Publikationen / vorgänge / vorgänge 62-63

Friedens­-­Ma­ni­fest '83: Gewaltfrei gegen Atomraketen

aus: vorgänge Nr. 62/63 (Heft 2-3/1983), S. 188-189

In aller Welt wenden sich immer mehr Menschen gegen das Wettrüsten. Quer durch alle Parteien und Schichten der Gesellschaft in der Bundesrepublik und im internationalen Zusammenhang findet die Friedensbewegung wachsende Unterstützung. Jede Friedensbewegung kann nur dann ihre Glaubwürdigkeit wahren, wenn sie ihre Forderungen auch und insbesondere an die Verantwortlichen der eigenen Seite richtet. Grundsatz der unabhängigen Friedensbewegung ist es deshalb, der wechselseitigen Bedrohung entgegenzutreten und zuerst im eigenen Lande vor allem für den Abbau der Bedrohung der anderen Seite zu arbeiten. Dadurch wird gleichzeitig auch die eigene Sicherheit und die des Friedens erhöht.

Das Bewußtsein verbreitet sich: Ist auch 30 Jahre ein Krieg in Europa vermieden worden, so stiegen doch in dieser Zeit die ständige Bedrohung, die Gefährlichkeit der bereitgestellten Militärpotentiale und damit die Wahrscheinlichkeit von Krieg. Der Frieden kann also sicher nicht auf die gleiche Weise noch einmal 30 Jahre erhalten werden. Die Katastrophe rückt näher. Die neuen Raketen schaffen eine qualitative Veränderung. Das bisherige System der Abschreckung wird zunehmend um ein aggressives kriegsförderndes Drohsystem erweitert. »Zwischenlösungen«, die manche von den Genfer Verhandlungen erwarten, ändern daran nichts. Weitere »Nachrüstungen« auf beiden Seiten werden folgen und die Lage immer labiler machen. Wiederum droht Krieg von deutschem Boden auszugehen.

Dieser tödlichen Gefahr müssen wir uns entgegenstellen. Es gilt, in diesem Jahr die Bevölkerung wachzurütteln und die Haltung der Mehrheit, die neue Raketen ablehnt, sichtbar zu machen, so daß unter ihrem Druck die Stationierungspolitiker bei uns und in den USA ihre verderblichen Pläne aufgeben müssen. Dem sollen all unsere Aktionen dienen. Darum müssen sie demokratisch und gewaltfrei sein, das Umdenken der Bürgerinnen und Bürger befördern, statt es zu blockieren.

Wir können uns berufen auf die entschiedene Haltung der katholischen und protestantischen Kirchenführer in den USA und auf die dortige Friedensbewegung, ebenso auf die Erklärung der Kirchen in der DDR. Auch aus dem Hirtenbrief der deutschen katholischen Bischöfe und den Erklärungen der evangelischen Kirchenleitungen in der Bundesrepublik folgt mit zwingender I.ogik das Nein zur Stationierung der neuen Raketen. Wir wenden uns deshalb an die Glieder aller Religionen und Konfessionen in unserem Lande, die Unvereinbarkeit dieser sich steigernden Rüstungspolitik mit jeder echten religiösen Haltung aktiv zu bezeugen.

Wir wenden uns an alle Arbeiter und Angestellten und ihre Gewerkschaften: Soziale Sicherheit und Wettrüsten sind unvereinbar. Rüstung erhält nicht Arbeitsplätze. Sie werden durch einen neuen Kalten Krieg noch weiter abgebaut. Eure Kräfte müßt Ihr gegen die Fortsetzung des Wettrüstens einsetzen, in diesem Jahr, jetzt!
Friedensarbeit ist nicht nur in den Städten dringend, sondern auch in jedem Dorf. Schon jetzt leisten Friedensgruppen neben Demonstrationen, Ostermärschen, großen politischen und kulturellen Veranstaltungen und gewaltfreien Blockadeaktionen eine vielfältige wichtige Tag-zu-Tag-Arbeit. Auch diese phantasievollen bürgernahen Arbeitsformen im Alltags-und Berufsleben gilt es zu erweitern: Atomwaffenfreie Zonen in Städten und Gemeinden, Verweigerungsaktionen von Ärzten gegen ihren Einbezug in die Kriegsmedizin, Steuerboykott-Kampagnen, Schweigen und Fasten für den Frieden, Menschenketten zwischen und um Militärstützpunkte, Informationsstände und Mahnwachen, Wohnzimmergespräche mit den Nachbarn, Arbeitsplatzgespräche mit den Kollegen und vieles mehr. Friedensarbeit in alle Teile und Bereiche unseres Landes zu tragen, ist eine aktuelle Herausforderung und Möglichkeit.

Immer öfter versuchen Behörden und Politiker, den Widerstand gegen die Stationierung durch Kriminalisierung, Kostenübernahme-Verordnungen und Verschärfung des Demonstrationsrechts zu brechen. Ihre Abschreckungspolitik richtet sich gegen die eigene Bevölkerung. Sie verbeugen sich vor dem gewaltfrein Kampf Gandhis und Martin Luther Kings, aber sie brandmarken als Bruch von Gesetz und Verfassung, wenn auch wir gegen den Rüstungswahnsinn gewaltfreien Widerstand und zivilen Ungehorsam leisten. Sie dürfen damit keinen Erfolg haben. Die Friedensbewegung läßt sich trotz Opfern und Risiken nicht abschrecken. Den Regierungen in Ost und West sagen wir: Wer Frieden will, darf Friedensarbeit nicht einschüchtern wollen.
Wir erklären uns solidarisch mit gewaltfreien Aktionen gegen atomare und chemische Waffenlager und Raketenabschußrampen. Wir werden vom 1. bis 3. September 1983 gemeinsam mit gewaltfreien Aktionsgruppen und zusammen mit Pfarrern, Künstlern, Publizisten, Ärzten, Hochschullehrern, Gewerkschaftern, Juristen, Politikern u.a. den Raketenstützpunkt Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd blockieren. Dort sind Pershing-I-Raketen stationiert und sollen im Spätherbst Pershing II aufgestellt werden. Wir werden uns auch an weiteren Aktionen beteiligen, falls es zur geplanten Stationierung kommt. Wir werden ferner Demonstranten, die sich an gewaltfreien Aktionen beteiligen, gegen Kriminalisierung und Bestrafung durch Kostenbescheide nach Kräften zu verteidigen suchen.

Das Grundgesetz verpflichtet uns, »dem Frieden der Welt zu dienen«. Es macht das Völkerrecht für unseren Staat verbindlich und verbietet alle Handlungen, die geeignet sind, »das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören«. Das Grundgesetz steht damit gegen die Stationierung der neuen Raketen und legitimiert unseren Widerstand gegen sie. Sicherheit für uns kann nur gewonnen werden, wenn von unserem Lande keine Bedrohung anderer Länder ausgeht. Dies liegt in unserem ureigensten Interesse und in dem unserer Kinder. Es entspricht unserem Wunsch nach Sicherung unserer Lebenswelt und nach einem guten Zusammenleben mit allen europäischen Nachbarn.

Gruppe Friedens-Manifest: Inge Aicher-Scholl, Heinrich Albertz, Ulrich Albrecht, Gerd Bastian, Heinrich Böll, William Born, Andreas Buro, Volkmar Deile, Walter Dirks, Ingeborg Drewitz, Bernt Engelmann, Erhard Eppler, Brigitte und Helmut Gollwitzer, Günter Grass, Walter Jens, Robert Jungk, Petra Kelly, Horst Krautter, Oskar Lafontaine, Josef M. Leinen, Alfred Mechtersheimer, Wolf-Dieter Narr, Horst-Eberhard Richter, Jürgen Seifert, Dorothee Sölle, Klaus Vack.

1. Juli 1983
Koordinationsadresse: Klaus Vack, An der Gasse 1, 6121 Sensbachtal

nach oben