimiert werden? Mindestens gefordert wäre hierfür eine ergebnisoffene und breite politische Auseinandersetzung in den Mitgliedstaaten, die den Einstig in eine engere Union planen: „Der europäische Einigungsprozess, der immer schon über die Köpfe der Bevölkerung hinweg betrieben worden ist, steckt heute in der Sackgasse, weil er nicht weitergehen kann, ohne vom bisher üblichen administrativen Modus auf eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung umgestellt zu werden. Stattdessen stecken die politischen Eliten den Kopf in den Sand. Sie setzen ungerührt ihr Eliteprojekt und die Entmündigung der europäischen Bürger fort” (Habermas in der SZ vom 7.4,2011: 11).

Der Einstieg in eine solch vertiefte Union müsste somit als Angebot an die Bürge-rinnen und Bürger Europas formuliert werden, das überzeugen muss – bevor es von den Regierungen der Mitgliedstaaten in konkrete Schritte umgesetzt werden kann. Erste, wichtige Schritte in Richtung einer breiteren öffentlichen Diskussion von wirtschaftlichen wie politischen Optionen, Kosten und Alternativen sind gegenwärtig in nahezu allen Mitgliedstaaten festzustellen, ausgehend von den Debatten in den nationalen Parlamenten, den Regierungsparteien[7] sowie in Gewerkschaften und Verbänden.

Schlussfolgerungen

Die bisherige Integrationslogik der „Methode Monnet” (vgl. Wessels/Faber 2007), d. h. ein schrittweises, pragmatisches, aber dennoch gemeinsames Voranschreiten aller Mitgliedstaaten, scheint in der EU-27 ebenso an ihre Grenzen gestoßen zu sein wie im kleineren Verbund der 17 Euro-Länder: „Zu unterschiedlich ist der Blick der 27 Mitgliedsländer auf das gemeinsame Unterfangen, als dass sie noch auf einen Nenner zu bringen wären” (Winter in der SZ vom 24./25.9.2011: 4).

Für jedes der oben dargestellten Entwicklungsszenarien ab 2012 stellen sich eine Reihe von Fragen. Keines der Szenarien erscheint daher durchgängig wahrscheinlich; viel-mehr lassen sich einzelne Elemente oder Stufen definieren, die für die erfolgreiche Bekämpfung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Währungskrise der EU mittelfristig in der Tat „alternativlos” erscheinen:

  • eine rationale, offene und verantwortungsvoll abwägende politische Diskussion über mögliche Alternativ-Szenarien zur unbedingten Verteidigung des Euro in allen 17 Euro-Ländern;
  • die Auflage von europäisch finanzierten, wachstums- und beschäftigungsorientierten Wirtschaftsprogrammen in den am stärksten verschuldeten Euro-Ländern, d.h, die Abkehr von einer reinen Austeritätspolitik ;
  • die Einbeziehung der Bevölkerungen in den Mitgliedstaaten im     Rahmen einer proaktiven, breiten politischen Auseinandersetzung über mögliche weitere Integrationsschritte;
     
  • die – demokratisch legitimierte – Übertragung weiterer Kompetenzen auf die europäische Ebene seitens der Euro-Länder, die bereit und willens sind, eine veritable Fiskal- und Transferunion zu begründen;
     
  • die Inkaufnahme bzw. die konstruktive Nutzung einer weiteren Differenzierung des Integrationsstandes in Europa (Gründung eines echten „Kerneuropas“).

Die Lösung der gegenwärtigen Krise der EU erfordert somit insgesamt „mehr Europa, aber nicht im Sinne der ,Fiskalunion` von Merkel und Sarkozy, sondern im Sinne der oben beschriebenen Schritte, die vom Marshall-Plan für Europa bis zu einer demokratischen Wirtschaftsregierung in der Eurozone reichen” (Busch 2011: 62). Sie könnte damit zu einer neuen Form der abgestuften Integration zwischen Kern- und Peripherieländern führen. Dies würde eine fundamentale Veränderung des bisherigen „Integrationsmodus” – wenn auch nicht das Ende der gesamteuropäischen Solidarität – bedeuten und viele neue rechtliche und institutionelle Fragen aufwerfen. Jedoch hat die EU möglicherweise „[…] inzwischen keine andere Wahl mehr, als sich neu zu erfmden” (Möller 2011: 2). Sie sollte es dabei allerdings nicht länger aufschieben, mit ihrer Bevölkerung in einen offenen Dialog über die zukünftige Gestalt Europas zu treten.

[1] Substantiv zum altgriechischen Verb krinein, „trennen” und „(unter-)scheiden”.
[2] Vgl. auch Dinan 2006.
[3] 2004 traten Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn sowie Malta und Zypern der EU bei. 2007 erfolgten die Beitritte von Bulgarien und Rumänien.
[4] Vgl. auch Best et al. 2008.
[5] D. h. die Übertragung von Kompetenzen an die Europäische Kommission, um mithilfe der Beeinflussung von Steuern und Staatsausgaben regionale und konjunkturelle Schwankungen im Euro-Raum auszugleichen. Die von Kanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy geplante Fiskalunion entspricht diesem Konzept nicht, da sie als intergouvernementale Kooperation ohne permanenten Ausgleichsmechanismus vereinbart wurde (s. o.).
[6] Vgl. hierzu u. a. die Diskussion um die Budgethoheit der nationalen Parlamente.
[7] Vgl. den Mitgliederentscheid zum EFSF in der FDP, die Auseinandersetzungen im griechischen Parlament bzw. den Sturz der Regierungen in Griechenland und in Italien 2011 sowie die zahllosen Kundgebungen und Demonstrationen in diesem Jahr in Spanien, Italien und Griechenland, aber auch in Polen und andrmn EU-Mitgliedstaaten, um nur einige Beispiele zu nennen

Literatur

Belke, Ansgar (2011): Doomsday for the euro area: Causes, variants and consequences of breakup. Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, November 2011.
Best, Edward et al. (Hg.) (2008): The Institutions of the Enlarged European Union: Continuity and Change, Cheltenham
Busch, Klaus (2011): Scheitert der Euro? Berlin, FES-Studie, Dezember 2011, i. E.
Dinan, Desmond (2006): Europe Stalled: A Crisis, What Crisis? Washington, Paper für die CSIS-Task Force zum Thema ,The Future of the EU and its Relations with the United States‘, 27.128. Februar
2006.
Dullien, Sebastian/Schwarzer, Daniela (2011): Dealing with Debt Crises in the Eurozone. Evaluation and Limits of the European Stability Mechanism, Berlin, SWP Research Paper RP11, Oktober 2011.
Dyson, Kenneth (2010): Krise? Welche Krise? Wessen Krise?; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 43, 5.19–25,
Enderlein, Henrik (2010): Die Euro-Krise: Auslöser, Antworten, Ausblick; in: Aus Politik und Zeitge-
schichte, H. 43, S. 7–12.
Habermas, Jürgen (2011): Ein Pakt für oder gegen Europa? An Gründen für eine Gemeinschaft fehlt es nicht, wohl aber an einem politischen Willen – und an Verantwortung; in: Süddeutsche Zeitung, Jg.
67, H. 81, 7. April 2011, S. 11.
Möller, Almut (2011): Kommt jetzt Kerneuropa? DGAPstandpunkt Nr. 11, November 2011. Piepenschneider, Melanie (2001): Ein gescheiterter Integrationsversuch als Geburtshelfer – Der Europarat und die Anfänge der europäischen Einigung; in: Kirt, Romain (Hg.): Die Europäische Union
und ihre Krisen, Baden-Baden, S. 69–77.
Scharpf, Fritz W(2011): Die Eurokrise: Ursachen und Folgerungen; in: Zeitschrift für Staats- und Eu-
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Ulbrich, Stefan (2011): ,Ich werde neu verhandeln‘; in: Süddeutsche Zeitung, Jg. 67, H. 287, 13. De-
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Wessels, Wolfgang/Faber, Anne (2007): Vom Verfassungskonvent zurück zur ,Methode Monnet‘? Die
Entstehung der ,Road map‘ zum EU-Reformvertrag unter deutscher Ratspräsidentschaft; in: Integ-
ration, Jg. 30, H. 4, S. 370-381
Winter, Martin (2011): Aus der Traum; in: Süddeutsche Zeitung, Jg. 67, H. 221, 24./25. September
2011, S.4.

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