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Whist­leblower

aus: Vorgänge 192 ( Heft 4/2010), S. 85-93

Demokratie und Menschenrechte sind nur dann lebendig, wenn herrschaftliches Handeln und Herrschaftswissen nicht ohne Weiteres geheim gehalten werden können. Darum verdienen die Betreiber des Internet-Portals Wikileaks in erster Linie Anerkennung für ihre informationstechnische Kunstfertigkeit und ihren Mut, Wahrheit zu Tage zu fördern. Aber auch Wikileaks lebt davon, dass es überall Menschen gibt, die sich zu Wort melden, wenn anderen Menschen im Geheimen Unrecht geschieht, sie unterdrückt oder getötet werden, wenn der Frieden und die Umwelt, wenn Demokratie und soziale Gerechtigkeit gefährdet sind. Ohne Whistlelower könnte auch Wikileaks nicht Wahres berichten, wo Lüge zur herrschenden Wahrheit zu werden droht.

Die demokratische Gesellschaft ist auf „Aufklärung” v. a. durch eine unabhängige Medienberichterstattung angewiesen, von der die kontextbezogene und kritische Vermittlung von Informationen erwartet wird. Wie aber ist es um die Zugänglichkeit der Informationen für die Medien bestellt? Journalisten stehen auch in Deutschland immer häufiger vor verschlossenen Informationstüren. Typische Informationsbarrieren sind Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse privater Unternehmen, die Amtsgeheimnisse der öffentlichen Verwaltung und Politik sowie die innere und äußere Sicherheit von Staaten. Diese Bereiche weiten sich aus und überlagern einander im Zuge von Privatisierung und Public Private Partnership (PPP) einerseits und wachsenden Sicherheitsbestrebungen in Staat und Gesellschaft andererseits. Hier ist an Informationen oft gar nicht oder nur auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG von 2006) zu gelangen. Das Recht wiederum wird dem Antragsteller von Behörden häufig verwehrt und muss vor den Verwaltungsgerichten im Einzelfall erstritten werden.‘ Ob man dort obsiegt oder unterliegt: Es vergeht jedenfalls viel Zeit. Zeit, in denen Gesetze verabschiedet, öffentliche Einrichtungen privatisiert, Truppen entsandt werden, ohne dass die informationellen Voraussetzungen für solche weitreichenden Entscheidungen bei den Akteuren, geschweige denn einer breiteren politischen Öffentlichkeit vorlägen.

Wenn der investigative Journalist mit seinem traditionellen Handwerkszeug an diesem toten Punkt angelangt ist, kommt er eigentlich nur noch mit Hilfe von InformantInnen mit Insiderkenntnissen weiter. Für solche InformantInnen wurde in Ermanglung einer deutschen Bezeichnung mit positiver Konnotation der Begriff des Whistleblowers aus dem angelsächsischen Sprachraum übernommen.

Whist­leblo­wing im militä­ri­schen Sicher­heits­be­reich

Auf der Website des Internet-Portals Wikileaks wurde am 5. April ein bis dahin geheim gehaltenes Bord-Video eines Kampfhubschraubers der US-Armee veröffentlicht. („Collatereal Murder“ http://wikileaks.org/wiki/Collateral_Murder,_5_Apr_2010 – die Adresse wikileaks.org wurde zwischenzeitlich gesperrt. Das Video findet man u. a. bei youtube.) Es zeigt die gezielte Tötung von mindestens 11 irakischen unbewaffneten Zivilisten am 12. 7. 2007 aus diesem Hubschrauber heraus. Unter den getöteten Zivilisten befanden sich zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters, Saeed Chmagh und Namir Noor-Eldeen. Das tödliche „engagement” (Schießen) der Soldaten wird via Funkverbindung von ihrer Einsatzleitung mehrfach genehmigt. Ein unbewaffneter Schwerverletzter wird erschossen und mit ihm die Personen, die ihn bergen wollen.

Mit der Veröffentlichung dieses Videos hat Wikileaks die Weltöffentlichkeit gezwungen, ein Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak-Krieg zur Kenntnis zu nehmen. Ein Sprecher der multinationalen Streitkräfte in Bagdad wurde zudem überführt, Öffentlichkeit und Presse über den Vorfall belogen zu haben.[2]

Durch die Genfer Abkommen und ihre Zusatzprotokolle wird festgelegt, dass Kriegsführung nur gegen Kombattanten und militärische Objekte erfolgen darf und dass die Methoden und Mittel dabei Beschränkungen unterliegen. Zu den Grundprinzipien gehören:

  • Das Unterscheidungsgebot hinsichtlich der Angriffsziele, d. h. zwischen Kombattanten und Zivilisten sowie militärischen und nicht-militärischen Objekten.
  • Die Beachtung der Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Methoden und Mitteln und den zu erwartenden konkreten direkten militärischen Vorteilen.
  • Die Ergreifung von Vorsichtsmaßnahmen bei Angriffen zum Schutz von Zivilpersonen und zivilen Objekten.
  • In Zeiten bewaffneter Konflikte zählen Zivilpersonen, Kranke und Verwundete sowie Hilfe leistende Personen zum absolut geschützten Personenkreis.[3]

Das „Irak-Video”, dessen Authentizität auch von der US-Regierung nicht in Abrede gestellt wurde[4], dokumentiert demnach Verstöße gegen die Genfer Konvention. Es er-hellt zudem schlaglichtartig wesentliche Kriegs-Wahrheiten: über das Kriegsgeschehen im Irak, über die Verrohung der Akteure („they just drove over a body“ – „haha! really?” – Zitat aus dem Video), über die Leiden der Opfer. Die Person, die dieses Video Wikileaks hat zukommen lassen, handelte im Öffentlichen Interesse:

  • Die Medien, die BürgerInnen und ihre politischen Repräsentanten haben ein Recht auf Kenntnis dieser vorenthaltenen Wahrheiten .[5] Sie zu kennen gehört zu den Voraussetzungen für einen informierten demokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess über Krieg und Frieden.
  • Eine offene gesellschaftliche Debatte kann dazu beitragen, dass Akteure Traumatisierungen eingestehen und kollektive und individuelle Trauerarbeit zugelassen werden können.[6] Auch mag ein Mehr an Transparenz des Kriegsgeschehens mäßigend auf die Akteure wirken, die ansonsten in einem abgeschotteten und damit extrem fehleranfälligen militärischen System agieren.
  • Die Frage, in welchem Umfang es auch in demokratischen Gesellschaften trotz der fundamentalen Bedeutung von Meinungs- und Pressefreiheit ein berechtigtes Geheimnisschutzinteresse des Staates gibt, braucht hier nicht erörtert zu werden. Denn unter keinem Gesichtspunkt sind Menschen- und Völkerrechtsverstöße, wie sie das Irak-Video belegt, ein „schützenswertes Staatsinteresse“[7]
Anklage gegen den Soldaten Bradley Manning

Gleichwohl haben sich die Bemühungen der US-Regierung, soweit sie öffentlich bekannt geworden sind, nicht etwa darauf konzentriert, den im Video dokumentierten Vorfällen auf den Grund zu gehen und die Schuldigen anzuklagen, sondern darauf, den Whistleblower ausfindig zu machen. Es ist das alte, bedrohliche Lied: Nicht derjenige ist schuldig, der die Tat begeht. Der Bote ist vielmehr zu bestrafen, der darüber berichtet. Zur Zeit steht der bis zu seiner Festnahme im Irak stationierte 22jährige Geheimdienstanalyst Bradley Manning unter Verdacht, die dem Video zugrunde liegenden Daten an Wikileaks geschickt zu haben.[8] Er soll nun vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Gemäß den einzelnen Anklagepunkten hat er eine Gefängnisstrafe von 52 Jahren zu er-warten. Neuerdings häufen sich Hinweise, dass er Folter ähnlichen Haftbedingungen ausgesetzt ist (http://www.spiegel.delpolitik/ausland/0,1518,736268,00.html).

Ob es sich bei Bradley Manning tatsächlich um den gesuchten Whistleblower handelt, ist nicht bekannt. Die Tatsache, dass schon mit Datum vom 18.3.2008 ein später ironischer Weise von Wikileaks veröffentlichtes Strategiepapier der US-Regierung er-stellt wurde, in dem Strategien entwickelt werden, Wikileaks als unglaubwürdig oder unzuverlässig darzustellen, lässt Zweifel aufkommen: Eine nachdrückliche Strategie-Empfehlung besteht darin, einen Wilcilealcs-Informanten zu enttarnen,[9]

Parallelen zu den Fällen Vanunu und Ellsberg

Der „Fall” des Bradley Manning erinnert fatal an zwei andere Whistleblower: an Mordechai Vanunu und Daniel Ellsberg, den Träger des Whistleblower-Preises 2003. Vanunu arbeitete als Ingenieur im Atomreaktor von Dimona und informierte 1986 Presse und Weltöffentlichkeit über das geheime Atomwaffenprogramm Israels. 1988 wurde er in einem Geheimverfahren zu einer 18 jährigen Freiheitsstrafe verurteilt, u. a. wegen „Sammlung und Weitergabe geheimer Informationen in der Absicht, der Sicherheit des Staates Israel zu schaden”. Er verbrachte die Zeit überwiegend in Einzelhaft. Seine Meinungsäußerungsfreiheit wird auch nach seiner Entlassung andauernd beschnitten. Er darf Israel nach wie vor nicht verlassen und wurde unlängst wieder zu einer Gefängnis-strafe verurteilt, weil er sich angeblich nicht an Auflagen halte. Die Internationale Liga für Menschenrechte hat Mordechai Vanunu am 12. Dezember 2010 die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen. Trotz eines Offenen Briefes an den israelischen Ptemierminister Benjamin Netanyahu, den viele Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik unterzeichneten, blieb Vanunu die Ausreise zur Entgegennahme des Preises verwehrt.[10]

Daniel Ellsberg machte Anfang der 70er Jahre die so genannten Pentagon-Papers zur Rolle der USA im Vietnam-Krieg der Öffentlichkeit zugänglich. Er selber hatte als Wissenschaftler an der Zusammenstellung dieser Dokumentation für das US Verteidigungsministerium mitgearbeitet. Die Nixon-Administration reagierte mit massiven Behinderungen der Pressefreiheit und der juristischen Verfolgung Ellsbergs. Sie wollte verhindern, dass das ganze Ausmaß jahrzehntelanger Lüge und amtlicher Täuschung der amerikanischen Öffentlichkeit bekannt würde. Die Enthüllungen der Pentagon Papers haben in entscheidendem Maße zur Offenlegung der schmutzigen Hinter-gründe des Vietnam-Krieges, zum weiteren Anwachsen des Widerstandes der nationalen und internationalen Öffentlichkeit gegen den Krieg und damit letztlich auch zum Ende des Kriegs beigetragen. Der „Fall” Daniel Ellsberg führt vor Augen, welch wichtige Rolle Whistleblower spielen können, wenn es darum geht, Kriegen die Zustimmung der Bevölkerung zu entziehen.

Propaganda der US-Re­gie­rung

Die USA und ihr klandestin operierendes Militär scheinen aus dem Vietnamkrieg, der u. a. internationale Verwerfungen, unzählige Tote, menschlichen Jammer und lebenslang traumatisierte Ex-Soldaten produziert hat, nichts gelernt zu haben. Außer, die eigene und die internationale Öffentlichkeit noch massiver als einst durch Beschränkung der Pressefreiheit (u. a, vermittels des „embedded journalism“), falsche Erfolgsmeldungen und Lügen in die Irre zu fuhren. Inwieweit auch deutsche politische Entscheidungsträger und andere Alliierte hinters Licht geführt werden, sei dahingestellt. Fest steht, dass die Bürgerinnen und Bürger dieser Länder durch Propaganda und PR-Tricks dazu verleitet werden sollen, Kriege, gegenwärtig den Afghanistan-Krieg, zu akzeptieren. So steht es jedenfalls in einem vertraulichen CIA-Bericht, dessen Bloßstellung die Öffentlichkeit wiederum Wikileaks verdankt: „Afghanistan: Sustaining West European Support for the NATO-led Mission—Why Counting on Apathy Might Not Be Enough” (C//NF); httpa/file.wikileaks.org/file/cia-afghanistan.pdf.

Die US-Regierung greift Wikileaks seit Jahren massiv an. Sie wirft den Betreibern u. a. vor, militärisches Personal und die nationale Sicherheit der USA zu gefährden so-wie ausländischen Geheimdiensten und Terroristen in die Hände zu arbeiten.[11] Ein Nachweis wurde bisher nicht geführt. Im Gegenteil, Verteidigungsminister Gates verlautbarte Mitte Oktober 2010, dass die Veröffentlichung von „70000 Geheimdokumenten des Pentagon aus Afghanistan … keinen nennenswerten Schaden angerichtet hat. So seien keine Informanten in den Dokumenten enttarnt worden. [12]

Es geht den USA allem Anschein nach primär darum, das Herrschaftswissen und die Deutungshoheit der Regierung vermittels des „eingebetteten” Journalismus zu sichern. Es geht darum, ein Exempel zu statuieren. Es geht darum, potentielle Whistleblower einzuschüchtern und abzuschrecken.[13] Davon ist nicht nur Wikileaks betroffen, sondern auch der investigative Journalismus und letztlich die Pressefreiheit in ihrer Gesamtheit.

Was einen Whist­leblower ausmacht

Die detaillierte Schilderung der Veröffentlichung des Irak-Videos „Collateral Murder” demonstriert an einem konkreten und u. E. gänzlich unstrittigen Fall, was ein legitimes Whistleblowing kennzeichnet:

  •  Der aufgedeckte Missstand ist gravierend (Kriegsverbrechen).
     Die Öffentlichkeit wurde informiert (die dem Video zugrunde liegenden Daten wurden an Wikileaks geschickt).
  • Die Nachricht liegt im Öffentlichen Interesse (Deligitimierung des Kriegs; kein sichtbares Eigeninteresse).[14]
    Es bestand – und besteht weiterhin – ein erhebliches Vergeltungs-isiko für den Whistleblower, ( Gefährdung seiner beruflichen und privaten Existenz,lanjährig Freiheitsstrafe).

Diese Kriterien: „reveiling wrongdoing”, „going outside”, „serving the public interest“, „risking retaliation”, haben sich im angelsächsischen Raum in der Gesetzgebung und Rechtsprechung zum Whistleblowerschutz etabliert. Bradley Manning – wenn er denn der Informant von Wikileaks ist – entspricht sozusagen dem Idealbild des Whistleblowers. Er hätte auch Anspruch auf den vollen rechtlichen Schutz für Whistleblower, der in den USA besteht, wenn sich sein „Fall” nicht im militärischen Sicherheitsbereich ereignen würde. Der ist in den USA durch eine Fülle von Ausnahmereglungen bei Geheimnisverrat gekennzeichnet, die hier nicht im Einzelnen erörtert werden können. Jedenfalls sieht es schlecht aus für Bradley Manning. Menschenrechtsgruppen auf der ganzen Welt sollten ihm Solidarität und Unterstützung zu Teil werden lassen.

Whist­leblo­w­er­schutz in Deutschland

Whistleblower leben auch in Deutschland riskant. Egal in welchem Arbeits- oder Dienstverhältnis, unterliegen sie am Arbeitsplatz einer strikten Verschwiegenheits- und Treuepflicht ihrem Arbeitgeber gegenüber. Verletzen sie diese, setzen sie sich Maßregelungen bis hin zur Kündigung aus. Jedenfalls besteht in solchen Fällen große Rechtsunsicherheit. Die überwiegende arbeitsgerichtliche Rechtsprechung stellt die Verschwiegenheits- und Treuepflicht des Arbeitnehmers und das Direktionsrecht des Arbeitgebers über die Grundrechte des Arbeitnehmers auf Gewissensfreiheit (Art. 4 GG), auf Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 GG) und das Petitionsrecht (Art. 17 GG). Dies sind drei Grundrechte, die einen Whistleblower im Prinzip schützen könnten.[15] Auch das öffentliche Interesse an einer Information, das beim Whistleblowing ein vordringliches, altruistisches Motiv sein kann, wird — anders als etwa in den USA — nicht gegen das Geheimhaltungsinteresse des Arbeitgebers abgewogen. Arbeitnehmer dürfen interne Informationen in der Regel nicht an eine außerbetriebliche Stelle oder an die Öffentlichkeit, ja nicht einmal an die Strafverfolgungsbehörden geben.[16]

Whistleblowerschutz liegt aber im öffentlichen Interesse, wenn Aufklärung noch gelten soll. Was die Belange aller wesentlich berührl; muss von allen gewusst und eben auch aufgedeckt werden dürfen. Es bedarf einer klaren und unmittelbaren Verankerung der Meinungsäußerungsfreiheit für alle Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse.[17]

Eine lebendige, demokratische Streitkultur braucht informierte Bürger. Wie anders könnten diese sonst an politischen Diskussionsprozessen teilnehmen? Aufgrund welcher Kenntnisse ihr Wahlrecht ausüben? Der Bürger hat ein Recht auf alle Informationen, die ihn in Stand setzen, am gesellschaftlichen Diskurs über Qualität, Richtung und Geschwindigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen teilzunehmen. Zu diesem Recht können Whistleblower nur punktuell verhelfen. Sie könnten aber einen validen Beitrag zur „Gegenöffentlichkeit” leisten, wenn man es ihnen denn nicht so schwer machte.

Whist­leblo­wing bei Priva­ti­sie­rung öffent­li­cher Einrich­tungen und PPP

Beispiel Berliner Wasserbetriebe: Bei der Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe dauerte es gute 10 Jahre, bis die BürgerInnen die Verträge zu sehen bekamen. Das Land Berlin hatte die Wasserbetriebe Ende der 90er Jahre zu 49,9 Prozent privatisiert. Die entsprechenden Verträge mit den Firmen Veolia und RWE konnten bis vor Kurzem weder von den BürgerInnen noch von JournalistInnen eingesehen werden. Die Begründung lautete, dass es dabei für die privaten Investoren um die Wahrung von Geschäfts-geheimnissen gehe — eine typische Schutzbehauptung bei (Teil)Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen. Geheim bleiben sollte wohl insbesondere eine Gewinngarantie für die privaten Betreiber, die zu den überhöhten Wassertarifen in Berlin führte. Erst nach mehreren gerichtlichen Auseinandersetzungen und nach der Gründung des „Berliner Wassertisches” zur Vorbereitung eines Volksbegehrens, das die Offenlegung der Verträge forderte, kam eine öffentliche Debatte über die Folgen von Privatisierung für die Daseinsvorsorge der Bevölkerung in Gang. Am 30.10.2010 wurden die Geheimverträge
schließlich in der TAZ veröffentlicht. Die hatte sie von einem Informanten erhalten, der anonym bleiben wollte.

Beispiel Toll Collect: Die Anfrage des MdB Jörg Tauss auf Akteneinsicht in den Mautvertrag von 2002 mit dem Betreiberkonsortium Toll Collect (Daimler, Deutsche Telekom und Cofiroute) wurde vom Bundesverkehrsministerium mit der Begründung abgelehnt, der Vertrag enthalte Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, deren Bekannt-werden „Toll Collect im Wettbewerb schaden und/oder die Sicherheit des Systems gefährden” könne. Das Ministerium sehe sich außer Stande, geheimhaltungsbedürftige Passagen zu erkennen und entsprechend zu schwärzen („mangels Sachverstand“, wie es in der mündliche Verhandlung vor dem BVG hieß) und die übrigen freizugeben. Der Vorgang wurde vom Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit formell beanstandet. Das half auch nicht. Tauss klagte im August 2007 gegen den Verkehrsminister seiner eigenen Partei wegen „Untätiglceit”. Es gehe ihm um forschungspolitische Fragestellungen zur Verkehrsteuerung sowie um die technischen und politischen Möglichkeiten des Maut-Systems zu Kriminalitätsbekämpfung, wie seiner-zeit vom BMI ins Gespräch gebracht. Davon wären potentiell alle Bürgerinnen und Bürger betroffen. Gleichwohl wies das Verwaltungsgericht Berlin im Juni 2008 Tauss‘ Klage ab. Zwischenzeitlich wurden dem Bundestagsabgeordneten von dem 17.000 Seiten umfassenden Vertrag 4 Seiten— teilweise geschwärzt – ausgehändigt.

Nach 7 Jahren, im November 2009, veröffentlichte Wikileaks große Teile der Verträge und Zusatzvereinbarungen, die ihnen von einem Whistleblower zugespielt worden waren, und enthüllte damit u, a. die überhöhte Renditezusage (19 Prozent) der rot-grünen Bundesregierung an das Betreiberkonsortium.

Wenn Whist­leblo­w­er­schutz versagt

Nur durch das Whistleblowing von Rudolf Schmenger, Frank Wehrheim und ihren KollegInnen haben die Medien und eine breitere Öffentlichkeit Einblick in die Missstände der hessischen Finanzverwaltung erhalten. Die Fahnder hatten begründete Einwände gegen eine Verwaltungsanordnung vorgebracht, welche sie ihrer Ansicht nach in ihren Ermittlungen gegen Großanleger in Luxemburg und Liechtenstein behinderte. In der Folge sahen sie sich über Jahre Disziplinierungsmaßnahmen, Mobbing und Schikanen ausgesetzt. Rudolf Schmenger wurde 2006 gegen seinen Willen von seinem Dienstherrn in den endgültigen Ruhestand versetzt. Die Zwangspensionierung erfolgte auf der Grundlage eines psychiatrischen Gutachtens. Schmenger setzte sich zur Wehr. Ein Berufsgericht verurteilte den Gutachter wegen vorsätzlicher, grober Verletzung fachlicher Standards. Auch das hessische Finanzministerium handelte rechtswidrig. Es versäumte die eigenständige Prüfung des Gutachtens. Wie Schmenger waren noch drei Fahnder derselben Abteilung auf der Grundlage falscher Gutachten vom selben Psychiater zwangspensioniert worden. Zehn weitere KollegInnen wurden versetzt oder zu Tätigkeiten abgeordnet, die nicht ihrer Qualifikation als Steuerfahnder entsprachen.

Eine Rehabilitierung der Steuerfahnder hat trotz der Verleihung des Whistleblowerpreises an Rudolf Schmenger und Frank Wehrheim[19], trotz erheblicher medialer Aufmerksamkeit und trotz Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtags noch immer nicht stattgefunden.

Demokratie braucht Transparenz braucht Whistleblower

Whistleblower sind Teil des Systems. Sie sind ihm verbunden. Man überforderte ihre Funktionen und überlastete ihre Person, sähe man sie nicht zuerst im „systemischen” Zusammenhang. Und auch Whistleblower sind allemal „aus krummem Holz geschnitzt”. Man suche nicht nach makellosen „ethischen Dissidenten”, denen einzig das Gemeinwohl am Herzen läge. Whistleblower finden im Internet, aber auch in den traditionellen Medien zunehmend Beachtung. Nicht zuletzt dank Wikileaks. Aber auch andere zivilgesellschaftliche Initiativen bemühen sich seit Jahren, die Bedeutung von Whistleblowern für Demokratie und Öffentlichkeit, für Wissenschaft und Risikokommunikation deutlich zu machen und ihren gesellschaftlichen Schutz einzufordern.[20]

So wenig der Effekt überschätzt werden darf, den nur punktuelle Hinweise in der Regel erzielen können, so wenig darf man die Grenzen unterschätzen, die sie überspringen können: Mit seinem trefflichen „Geheimnisverrat” zerriss Daniel Ellsberg den Lügenschleier, den die Nixon-Administration vor die Geschehnisse in Vietnam gespannt hatte. Der konnte nicht mehr geflickt werden. Oder: Wer glaubt heute noch, dass die CIA verlässlich informiert? Sie wurde als lügendurchwachsene Herrschaftsinstanz de-maskiert. Mitgeholfen haben dabei zahlreiche früherer CIA-Agenten. Sie hielten das Lügengewebe — durchaus als gute Bürger der USA — nicht mehr aus.

Die Beispiele zeigen: Es besteht offensichtlich die Chance, dass aus einer wiederholten Skandalisierung mehr als punktuelle Öffentlichkeit entsteht. Es kann geschehen, dass plötzlich ein kaum noch für existent gehaltenes räsonierendes demokratisches Publikum auf den Plan tritt.

[1] Siehe ver.di-Newsletter Internet Recht Ausgabe Nr. 2/2010, April 2010.
[2] New York Times v. 13.7.2007.
[3] Der in allen Genfer Abkommen gleichlautende Artikel 3 beschreibt den Minimal-Standard, der über den strikten Wortlaut hinaus in sämtlichen bewaffneten Konflikten gilt.
[4] Siehe u. a. http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,687427,00.htm1;
http:/lwww.huffingtonpost.com/2010/04/OS/wikileaks-exposes-video-o n_525569.htm1
[5] Die Nachrichtenagentur Reuters hatte sich unter dem Freedom of Information Act vergeblich um
Einsicht bemüht. httpa/www,reuters.com/article/idUSL05399965; httpa/wikileaks.org/wiki/Colla-
teral_Murder,_5_Apr_2010
[6] Das liegt im Übrigen auf einer Linie mit den neuerdings eingestandenen Entschädigungsverpflichtungen der US-Regierung gegenüber traumatisierten Kriegsveteranen.
[7] Vgl. Dieter Deiseroth, The German Lex Ossietzky, in: Societal Verification, Norderstadt 2008, S. 37-40.
[8] Die Indizien sind nicht bekannt, da die Anklageschrift in Militärverfahren einer weitgehenden Geheimhaltung unterliegt. Die Anklagepunkte wurden veröffentlicht und sind im Internet an verschi e-denen Stellen abrufbar. http://www.bradleymanning.org/3163/charge-sheet-htmll. Die Authentizität bleibt zu prüfen.
[9] See Special Report des Army Counter Intelligence Center unter der Federführung des Department of Defense Intelligence Analysis Program (18.3.2008), httpa/file.wikileaks.org/file/us-intelwikileaks.pdf (DIAP) „(S//NF) Wikileaks.org uses trust as a center of gravity by assuring insiders, leakers, and whistleblowers who pass information to Wikilealcs.org personnel or who post information to the Web site that they will remain anonymous. The identification, exposure, or termination of employment of or legal actions against current or former insiders, leakers, or whistleblowers could damage or destroy this center of gravity and deter others from using Wikileaks.org to make such information public.” Es ist bisher nicht klar, wie die Enttarnung des Bradley Manning erfolgen konnte. Die US-Regierung hat verbreitet, Manning habe sich im Internet beim Chat mit dem Hacker Adrian Lamo „verplaudert”. Einem Bericht der FAZ .NET vom 3.8.2010 zufolge handelt es sich bei Adrian Lamo um einen Sicherheitsspezialisten im Regierungsdienst, der für das geheime „Project Vigilant” arbeitete. Das Projekt soll mit Spenden aus der Wirtschaft gegründet worden sein und den Militärbehörden, dem FBI und der NSA zuarbeiten, indem von 600 Freiwilligen der Netzwerkverkehr systematisch auf verdächtige Inhalte hin analysiert wird. Siehe dazu auch fllea//C:/Users/Annegret/Documents/whistleblower/Wikileaks/Faz_3.7.2010Doc~EB7743084C84B 417480B1 175808764D3 S~ATphEcommon–Scontent.html
[10] Siehe auch http://www.ilmr.de/
[11] Vgl 18.3.2008: httpa/file.wikileaks.org/file/us-intel-wikilealcs.pdf: „(S//NF) Wikileaks.org, a publicly accessible Internet Web site, represents a potential force protection, counterintelligence, operational security (OPSEC), and information security (INFOSEC) threat to the US Army. The intentional or unintentional leaking and posting of US Army sensitive or classified information to Wikileaks.org could result in increased threats to DoD personnel, equipment, facilities, or installations. The leakage of sensitive and classified DoD information also calls attention to the insider threat, when a person or persons motivated by a particular cause or issue wittingly provides information to domestic or foreign personnel or organizations to be published by the news media or on the Internet. Such information could be of value to foreign intelligence and security services (FISS), foreign military forces, foreign insurgents, and foreign terrorist groups for collecting information or for planning attacks against US force, both within the United States and abroad.”
[12] FAZ v. 18.10.2010.
[13] Vgl. Anm. 9.
[14] Soweit man das bisher übersehen kann. Auch ist ein direkter Eigennutz hier schwer vorstellbar. Im Übrigen kann dieses Kriterium nie verifiziert, sondern allenfalls falsifiziert werden.
[15] Das BVerfG hat in einem Beschluss vom 2.7.2001 einen Whistleblower unter den Schutz von Art.2 Abs.1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs.3 GG (Rechtsstaatsprinzip) gestellt. Zu den Besonderheiten dieses Falls s. Dieter Deiseroth, Verfassungsgerichtliche Vorgaben für das Kündigungsschutz-recht, AuR Heft 5/2002.
[16] Es gibt Ausnahmen, z. B. beim Datenschutz, beim Arbeitsschutz, für bestimmte Betriebsbeauftragte, bei Gefahr im Verzug. Auch sind Rechtsprechung und das Fachschrifttum nicht einheitlich. Zu den rechtlichen Aspekten siehe knapp zusammenfassend D. Deiseroth, Whistleblowing in Zeiten von BSE, Berlin 2001, 5.161ff.
[17] Vgl. D. Deiseroth und P. Derleder, Whistleblower und Denunziatiatoren, in: Zeitschrift für Rechtpolitik (ZRP) 2008, S. 248-251.
[18] D.Deiseroth und A. Falter (Hrsg.), Whistleblower in der Steuerfalmdung. Preisverleihung 2009, Berlin, BBV 2010.
[19] Eine Reihe von Tageszeitungen haben inzwischen Ansprechpartner undloder anonyme Internet Adressen für Whistleblower eingerichtet, allen voran open@taz.de. – Die IALANA und die VDW verleihen seit 1999 einen Whistleblowerpreis, der von Deiseroth/Falter in einer Reihe beim BWV dokumentiert wird. Siehe auch A. Falter, 10 Jahre Whistleblower-Preis – Warum die VDW Whistleblower unterstützt, in: Wissenschaft Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW, Berlin, BWV 2009. – Seit 2007 gibt es das Whistleblower Netzwerk e.V. (httpa/www.whistleblowernet.de/), das Informationen entgegennimmt und berät.

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