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Das Europäische Sozialm­odell als Kolla­te­ral­schaden der Euro-Krise

aus: Vorgänge 196 ( Heft 4/2011), S.61-70

1. Weltfi­nanz-­Krise, Euro-Krise, …

Die Weltfinanzkrise der Jahre 2008/2009 hat einerseits die Instabilität des modernen Finanzkapitalismus aufgezeigt, andererseits die Grenzen jener ökonomischen Betrachtung deutlich gemacht, die wegen ihrer allokativen Marktfixierung derartige Instabilitäten nicht für unmöglich gehalten hat, sondern durch entsprechende Politikberatung in allen maßgeblichen Organisationen (IWF, OECD, EU-Kommission, nationale Expertengremien wie der Sachverständigenrat, uvm.) zu einer Deregulierungspolitik beigetragen hat, die die Finanzkrise wahrscheinlich erst ermöglichte, sicher aber verstärkte.

Die „Euro-Krise” ist wiederum einerseits direkte Folge der Weltfinanzkrise, andererseits hat sie tiefer gehende Wurzeln. In vielen EU-Ländern konnten die Finanz- und Gütermärkte nur durch beherztes Eingreifen staatlicher Akteure – der Regierungen mit ihren finanz- und sozialpolitischen Instrumentarien und der Europäischen Zentralbank mit der Bereitschaft zur Übernahme von Gläubigerpositionen im Falle drohender Illiquidität von privaten Finanzinstitutionen ebenso wie öffentlichen Haushalten – stabilisiert werden. Damit konnten zwar dramatischere Konsequenzen für die Güter- und vor allem für die Arbeitsmärkte verhindert werden, natürlich aber nicht ein dennoch tiefer konjunktureller Einbruch und ein scharfer Anstieg der öffentlichen Verschuldung. Vor dem Hintergrund der Verunsicherung der Finanzmarktteilnehmer und der durch entsprechende Einschätzungen der Rating-Agenturen eintretenden Diskreditierung einzelner EWU-Länder entstanden Zinsdisparitäten in der EWU, die kaum noch durch das tatsächliche Insolvenzrisiko ganzer Länder, sondern durch die Spekulation auf ein mögliches Auseinanderbrechen der Euro-Zone (mit entsprechendem Abwertungsrisiko der betroffenen Länder) erklärt werden konnten.

Ein kollektiver Beistandsmechanismus – der Europäische Finanzmarktstabilisierungsfonds (ESFS) bzw. der Europäische Stabilisierungsmechanimus (ESM) – lässt sich nun nicht nur mit den Externalitäten im Falle eines Auseinanderfallens der Euro-Zone für alle EWU-Mitglieder und den Rückwirkungen eines möglichen Staatsbankrotts auf die Gläubiger in anderen EWU-Ländern begründen, sondern auch mit der Tatsache, dass die Spekulationen gegen einzelne Länder erst durch deren Mitgliedschaft in der EWU ermöglicht wird und somit quasi als `Gemeinschaftskosten‘ zu verstehen sind.

Die tieferen Wurzeln der Euro-Krisen liegen aber nicht in der Haushaltsentwicklung einzelner Länder, sondern in den anhaltenden regionalen Ungleichgewichten, die sich in zunehmenden Leistungsbilanzdefiziten und entsprechenden -überschüssen zeigen. Solange solche Leistungsbilanzdefizite Ausdruck einer überdurchschnittlichen Wachstumsdynamik im Rahmen von gewünschten Konvergenzprozessen sind und durch Verschuldung des privaten Unternehmenssektors bei erwarteter langfristiger Profitabilität finanziert werden, stellen sie kein Problem dar und werden mit erfolgreichem Konvergenzprozess auslaufen. Sind sie aber das Ergebnis von preislichen Wettbewerbsproblemen, wie sie sich ergeben, wenn nominale Lohnstückkosten systematisch auseinanderlaufen und die Finanzierung durch spekulative Anlage in Immobilien- oder anderen Assetmärkten oder die Verschuldungsbereitschaft der öffentlichen Haushalte erfolgt, entstehen Spannungen, die über große Zinsdifferentiale zur Infragestellung der Währungsunion oder zu alternativen Korrekturinstrumenten – kurzfristig eben die oben er-wähnten Beistandsmechanismen, langfristig regressive oder progressive institutionelle Reformen – führen.

Es spricht zwar vieles dafür, dass es diese sich kumulativ entwickelnden Wettbewerbsunterschiede in der EWU sind, die der gegenwärtigen Euro-Krise die realwirtschaftliche Basis liefern, doch wird die Euro-Krise fast ausschließlich als Krise der Staatsfinanzen im Allgemeinen und der überbordenden Ausgaben im Besonderen diskutiert – und fast schon selbstverständlich steht dabei der Sozialstaat im Fadenkreuz der Kritik.

Bevor wir uns im Folgenden den Entwicklungstendenzen der europäischen Sozialstaaten – dem Europäischen Sozialmodell – insbesondere unter den Bedingungen allgemeiner Konsolidierungsnotwendigkeiten nach dem Emporschnellen der Staatsverschuldung im Laufe der jüngsten Weltfinanzkrise anhand der Sparprogramme ausgewählter europäischer Länder beschäftigen wollen (Abschnitt III), erfolgen zu-nächst ein paar allgemeine Bemerkungen zur besseren Einordnung der Diskussion (Abschnitt II). Abschließend werden dann in einem kurzen Fazit (Abschnitt IV) die Diskussionslinien des ersten Abschnitts wieder aufgenommen werden.

II. … und der „Kampf um die europäische Integration”

Die europäischen Sozialstaaten sind nicht nur historisch recht disparat entstanden, sie entsprechen auch der Unterschiedlichkeit der europäischen Wirtschaftsmodelle (vgl. Strünck 2008) – dies bezieht sich ebenso auf die materielle Höhe der sozialen Sicherung, wie auch auf den Grad der Dekommodifizierung, die Art der Finanzierung, die strukturelle Verteilung der Sicherungsbedürfnisse auf die verschiedenen Notlagen und deren Institutionalisierung. Nach der bekannten Unterscheidung von Esping-Andersen (1990) können wir also mindestens drei Sozialstaatstypen in der EU unterscheiden:

Den sozialdemokratischen oder skandinavischen Typ.

Den sozialkonservativen oder kontinentalen Typ.Den liberalen oder

angelsächsischen Typ.

Mit der Osterweiterung dürfte sich diese Vielfalt noch weiter erhöht haben (vgl. Busch 2005: 24) – von einem oder gar ,dem` Europäischen Sozialmodell kann also zu-nächst keine Rede sein. Allerdings mag entweder der oben angedeutete Wandlungs- und Modernisierungsprozess der verschiedenen Sozialstaaten in der EU zu einem gemeinsamen Modell konvergieren oder das ,Europäische Sozialmodell‘ auch als Denkfigur für einen (neuen?) Integrationstyp stehen.

Die Literatur zur künftigen Entwicklung der Sozialstaatlichkeit in der EU ist lang und ohne eindeutiges Ergebnis. Die oben erwähnten objektiven Faktoren und insbesondere die Anforderungen der europäischen Integration betreffen zwar alle Mitgliedsstaaten, dennoch sind die nationalen Anpassungspfade grundsätzlich durchaus offen: Einerseits mag man Sapir et al. (2003) zustimmen, die vor dem Hintergrund der neoliberalen Ideologisierung und der EU-Integrationsarchitektur nur das liberale Modell für überlebensfähig hält und eine entsprechende Konvergenz prognostiziert, man mag andererseits aber auch Strüncks (2008) Einschätzung teilen, wonach nicht nur das Sozialstaatsmodell vom zu Grunde liegenden Wirtschaftsmodell geprägt wird, sondern auch die Modernisierungs- und Anpassungspfade dem jeweiligen Wirtschaftsmodell angepasst werden und mithin Divergenzen bestehen bleiben und allenfalls langfristig unter-schiedliche Hybridmodelle entstehen werden. In gewisser Weise zwischen diesen Positionen liegt Buschs (2005; 2009) Argumentation, der im System der Wettbewerbsstaaten – zu dem die neoliberale Architektur der EU geführt hat (vgl, auch Streeck 1996) – eine Konvergenz zu einem Hybridmodell zu erkennen glaubt, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Sozialsysteme zu bedeutenden Wettbewerbsfaktoren insbesondere im einheitlichen Währungsraum (also der EWU) geworden sind. Im Rahmen der „Methode der offenen Koordinierung” – dem weichen Governance-Modus im Bereich der EU- Sozialpolitik – sind praktisch überall Entwicklungen der Rekommodifizierung, der Privatisierung und der Absenkung der Sicherungsleistungen zu erkennen.

Hier kann nicht auf die einzelnen Strukturmerkmale des vermeintlichen Konvergenzprozesses im Detail eingegangen werden. Letztlich ist mit der „Ökonomisierung” aber vor allem auch ein Rückbau des Sicherungsniveaus zur Reduktion angeblicher Allokations- und Wettbewerbsprobleme verbunden. Wirft man einen Blick auf die relativen Sozialausgaben verschiedener, modellübergreifender Länder, so lässt sich allerdings bislang eine allgemeine Abwärtsspirale der Sicherungsniveaus nicht erkennen.[1]Einige Mitgliedstaaten haben, unabhängig von der Modellzugehörigkeit (Frankreich als Beispiel des kontinentalen Modells, Dänemark als Beispiel des skandinavischen Models und Polen als Vertreter der MOB-Länder), gar eine eher steigende Sozialausgabenquote zu verzeichnen, nur in wenigen Ländern (z. B. Schweden als Vertreter des skandinavischen Modells) sinkt die Sozialausgabenquote tendenziell – wobei in allen Fälle am aktuelleren Zeithorizont eher ein Stagnation denn ein klarer (Abwärts-)Trend festzustellen ist.

Wenn also die Konvergenz zu einem verallgemeinerbaren „Europäischen Sozialmodell” mit einer ernsthaften Gefährdung der sozialen Errungenschaften in der EU verbunden sein soll, muss andere Evidenz erbracht werden. Zuweilen wird deshalb nicht ausschließlich auf die Entwicklung der Sozialausgabenquote abgestellt, sondern diese in Verbindung zum Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft (BIP pro Kopf) gebracht (vgl. Heise/Lierse 2011). Denn bei der sozialen Sicherung handelt es sich um ein öffentliches Gut, dessen Nachfrage seitens der Konsumenten (der Bürger) mit steigendem Einkommen zunimmt (positive Einkommenselastizität). Die inkriminierten Dumpingpraktiken würden sich jetzt nicht erst bei einer absolut sinkenden Sozialleistungsquote, sondern bereits bei Sozialleistungsquoten zeigen, die nicht dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand entsprechen, wenn sich wirklich ein positiver Zusammenhang (Korrelation) beider Größen messen lässt. Tatsächlich kann in den 1980er und 1990er Jahren von einer hohen und sogar zunehmenden Korrelation gesprochen werden – trotz aller Variationen entlang der Sozialstaatsmodelle. Das Bild ändert sich allerdings, wenn wir in die 2000er-Jahre schauen: Nun hat sich die enge Korrelation weitgehend aufgelöst. Verantwortlich für diese Entwicklung sind zumindest relative Dumpingpraktiken in Ländern des liberalen (z. B. Irland) und des mittel- und osteuropäischen Typs (z. B. die Slowakei), die ihre Sozialstaaten nicht entsprechend der Steigerung ihrer Wirtschaftskraft ausbauen, aber auch Länder des kontinentalen Typs (die Niederlande) tragen durch einen Rückbau der Sozialstaatlichkeit dazu bei, dass Sozialpolitik immer mehr zu einem Standort- und Wettbewerbsfaktor in der EU wird.

Die Entwicklungen in Sozialstaaten hängen von vielfältigen realpolitischen Machtkonstellationen ab, sie sind nicht ausschließlich ökonomisch-funktionalen oder ideologischen Erwägungen geschuldet. Trotz zahlreicher objektiv und subjektiv belastender Faktoren ist auch im europäischen Modernisierungsprozess nicht mit einem simplen Herunterkonkurrieren der Sozialstandards zu rechnen. Andererseits legen die empirischen Daten durchaus nahe, dass der noch in den 1980er und 1990er Jahren erkennbare materielle Entwicklungspfad verlassen oder jedenfalls nicht länger den Bezugsrahmen bilden wird. Je größer die objektiven Belastungsfaktoren und der Perspektivwandel der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Richtung „Ökonomisierung”, desto eher ist eine entsprechen-de Entwicklung zu erwarten. Insofern ist es durchaus wichtig, ob das „Europäische Sozialmodell” – insbesondere nach den ernüchternden Erfahrungen der europäischen Politikakteure mit der zumindest skeptischen, wenn nicht gar ablehnenden Haltung der Bürger in der EU, die sich auch im gescheiterten Versuch zeigte, eine europäische Verfassung durchzusetzen – als eine positive Vision einer vom US-Modell verschiedenen Sozial- oder gar Wohlfahrtsstaatlichkeit entwickelt wird.

Genau hierin, im Versuch, das „soziale Defizit” (Joerges/Rödl 2004) durch eine stärkere Berücksichtigung der sozialen Komponente zu verringern, bestand die Strategie des früheren EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors. Mit Delors ist nicht nur die weitere ökonomische Integration im Rahmen der Projekte des „Gemeinsamen Binnenmarktes” und der „Währungsunion” verbunden, sondern auch die Prägung des Begriffs „Europäisches Sozialmodell”. Delors war klar, dass allein Markt schaffende Integrationsschritte nicht ausreichen würden, um die Euro- Skepsis der 1980er Jahre („Eurosklerose`) zu überwinden, zumal die zunehmende Inkongruenz von Marktreichweite und Marktregulierung nationale Sozialstandards unter Druck zu bringen drohte – es zeigten sich eben die Grenzen „semi-souveräner” Staaten (vgl. Leibfried/Pierson 1995).

Bedingten sich für den Sozialisten Delors deshalb ökonomische und soziale Integration noch – und das Europäische Sozialmodell Delors’scher Vision darf deshalb noch alsernsthafter Versuch verstanden werden, die wohlfahrtsstaatlichen Traditionen Europas zu verteidigen und als Legitimationsreserve der europäischen Integration zu begreifen –, so müssen spätere EU-Kommissionen als wesentliche Motoren des Perspektivwandels angesehen werden (vgl. z. B. Aust 2004, Hofbauer 2007). Damit setzen sich in der EU-Kommission „im Kampf um die europäische Integration” (Hooghe/Marks 1999) jene Kräfte durch, die noch in der Delors-Kommission mit dem teilweise als „neukeynesiänisch” (Schmid 1995: 258) bezeichneten Weißbuch „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung” in Schach gehalten wurden. Dies geschah erstaunlicherweise zu einer Zeit, als sich mit der Übernahme von Regierungsämtern durch Sozialdemokraten in vielen, insbesondere aber den wichtigsten EU-Mitgliedsstaaten ein „window of opportunity” eröffnete, einen tatsächlich „eurokeynesianisch” geprägten Entwicklungspfad fest-zuschreiben bzw. zu erneuern. Der mit dem Rücktritt Oskar Lafontaines von allen Partei- und Regierungsämtern zu Gunsten der „linken Angebotspolitiker” (Priddat 2001) in der SPD entschiedene Zwist in der ersten Schröder-Regierung zeigt exemplarisch die Unsicherheit über den künftigen wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs der europäischen Sozialdemokratie (vgl. Aust 2004) und erklärt nicht nur, weshalb sich dieses Möglichkeitenfenster ungenutzt recht bald wieder schloss, sondern auch, warum die EU-Kommission leichtes Spiel hatte, ihre Vorstellungen vom „sozialinvestiven Staat”, als feste Konnotation des „Europäischen Sozialmodells” und als weitere Legitimationshilfe der im Amsterdamer Vertrag eingefügten Beschäftigungspolitik zu etablieren.

Ob die jüngste Weltfinanzkrise noch einmal zu einem jener „handfesten gesellschaftlichen Konflikte” führt, „durch die hindurch emanzipative Kräfte die Agenda mit-bestimmen und die aktuell dominierenden Projekte schließlich zurückgewiesen werden” (Brand 2006: 169), wird sich erst noch zeigen müssen. Neben einem temporären Legitimationsverlust orthodox-neoliberaler Wirtschafts- und Finanzkonzepte auf ideologischer Ebene (Heise 2009) hat die Weltfinanzkrise zunächst einmal auf ganz politisch-praktischer Ebene zu einer enormen Belastung der öffentlichen Haushalte geführt: Die strukturelle Neuverschuldung steigt überall weit über die vom Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) vorgesehene Marke eines ausgeglichenen Haushalts, die „automatischen Stabilisatoren” fügen überall noch einmal einige Prozentpunkte Defizit hinzu und macht damit ein Jahrzehnt der – allerdings nur bescheidenen – Konsolidierung zunichte. Damit wird auch das neuerliche Konsolidierungsausmaß deutlich, wenn die im SWP angepeilte Verschuldungsgrenze von 60 Prozent des BIP weiterhin als Maß nachhaltiger Finanzpolitik Bestand behalten soll: nur wenige Länder in der Eurozone werden die Marke im Jahr 2011 noch unterschreiten. Es lässt sich also nicht bestreiten, dass die strukturellen Defizite in Relation zum Wirtschaftswachstum überall erheblich zurückgefahren werden müssen, wenn ein dauerhaftes Ansteigen der Staatsverschuldung verhindert werden soll. Die schon immer sehr sensible Frage der Finanzpolitik ist und bleibt, ob dies durch Steuererhöhungen, Steuersenkungen, konsumtive (soziale) oder investiven Ausgabensenkungen oder –erhöhungen erreicht werden soll. Die herkömmliche Auffassung, dass konsumtive – d, h, insbesondere soziale – Ausgabensenkungen Einnahme- also Steuererhöhungen vorzuziehen sind, wird jedenfalls durchaus bestritten (vgl. Heise 2004).

III. Governance, Sparpolitik und das Europäische Sozialm­odell

In Reaktion auf die Weltfinanz- und nachfolgende Eurokrise hat sich das Europäische Governance-System erheblich verändert (vgl. Heise 2011): Neben einer Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) und der Erhöhung und Perpetuierung des Europäischen Finanzmarktstabilisierungsfonds (EFSF) im Rahmen des Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) ist mit dem Euro-Plus-Pakt (EPP) ein weiterer Abstimmungsprozess entstanden, der als Ziel die EU-weiten Leistungsbilanzungleichgewichte adressiert, in der Konsequenz aber, wie die anderen Prozesse auch, vor allem den Druck auf die nationale Haushaltspolitik im Sinne massiver Restriktion (ausgeglichener Haushalt, Rückführung der Staatsquote, Sparzwänge, konstitutionelle Schuldenbremsen) erhöhen und hochhalten soll. Dieser Druck zeigt sich in den Sparprogrammen, die überall in der EU verabschiedet und ständig verschärft werden.

Nicht nur der Anteil der Einschnitte in die Sozialstaaten, sondern auch die Art und Weise der Einsparungen fällt unterschiedlich aus. Generell sind in allen Ländern entweder die Renten- oder die Gesundheitssysteme betroffen, in vielen Fällen sogar beide. In diesen Bereichen zeichnen sich bestimmte Tendenzen ab: im Rentenbereich kommt es neben der Anhebung des Renteneintrittsalters zu einer Erweiterung der Bemessungsgrundlage und zu einer Verstärkung der individuelle Beitragäquivalenz. Umso erstaunlicher ist es, dass die isländische Regierung eine Rentenreform verabschiedete, die diesem Trend nicht entspricht. Rentenbezüge sollen hier mit steigendem Einkommen zurückgefahren und die individuelle Äquivalenz abgebaut werden.

Während die meisten Staaten bei den unteren Einkommensgruppen sparen, verfolgen nur wenige Regierungen eine Strategie, die auch höhere Einkommen an der Schuldenkonsolidierung beteiligt. Zum Beispiel Großbritannien und Deutschland sparen bei den Bedürftigsten und bei den Sozialversicherungsbeziehern mit dem Ziel, den Lohnabstand zu reduzieren und den Anreiz, eine Beschäftigung aufzunehmen, zu erhöhen. Dieser Ansatz stellt eine regressive Politik dar, mit der eine Umverteilung von ser Ansatz stellt eine regressive Politik dar, mit der eine Umverteilung von niedrigen zu höheren Einkommen einhergeht. Jedoch auch jene Ansätze, die überwiegend pauschale sozialstaatliche Kürzungen vorsehen wie Spanien und Rumänien können als regressiv bewertet werden. Auf der anderen Seite verabschiedete Island jedoch sozialstaatliche Kürzungen, die überwiegend mittlere und höher Einkommen treffen. Darüber hinaus sehen nur wenige Länder wie Island und Griechenland eine Beteiligung höherer Ein-kommen über eine Vermögens-, Reichen- oder Körperschaftsteuer für profitable Unter-nehmen vor. Andere Staaten wie Großbritannien führten zwar eine Bankenabgabe ein, jedoch senkten sie zugleich die Körperschaftssteuer und revidierten somit die Umverteilungskomponente.

Prinzipiell dienen die internationale Wirtschaftskrise und die daraus resultierende öffentlichen Schuldenlage in allen sechs Staaten als Auslöser und Rechtfertigung, um sozialstaatliche Kürzungen durchzusetzen. Obwohl sich in Hinsicht auf die Konsolidierungsstrategien gewisse Ähnlichkeiten abzeichnen, gibt es dennoch erhebliche Unter-schiede: Auf der einen Seite scheint es wenige Staaten wie Islands zu geben, deren Ansatz eine verteilungspolitische Komponente einschließt und somit einen progressiven Ansatz darstellt. Auf der anderen Seite setzten die meisten Konsolidierungsprogramme, wie das Großbritanniens und Deutschlands, gezielt bei unteren Einkommen an.

IV. Ein kurzes Fazit

Europa hat sich längst davon verabschiedet, Sozialpolitik im Rahmen eines gesellschaftspolitischen Konzepts zu definieren. Die Wohlfahrtsstaaten sind den historisch unterschiedlichen, europäischen Sozialmodellen gewichen, in denen Sozialpolitik ökonomischen und fiskalischen Prioritäten zu folgen hat. Dies impliziert gleichermaßen ei-ne rückläufige Solidarkomponente in der Sozialversicherung wie eine materielle Ausgestaltung der Sozialpolitik – mit Blick auf deren vorgebliche Anreizwirkungen und Allokationseffekte –, die pro Versicherungsfall abnimmt. Diese allgemeine Einschätzung gilt nicht nur für die hoch entwickelten EU-Staaten in der Mitte des Kontinents, sondern auch für die Konvergenzkandidaten im Süden und Osten der EU, die den einstmals gültigen Entwicklungspfad einer hohen Korrelation von Wirtschaftsentwicklung und Sozialausstattung verlassen haben.

Die Hoffnung, dass die Weltfinanzkrise mit ihren sozialen Verwerfungen ein Um-denken einleiten könnte und das Europäische Sozialmodell doch noch zum umkämpften Terrain eines anderen europäischen Integrationsmodus werden könnte, scheinen sich vor dem Hintergrund der Haushaltslagen in fast allen EU-Staaten nicht zu bewahrheiten (vgl. Heise 2011). Fast überall sind auch nach der Weltfinanzkrise die orthodoxen Diktionen der Finanzpolitik – ausgeglichener Haushalt im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts – gültig bzw. werden gar noch schärfer formuliert. Auch scheint die Weisheit unumstößlich, wonach eine Haushaltskonsolidierung mittels konsumtiver Ausgabenkürzungen Erfolg versprechender sei als mittels Einnahmeerhöhung. Diese Politikausrichtung wird über die modifizierte EU-Governance-Struktur unterstützt und als Konditionalität weiterer Hilfsangebote den Nationalstaaten abverlangt.

In allen untersuchten Fällen — vielleicht mit der Ausnahme Islands — dominiert unabhängig von der Regierungszusammensetzung die regressive Ausgabenkürzung. Einnahmeerhöhungen mittels progressiver Erhöhung der Steuersätze spielen allenfalls eine untergeordnete Rolle – gelegentlich werden regressiv wirkende Mehrwertsteuererhöhungen teilweise durch Unternehmenssteuersenkungen kompensiert und damit die Regression erhöht. Selbst Länder wie Irland, die das europäische Hilfsprogramm in Anspruch nehmen müssen, scheinen sich erfolgreich dagegen zu wehren, ihre wettbewerbsverzerrend niedrigen Unternehmenssteuersätze anheben zu müssen.

Da fast überall in der EU regressive Sparmaßnahmen in historisch einmaliger Größenordnung durchgeführt werden, sind die Konsolidierungswirkungen zumindest unklar: Die immer noch dominante Fiskalorthodoxie baut auf das „Crowding -in” privater Investitionen bei sinkenden Staatsausgaben. Dann kann der Wachstumspfad unbeschädigt bleiben oder gar – bei entsprechenden Erwartungseffekten – sogar ansteigen und die Konsolidierung bei gekapptem Sozialstaat gelingen (vgl. Heise 2010: 287ff.). Die alternative (keynesianische) Sicht hält die Hoffnung eines kompensierenden privaten „Crowding-in” bei abnehmender Massenkaufkraft für naiv und befürchtet negative Auswirkungen auf den Wachstumspfad, die – je nach Größe der Multiplikator- und Akzeleratoreffekte – die Konsolidierung zumindest deutlich erschweren, wenn nicht sogar verunmöglichen (vgl. Heise 2010: 287ff.). Je verbreiteter die Sparbemühungen sind, desto geringer die Hoffnung, dass sich mangelnde Binnennachfrage erfolgreich durch ausländische (Export-)Nachfrage kompensieren lässt (vgl. z.B. Arestis/Pelagidis 2010). Vieles spricht also für ein eher stagnatives Wachstumsszenario in der EU, in dem die Konsolidierungsbemühungen wenig erfolgreich sein werden und somit der Druck auf regressive Maßnahmen gar noch zunimmt.

Nach den milliardenschweren Rettungsschirmen für Banken und ganze Staaten wäre eine Renaissance des Europäischen Sozialmodells als Legitimationsreserve und natürlich, notwendiger sozialer Schutzschirm für die Bürger in der EU zu erwarten gewesen. Die sozialen Proteste überall in Europa mahnen an, dass die EU ohne soziales Fundament langfristig auf Sand gebaut sein könnte.

[1] Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass eine konstante Sozialausgabenquote keine Konstanz des Sicherungsniveaus bedeuten muss, wenn die Anzahl der Versorgungsempfänger aufgrund von Alterung, steigender Armut oder Arbeitslosigkeit steigen.
[2] In diese Studie ist mit Island auch ein Nicht-EU-Staat aufgenommen, da Island einerseits besonders hart von der Weltfinanzkrise betroffen war, andererseits einen etwas anderen Konsolidierungsweg beschritt.
[3] Auch wenn keine Erhöhung der Unternehmenssteuer eingeführt wurde, so plant die Bundesregi erung die Einführung einer Transaktionssteuer mit Einnahmen von rund 6 Mrd. €, was etwa 7,5 Prozent des Sparp aketes entspricht.
[4] In Großbritannien wurde der Einkommenssteuerfreibetrag um 1.000 £ pro Monat angehoben, was keinen progressiven, sondern einen regressiven Effekt hat.

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