Publikationen / vorgänge / vorgänge 195: Was ist heute Fortschritt?

Der Zwang zur Entschei­dung

Die fragile Zukunft in der Kontigenzgesellschaft

aus: Vorgänge 195 ( Heft 3/2011), S.4-16

1. Das Unwahr­schein­liche wird denkbar

Als es am 11. März 2011 infolge des Töhoku-Erdbebens und des darauf folgenden Tsunamis im japanischen Kernkraftwerk Fukushima zu einer Unfallserie kam, bei der die Reaktorblöcke 1 bis 4 zerstört und erhebliche Mengen radioaktiven Materials freigesetzt wurden, war man sich sehr schnell der zeitdiagnostischen Bedeutung dieses Stör-falls gewiss. Die Katastrophe in Japan sei ein Einschnitt. Ein neuer Typus von Katastrophe bedrohe die global vernetzte Welt. Jetzt werde das Unwahrscheinliche denkbar. Die Lage nach dem dreimonatigen Moratorium, das die Regierung kurz nach dem Reaktorunfall verhängt hatte, werde „eine andere sein” als vor diesem Moratorium, sagte Kanzlerin Angela Merkel: „Alles gehört auf den Prüfstand.” Bundesumweltminister Norbert Röttgen konstatierte, dass das, was in Fukushima geschehen sei, eine „Zäsur” bedeute, weil das passiert sei, wovon man immer gesagt habe, dass es nicht passieren könne. Bislang wurde nur über die theoretische Möglichkeit von Reaktorunfällen gesprochen. Das, was vorher ein klitzekleines Risiko der Eintrittswahrscheinlichkeit war, ist jetzt erfahrbare Wirklichkeit geworden. „Wir müssen unser Verhältnis zu elementaren Risiken neu bewerten, wir müssen Sicherheit neu verstehen.” (Röttgen 2011: 30)

In Wahrheit ist eine solche Katastrophe, wie sie im März 2011 in Japan stattgefunden hat und als Zäsur markiert wurde, auch vorher denkbar und möglich gewesen. Unter dem noch frischen Eindruck der Fukushima-Katastrophe hatte die Weltgemeinschaft gerade versprochen, 550 Millionen Euro für einen neuen Mantel um den verstrahlten Unglücksreaktor in Tschernobyl zu spenden. Die Katastrophe im Kernkraft Tschernobyl ereignete sich am 26. April 1986 in Block 4 des örtlichen Reaktors. Innerhalb der ersten zehn Tage nach dem Super-GAU wurde eine Aktivität von mehreren Trillionen Becquerel freigesetzt. Ebenso waren auch die Schwachstellen der deutschen Atomkraftwerke seit Jahren bekannt. Lange vor dem schwerwiegenden Atomunfall in Japan wiesen Kritiker zum Beispiel darauf hin, dass es im Ernstfall auch in deutschen Atomkraftwerken Probleme mit den Notkühlsystemen geben könne. Diejenigen, die sich nun auf das Undenkbare berufen, waren häufig auch diejenigen, die vorher beteuerten, die deutschen Nuklearmeiler seien besonders sicher. Sie müssen sich jetzt die Frage gefallen lassen, ob sie die Gefahr damals fahrlässig unterschätzt haben. Dass eine solche Katastrophe denkbar ist, darauf hatten verschiedene Wissenschaftler immer wieder hinge-wiesen. Robert Jungk (1977: IX) hatte bereits 1977 über die Risiken der Kernkraft geurteilt, „daß es niemals gelingen wird, sie ganz auszuschließen”. Dass wir in einer Gesellschaft leben, die es mit schwer fassbaren Gefahren und Ungewissheiten zu tun hat, die alle betreffen und niemand mehr adäquat versichern kann, hatte Ulrich Beck (1986) zum Begriff der Risikogesellschaft inspiriert.

Und schließlich hatte eben erst die Finanzkrise am Ende des Jahres 2008 und die damit zusammenhängenden spektakulären Bankenzusammenbrüche demonstriert, wie weit systemische Kettenreaktionen in der global vernetzten Welt reichen. Das US-Investmenthaus Lehman Brothers war der Anlass gewesen, der die globale Finanzwirtschaft in einen Sog der Zerstörung hineingezogen hat, der in konzentrischen Kreisen immer weitere Bereiche der sozialen Landschaft erfasste und bis heute die Finanzwelt in Atem hält. Die Finanzkrise musste für alle diejenigen, die im Spiel um Immobilienkredite beteiligt waren, die Einsicht provozieren, „dass stets andere Zukünfte als die er-warteten in die Gegenwart zurückkehren” (Vogl 2010: 170).

Was in den Wirtschaftswissenschaften noch viel zu wenig reflektiert wird, ist die Tatsache, dass die globale Kernschmelze an den Finanzmärkten im Grunde genommen ein zentrales Paradigma der Wirtschaftstheorie destruierte: nämlich die Theorie rationaler Akteure unter dem Signum des homo oeconomicus. Die soziale Physik der Oikodizee der modernen Gesellschaft orientierte sich an einer elementaren Gründungsfigur: Diese schrieb vor, dass sich im Aufeinandertreffen der egoistischen Einzelinteressen durch die „unsichtbare Hand” des Marktes soziale Ordnung einstelle. Der Zusammenbruch der Immobilienblase und des Hypothekenmarktes im Herbst 2008 stellte gleichsam den Kontrapunkt der Profit- und Gewinnmaximierungshypothese der neoklassischen Ökonomie dar. Dieses Ereignis demonstrierte nämlich, dass die Banken ihre eigenen Risiken nicht richtig kalkulieren und dass sie mit (vermeintlich) rationalen Entscheidungsprozessen systematisch Irrationalität produzieren (vgl. Stiglitz 2010: 201 f; Vogl 2010: 174).

Nun zeigte sich, dass der Deriatenhandel weniger auf einer rationalen Ökonomie der Kalkulation, als auf den Regeln des verbotenen Glücksspiels basierte. „Mit Derivaten handeln ist wie auf Pferde wetten”, gibt ein Hedgefonds Manager zu bedenken (Arnoldi 2009: 71). Insofern spiegelt George Soros‘ Diktum, dass die Finanzmärkte des Hochfrequenzhandels einen sehr sicheren Weg besäßen, die Zukunft vorherzusagen: „Sie schaffen sie selbst.” (Der Spiegel, 33/2011: 71), noch den Geist von Machbarkeit und Kontrolle wider, von dem die Wirtschaftswissenschaften und Managementlehren häufig beseelt sind. Zwar ist Soros‘ These darin zuzustimmen, dass die neuen Derivatenmärkte Modelle der Preisbestimmung „performativ” herstellen (MacKenzie 2006). Aber die Krise auf demUS-Immobilienmarkt manifestiert, dass die Marktteilnehmer die turbulenten Binnenlogiken der Kapitalmärkte nicht kontrollieren können. Kurzum: Die Restrisiken, die man immer als unwahrscheinliche, zu vernachlässigende Restgröße interpretierte, waren längst Realität geworden. Niklas Luhmann konstatiert in seiner Soziologie des Risikos: „Die Tür zum Paradies bleibt versiegelt. Durch das Wort Risiko.” (Luhmann 2003: 26)

Und dennoch: obgleich viele Experten bereits vielfach auf die Gefahren hypothetischer Risiken hinwiesen, versinnbildlicht die Katastrophe in Fukushima (wieder einmal) die Paradoxie der Moderne paradigmatisch: Von Fukushima aus ist das Folgende erneut evident geworden: Die Moderne bezeichnet nicht nur dasjenige Zeitalter, das eine Kultur überschäumender Technologie und Innovation zu Stande gebracht hat, sondern das sich auf dem Höhepunkt ihrer Produktivitätssteigerung auch bewusst wird, dass vieles nicht mehr steigerbar ist. Im Glanz ihres ungeheuren Möglichkeitsraums reflektiert die moderne Gesellschaft vor dem Hintergrund globaler Gefährdungen, dass die Ressourcen für Innovationen in bestimmten Bereichen erschöpft sind. Das kontinuierliche „Steigerungsspiel” (Schulze 2003) als Leitziel neuzeitlicher Rationalisierung, offenbart einen paradoxen, ja zutiefst absurden Kern.

Es ist nun mein Eindruck, dass der Begriff der Kontingenz wie in einem Brennglas die eben skizzierte Paradoxie der Moderne auf den Begriff bringt. Kontingenz beschreibt nämlich ein Spannungsverhältnis zwischen unabwendbaren Schädigungen, die aus komplexen Ursache-Wirkungs-Beziehungen herrühren einerseits und Eigenverantwortung durch die menschlichen Akteure, die über ihre Zukunft stets auch entscheiden können, andererseits. Das Überraschende ist, dass Kontingenz in beiden Fällen – so-wohl im Falle von Schicksals- als auch im Rahmen von Beliebigkeitszufälligkeit (wie Odo Marquard (1986: 128) die beiden Sachverhalte nennt) – auf seine ursprüngliche Quelle rückverweist: nämlich auf den Zufall. Soziale Systeme sind stets eingebettet in ein „Meer des Zufallsrauschens” (Mainzer 2007: 225). Der Zufall weist darauf hin, dass dem Menschen keine notwendige Geschichte und Bestimmung eigen ist. Wo alles not-wendig ist, gibt es keine Unsicherheit, aber auch keine Handlungen. Man könnte sogar sagen, dass im Zufall als Variable, der die Konsistenz des Vorgegebenen durchbricht, das spezifisch Historische enthalten ist. Reinhart Koselleck (1995: 159) hat daher gesagt, dass Zufall gerade für die Geschichte „das Bestürzende, das Neue, das Unvorhergesehene” sei.

Um die oben angedeuteten typisierenden Rahmungen zu entfalten wird im Folgen-den zunächst kurz auf die handlungstheoretischen Implikationen des Kontingenzdiskurses eingegangen (II). In einem nächsten Schritt sollen die Faktoren und die soziostrukturellen Voraussetzungen im Zentrum stehen, die das Bewusstsein von Kontingenz im Prozess der europäischen Modernisierung befördert haben (III). Der thematische Horizont des vierten Punktes kreist um den paradoxen Kern von Kontingenz, indem auf aktuelle Problembereiche und Phänomene der „Weltrisikogesellschaft” (Beck 2009) hin-gewiesen wird (IV). Mit dieser Szenerie vor Augen werde ich die Frage stellen, wie die Last der Kontingenz von der Politik verarbeitet wird (V). Im letzten Abschnitt werden anschließend einige Schlussfolgerungen gezogen (VI).

 II. Der Begriff Kontingenz

Wie ist der Begriff Kontingenz zu definieren? Als kontingent bezeichnet man etwas, das zufällig so ist, wie es uns erscheint, das aber auch anders sein kann. Aristoteles (2001: I.13, 32a 18-20) definierte das Kontingente als dasjenige, was weder unmöglich noch notwendig ist und aus diesem Grund auch nicht oder auch anders sein kann.

Das ist zunächst die analytische Definition des Begriffs Kontingenz. Nun wird man nicht übersehen können, dass sich der Begriff Kontingenz gegenwärtig einer bündigen und verallgemeinerbaren Bedeutung entzieht. So bezieht sich der Begriff heute auf die kulturelle Ideengeschichte, auf handlungstheoretische Aspekte, auf epistemologische Probleme, auf anthropologische, organisationssoziologische sowie politiktheoretische Sachverhalte (vgl. Holzinger 2006; 2007). Herausheben möchte ich in dieser kurzen Betrachtung der Bedeutungsschichten von Kontingenz die handlungstheoretische Perspektive des Begriffs. Für unseren Zusammenhang – also mit dem oben skizzierten Fokus auf die Risikothematik – kann ein oberflächlicher Blick auf die Kontingenzthematik vor allem zwei Bedeutungen haben, die sich analytisch trennen lassen in die beiden Bereiche Kontingenz als Widerfahrnis, bei der sich Kontingenz auf einen systemischen Weltzusammenhang bzw. strukturelle Bedingungen bezieht und Handlungskontingenz, bei der menschliche Handlungen bzw. individuelle Handlungszusammenhänge im Zentrum stehen (Makropoulos 1997: 14f.).

II.1. Kontingenz als Wider­fahrnis

Eine nahe liegende Begründung für eine eigenständige Sphäre im Rahmen menschlichen Verhaltens, die wir gewohnt sind Handlung zu nennen, ist das Postulat der Intention. Menschen handeln gemäß bewusster Intentionen. Absichten sind mentale Zustände, die Handlungen in der Regel verursachen, in dem der Handelnde seine besonderen Entwürfe und Pläne unter Selektion geeigneter Zwecke im Handlungsvollzug realisiert (z.B. Davidson 1990: 77ff.). Der Zufall ist nun etwas, das den menschlichen Willensakten zuwiderläuft. Anstelle einer Handlung tritt hier nämlich ein Ereignis ein, welches sich dem Akteur als „Widerfahrnis” (Kamlah 1972: 34ff.) entgegenstellt. In der Regel handelt es sich bei dem Widerfahrnis um ein Zusammentreffen zweier an sich nicht zu-fälliger Variablen. Neue kontingente Kontexte werden vor allem deswegen geschaffen, weil Teile eines Handlungssystems in unvorhergesehener Weise mit Elementen oder Segmenten eines anderen Systems in Interaktion getreten sind. Der Mensch handelt in-tendiert, in die Handlungen intervenieren jedoch Variablen, die er nicht gewollt hat. Zufall liegt also, gemäß Rüdiger Bubner (1998: 11), dann vor, „wenn auf einer bestimmten Handlung, die ein Ziel verfolgt, ein Vorgang parasitär aufsitzt”. Der amerikanische Organisationssoziologe Charles Perrow (1992) hat in seinem Buch „Normale Katastrophen” solche chaotisch, dynamischen Prozesse gerade in der Hochtechnologie nachgewiesen. Seine These lautet: großtechnische Systeme haben immanente Eigenschaften, die früher oder später zu Störungen und Unfällen führen müssen. Trotz effizienter Sicherheitsvorkehrungen wird es irgendwann zu „unvermeidlichen Unfällen” kommen. Dies liegt nach Perrow (1992: 107ff.) daran, dass derartige Systeme eine ungeheure Komplexität erreicht haben. Ihr Kennzeichen ist es, eine Vielfalt von Komponenten in sich zu vereinigen, die eng gekoppelt und mit zahlreichen Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet und mit zahlreichen Handlungssystemen rückgekoppelt sind.

Spätestens an dieser Stelle wird klar, warum der Kontingentbegriff unmittelbar mit dem Thema Ungewissheit verknüpft ist oder anders gesagt: wer über Kontingenz reflektiert für den ist evident, dass es absolute Sicherheit nicht geben kann. Denn ein großer Teil unserer spezifischen Entscheidungskontexte setzt sich aus jenen „Handlungs-Widerfahrnis-Gemischen”, zusammen, aus denen, wie Marquard (1986: 129) meint, die menschliche Geschichte besteht. Pointiert könnte man sagen: in einer kontingenten Welt erscheint die Zukunft schlechthin als Risiko.

II. 2. Kontingenz als Handlungs­kon­tin­genz

Eine erste wichtige Dimension des Begriffs Kontingenz scheint somit, dass „unvorhergesehene Kontingenz” unsere Zugriffsmöglichkeiten auf die Welt reduziert. Nicht selten wurde dieser Aspekt von Kontingenz in Verbindung gebracht mit der schicksalhaf ten Vergänglichkeit des Handelns. Marquard nennt diese Art von Kontingenz das Schicksalszufällige“ (Marquard 1986: 128).

Allerdings: Die im Alltagsbewusstsein fast natürliche Assoziation von Kontingenz mit Schicksal ist eine irrtümliche Vorstellung. Unmöglichkeit und Notwendigkeit bezeichnen in Wirklichkeit die Gegenbegriffe zum Terminus Kontingenz. Nur wer Kontingenz radikal verneint, endet bei totaler Faktizität. Wenn nämlich auf der einen Seite der Zufall für einen bestimmten Akteur als „Widerfahrnis” beschrieben werden soll, ist auf der anderen Seite davon auszugehen, dass eben jener Zufall, der uns zur Gefahr wird, in der Regel zur gleichen Zeit in ein strukturiertes System – gerade auch im Sinne des Dazwischenkommens — Innovationen und produktive Störungen einspeist. „Der Zufall ist eine Bedingung der Möglichkeit von Kontrafaktizität.” (Hoffmann 2005: 158) Er ist eine konstruktive Variable bei der Entwicklung von Geschichte. Ohne Zufall und Störungen gibt es in einem System keinen Wandel und keine Innovation. Mit anderen Worten: Selbst wenn der Zufall auch nicht unbedingt kommt, wenn die humanen Akteure ihn herbeiwünschen, bedeutet es gerade dennoch, dass etwas von strukturierten und fest etablierten Pfaden abweicht und eben damit ein bestimmtes Muster durchbricht.

Es ist dann auch nicht sehr erstaunlich, dass es gerade der Zufall ist, der menschliches Handeln überhaupt erst möglich macht. Kontingenz und Handeln sind in Wirklichkeit untrennbar miteinander verknüpft. Denn die Entscheidung für eine bestimmte Möglichkeit des Handelns setzt voraus, „daß es überhaupt einen Spielraum offener Möglichkeiten gibt” (Bubner 1984: 35). Die Möglichkeit, dass Akteure in Ereignissen Handlungsmuster durchbrechen können, verweist eben genau darauf, dass sie in ihrem Handeln nicht stets und routinehaft statische Regeln des gesellschaftlichen oder biologischen Zusammenhangs aktualisieren.

III. Options­stei­ge­rung und Kontingenz in der modernen Gesell­schaft

Der letzte Abschnitt macht eines besonders deutlich: Gerade das Unbekanntsein der Zukunft erweist sich als unentbehrliche Variable des Entscheidens und ist für den Entscheider die Ursache seines Optionenspielraums. Nun scheint aus historischer und sozi-
alwissenschaftlicher Sicht Eines relativ sicher zu sein: Der Begriff Kontingenz ist in diesem letztgenannten Sinne der Handlungskontingenz – fasst man seine zeitliche Verortung ins Auge – ein zentraler Begriff des Zeitalters der Moderne. Kontingenz wurde zwar auf der einen Seite bereits in der antiken Philosophie reflektiert. Schon zu dieser Zeit war man sich der Größe des Risikos bewusst, welches „die in die Zukunft nur tappenden Menschen eingehen” (Theunissen 2008: 131). Man entlarvte das vermeintliche Wissen als ein prinzipielles Nichtwissen und beklagte die „Blindheit unserer Sinne feit das Kommende” (ebd.: 125). Im Übrigen impliziert, wie gesagt, der Begriff „Kontingenz” analytisch gesehen keine historische Zuordnung.

Auf der anderen Seite haben das Bild des virtuosen Spiels mit Chancen und die Erweiterung des eigenen Spielraums zugegebenermaßen erst in der Moderne Konjunktur. Und am Ende ist wahrscheinlich ein ausgesprochenes Kontingentbewusstsein „als Grundbestand eines gesellschaftlichen Selbstverständnisses”, so Michael Makropoulos (1997: 156), „wohl doch spezifisch modern und ,Kontingent` deshalb eine spezifisch moderne und gerade nicht eine spezifisch nachmoderne Kategorie”. Die traditionale Gesellschaft ist, vergleicht man sie mit der neuzeitlich-kapitalistischen, eine in sich ruhende Gesellschaft. Die elementare gesellschaftliche Gruppe und zugleich wichtigster Arbeitsverband innerhalb der traditionalen Gesellschaft ist die Familie. Ursprünglich ist somit die Bindung an gemeinsame Normen auf die kleinsten Vergemeinschaftungsformen des Menschen beschränkt gewesen, auf die Gemeinschaft der Familie oder auf die Nachbarschaftsgemeinschaft. Die Menschen starben an den Stätten, wo sie auch gelebt hatten. „So waren Leben und Tod eine ,platzierte` Einheit sozialer Befindlichkeit.” (Lohmann 2000: 88) Kontingenz blieb in der Vormoderne ein Spielraum im Rahmen einer festen Ordnung. Zwar ist der Begriff der Kontingenz dem christlichen Mittelalter durchaus bekannt. Aber in dieser Episode menschlicher Geschichte ist das menschliche Handeln nur deswegen von Kontingenz umrandet, weil Gott die Welt „nicht erschaffen mußte, sondern sie in freier Entscheidung aus dem Nichts heraufbefahl” (Wetz 1998: 84).

Nach allgemeiner Auffassung konstituiert sich die Moderne durch einen Bruch mit der Tradition. Moderne Gesellschaften vollziehen einen radikalen Wandel im Kontingentbewusstsein. Die historischen Voraussetzungen für dieses massive Aufkeimen des Möglichkeitsbewusstseins sind vielfach beschrieben worden. Von zentraler Bedeutung war die Freisetzung des Menschen aus den engen Bindungen seiner bisherigen Erfahrungsräume, wie etwa der verwandtschaftlichen Vergemeinschaftung. Die, wie Georg Simmel (1993: 212) es benannt hat, „Sprengung” der überkommenen, gültigen Lebens-formen, die den vormodernen Menschen gebunden haben, war somit zugleich die Voraussetzung, überhaupt Möglichkeiten zu erfahren und wahrzunehmen.

Mit Sicherheit stellen die Industrialisierung und die mit ihr verbundene Marktvergesellschaftung einen Angelpunkt der Moderne dar. Es kristallisiert sich zunehmend das Modell einer marktvermittelten Existenz heraus, was gleichbedeutend ist mit dem Wechsel von einer Haushaltsökonomie zu einer Ökonomie der Erwerbsarbeit. Die Herauskristallisierung des „Markt-Individuums” geht somit mit der Herauslösung der Individuen aus den ökonomischen, personalen und ständischen Bindungen der vorindustriellen Gesellschaft einher. Für moderne Gesellschaften, die ja nicht mehr von kulturellen Einheitsvorstellungen geleitet werden, ist somit zu erwarten, dass ein erhöhtes Bewusstsein von Kontingenz im Sinne von Chancen- und Risikoexpansion zu erwarten ist.

Fast alle Wissenschaftler, die sich mit Modernisierung befassen, sind sich einig, dass eine konstitutive Erfahrung für die Moderne ein neues Zeitbewusstsein ist. Im 18. Jahr-hundert hat, so Koselleck (1995), ein Prozess der Verzeitlichung von Natur- und Humangeschichte begonnen. Es ist bekannt, dass sich im 16. und 17. Jahrhundert eine Beschleunigung von Handel und Transport realisiert und später dann auch eine Beschleunigung der Produktion in Gang setzt, die dann in der industriellen Revolution zu einem ersten Höhepunkt gelangt (vgl. Rosa 2005: 261ff.). Aber generell geht es in der Moderne um die Beschleunigung des Zeitbewusstseins. Bald schon wird sich aus dem permanenten Drang zu Beschleunigung das Krankheitsbild der Nervosität herausschälen.

Von maßgeblicher Bedeutung für die Ausbildung eines Kontingenzbewusstseins war ebenso die moderne Wissenschaft. Erst in der technologischen Zivilisation kann die Menschengattung, einst noch in der Position des physisch Schwächeren, das Verhältnis umkehren und ohne Schranken über die entzauberte Natur gebieten. Die moderne Technik als höchste Manifestation neuzeitlicher Vernunft, liefert dabei den notwendigen innovativen Hebel dieses Ziel zu erreichen. „Die neuzeitliche physikalische Theorie der Natur”, so Martin Heidegger (1990: 25), „ist die Wegbereiterin nicht erst der Technik, sondern des Wesens der modernen Technik”. Erst in der Neuzeit wird die Überzeugung realisiert, dass man, wie Max Weber sagt, „alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne” (Weber 1991: 250).

IV. Ende des Steige­rungs­spiels?

Erstaunlich unverhohlen lässt sich allerdings bei Weber bereits ein zweites Motiv in der Bewertung der neuzeitlichen Rationalitätsgrundlagen für Innovationsprozesse identifizieren. Der Prozess der Rationalisierung ist in Webers Augen ein höchst dialektischer Vorgang. In seinem Gegenwartsbild weist er auf tief greifende gesellschaftliche Anomien und Sozialpathologien hin, die er für unvermeidliche Folgen des fortschreitenden Aufklärungsprozesses hält. Am Ende überwuchert eine kognitiv-instrumentelle Rationalität, die sich in Wirtschaft und Staatsbürokratie eine unanfechtbare Basis geschaffen hat, alle anderen Lebensbereiche und ist nicht mehr in der Lage, Sinnbezüge herzustellen.

Bei Weber wird bereits eines deutlich: Die Innovationsspirale rast in ungeheurem Tempo voran, aber gewiss nicht ewig (Schulze 2003). Denn die Vernichtungsfähigkeit des Menschen in der „Weltrisikogesellschaft” (Beck 2007), die er durch fortwährende technologische Vernutzung der ökologischen Sphäre unter Beweis stellt, wird, wenn man Weber zu Ende denken wollte, nicht eher Einhalt gebieten, bis „der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht” (Weber 1988: 203) ist. Dabei machen, wie wir heute wissen, nicht primär die ökologischen Ereignisse, sondern die damit verbundenen sozialen Folgen erst die soziale Katastrophe aus. Demnach stünden nicht nur Massenemig-rationen aus Ländern bevor, bei denen die Überlebensressourcen geschwunden sind. Auch Flüchtlingsprobleme, Konflikte um Wasser- und Abbaurechte seien die unmittelbare Konsequenz, wie Harald Welzer (2008) skizziert.

Zu den rapiden Umweltveränderungen, die bereits heute soziale Konflikte schüren. gesellen sich andere Probleme, die die soziale Kohäsion und das Ordnungsgefüge der Gegenwartsgesellschaft desavouieren. Wahr ist wohl, dass sich durch den „Fahrstuhleffekt” (Beck 1986) in den letzten dreißig Jahren das Sozialprodukt der Bundesrepublik etwa verdoppelt hat. Doch die Neuordnung des Kapitalismus ging Hand in Hand mit einer wachsenden Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse.

Die Nettorealeinkommen det abhängig Beschäftigten stagnieren heute oder rutschen zum Teil wieder nach unten. In manchen westlichen Staaten wird die Demarkationslinie zwischen Arbeits- und Armenbevölkerung immer deutlicher gezogen. Dazwischen wächst eine „Zone der Prekarität”. die eine Schar heterogener Beschäftigungsverhältnisse darstellt. Dazu zählen Zeit- und Leiharbeit, abhängige Selbstständigkeit, befristete Beschäftigung etc.

Die Expansion prekärer Beschäftigung führt zu einer „Rückkehr der Unsicherheit”. Und jetzt wird auch erfahrbar, dass die modernen Freisetzungsprozesse für die Lebens-entwürfe der Menschen nicht nur stimulierend, sondern ebenso überfordernd wirken können. Zwar ist nach wie vor die Unterstützungsleistung der Kernfamilie hoch, neben sie treten aber andere Formen wie beispielsweise Einelternfamilien. Lebenslange Partnerschaften verlieren als verbindliches Schema an Bedeutung und machen nicht ehelichen Lebensgemeinschaften Platz. Seit April 1996 hat sich deren Zahl in Deutschland um rund ein Drittel (35 Prozent) auf 2,5 Mio. Lebensgemeinschaften im Jahr 2005 er-höht (Statistisches Bundesamt 2006: 7). Scheidungen und Wiederverheiratungen wer-den immer alltäglicher. Angesichts der Tatsache, dass die Institutionen Familie und Ehe für die Lebensgestaltung tendenziell an Bedeutung verlieren und eine Orientierung an der Semantik der Individualität Platz macht, gerät die Normalfamilie als „Stabilitätsrest” (Schelsky 1980) der modernen Gesellschaft unter Druck. Die Folge ist: Die Betroffenen müssen nun „mit sich selbst austragen (…), wofür armutserfahrene, klassengeprägte Lebenszusammenhänge entlastende Gegendeutungen, Abwehr- und Unterstützungsformen bereithielten und tradierten” (Beck 1986: 144). Die Lebensrisiken der aus dem sozialen Netz Exkludierten finden infolgedessen keine kollektive Beachtung, zumal die Exkludierten sich selbst nicht zu organisierten Kollektiven und politischen Kampfverbänden zusammenschließen.

Dabei ist noch gar nicht über die materiellen Ungleichheiten im weltweiten Maßstab gesprochen worden. Angesichts seiner Erfahrungen mit der Weltarmut, die er nach einem Besuch brasilianischer Favelas persönlich vor Ort registrieren konnte, musste auch Luhmann (1997: 632) – der Prognostiker funktionaler Differenzierung der Weltgesellschaft – konstatieren, dass entgegen seiner Diagnose einer Weltgesellschaft, die aui globalisierten, auf Inklusion aufsetzenden Funktionssystemen gründet, sich wohl eher die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion im Sinne einer Primärdifferenzierung der modernen Gesellschaft, vor die funktionale Differenzierung schiebe.

V. Die Anfor­de­rungen an die Politik

Die Regulierung von globalen Risiken bedeutet, heute insbesondere für politische Entscheidungsträger deren Risikoübernahme. Auch für die Finanzkrise wurde konstatiert, dass die Gesellschaft möglicherweise akzeptieren müsse, „dass der Staat in systemischen Bankenkrisen der Aktionär der letzten Instanz bleibt” (Der Spiegel, 48/2009: 74). Michael Greven (1999) hat in seiner Studie „Die politische Gesellschaft” diesen Gedanken weitergesponnen. Er charakterisiert die moderne Gesellschaft als eine solche, in der alles von Entscheidungen abhängig geworden sei und die zunehmend erkenne, dass sie auf keine anderen Geltungsgründe als die sich aus ihren eigenen Verfahren selbst ergebenden rekurrieren könne. Die „politische Gesellschaft”, das ist nach Greven eine Gesellschaft, die vollständig auf Dezision und Kontingenz gebaut ist und deren Säulen auf kontingentem Grund errichtet sind: „Alles ist prinzipiell entscheidbar geworden, alles Entscheidbare stellt sich als Interessenkonflikt dar, für alles kann die Politik ihre Zuständigkeit erklären und jedes erwachsene Gesellschaftsmitglied gilt als politisches Subjekt.” (Ebd.: 55) Aber wie werden Weltrisiken vor diesem Hintergrund von der Politik wahrgenommen? Und was bedeuten diese für das politische Alltagsgeschäft?

Anders als der (immer noch?) der Steuerungstheorie verpflichtete „Governance“-Begriff erwarten lässt, wird politisches Entscheiden, wenn die Zeichen nicht trügen, zweifelsohne noch kontingenter. Die Entscheidungsunsicherheit von Politik nimmt zu. Es ist eine Dynamik zu erwarten, in der mit einer ständigen Steigerung der Entscheidungspotentiale zu rechnen ist und in der sich die Betroffenen für ihre „tragic choices” verantworten müssen. Das Risiko des Entscheiders besteht immer mehr darin, sich angesichts der unabänderlichen Ungewissheit in der Prognose der Risiken und gegebener Alternativen falsch zu entscheiden.

Die globale Finanzkrise, welche die politischen Institutionen immer noch massiv unter Druck setzt, liefert dabei eine aufschlussreiche Illustration. Das Risiko des politischen Entscheiders liegt im Kontingenzdruck, der auf ihm lastet. Ging es in den ersten Monaten noch um ein kleines Konjunkturpaket, mit dem man den Banken einen Schirm aufspannen wollte, wurde im Frühjahr 2009 in Deutschland bereits über 100 Milliarden Euro an Bürgschaft debattiert. Der Rettungsschirm, der unter dem Druck anhaltender Spekulationswellen gegen den Euro am 09.05.2010 von den europäischen Regierungschefs entschieden wurde, belief sich ein Jahr später dann auf 750 Milliarden Euro. In den folgenden Monaten setzte sich die Euro-Krise fort; neben Griechenland waren in-zwischen auch Irland und Portugal vor drohenden Staatsinsolvenzen betroffen. Daher wurden Forderungen laut, auch nach dem Auslaufen des provisorischen Rettungsschirms 2013 einen Mechanismus für Krisenfälle zu etablieren. Der Vorschlag lautet, die Finanzmärkte über zusätzliche Leistungen wie Euro-Bonds zu stabilisieren (d. h. Staatsanleihen, die Mitgliedsländer in der Europäischen Währungsunion zur Finanzierung ihres staatlichen Haushalts einsetzen). Die Garantie und Haftung für diese Bonds übernimmt die Gesamtheit der Euro-Länder. Aber hat man damit die richtige Entscheidung gewählt?

Das Problem für die Politik besteht darin, dass auch sie die Zukunft nicht kennt (sonst wären Entscheidungen für sie keine Risiken). Auch sie agiert vor dem Hinter-grund prognostizierter, rein fiktiver, wahrscheinlicher Realitäten (Esposito 2007). Auch Politik kann Risiken nur wieder mit Risiken versichern (Vogl 2010: 168). Denn die Risiken der Rückzahlung der Staatsschulden werden – wie im Falle der Euro-Bonds – stabilitätsorientierten Ländern aufgebürdet. Wie soll man aber über weit reichende Schäden in der Zukunft jetzt entscheiden, wenn eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit des zukünftigen Schadenausmaßes nicht möglich ist und wenn selbst die Experten uneinig sind, ob die eingesetzten Maßnahmen und Interventionen überhaupt greifen? Ein weitreichendes Problem besteht außerdem darin, dass heute zunehmend Risiken in den Mittelpunkt rücken, deren Entstehungsgründe und Bedrohungen nicht mehr alleine einzelne Nationalstaaten betreffen, sondern vielmehr als transnationale bzw. globale Risiken wahrgenommen werden. Durch mediale Aufbereitung und einer damit oftmals ein-hergehenden Verstärkung der Katastrophenerwartung werden Risikogemeinschaften geschaffen, die quer zu der nationalen „Imprägnierung” bisheriger politischer und rechtlicher Kategorien liegen. Dennoch werden aber alle politische Entscheidungen weiter-hin durch Modelle gerahmt, die auf nationaler Ebene anzusiedeln sind, obgleich sie nur in einem global koordinierten regulatorischen Ordnungsrahmen effizient angegangen werden könnten.

Die Folge ist: Die Adäquatheitsbedingungen für die rationale Rechtfertigung von Regeln und ihre Gründe, die eine Entscheidung intersubjektiv legitimieren können, erodieren. Für die Politik wird im Rahmen politikwissenschaftlicher Erörterungen häufig geltend gemacht, dass politische Handlungen und Entscheidungen stets in einem Raum der Gründe mit Hilfe formaler Regeln stattfänden. Im oben skizzierten Fall gilt das Gegenteil: Entscheidungen können immer seltener aus einem übergeordneten heuristischen Rahmen abgeleitet werden, weil ihnen kein Entscheidungskriterium vorausgeht. Für den politischen Entscheider gibt es weder ein adäquates epistemisches Gerüst, noch ein relevantes normatives Fundament für eine Entscheidung. Denn welche Normen und Regeln sind in der Risikosituation moralisch gerechtfertigt? Und dennoch – und darin liegt das Dilemma – besteht die Dringlichkeit und die Erwartung an das politische System, angesichts alternativer Handlungspfade den Graben der Kontingenz durch eine nicht weiter begründbare Entscheidung zu überspringen und zu entscheiden. „Je größer die Gefahr, desto größer das Nichtwissen, desto notwendiger und unmöglicher die Entscheidung.” (Beck 2007: 215). Wolfgang Kersting (2002: 257) nennt Entscheidungen in dieser eben skizzierten Konstellation „dezisionistische Entscheidungen”. Bei diesen gibt es, nach Kersting (2002: 257) „keine entscheidenden Gründe, die uns die Entscheidung abnehmen. Bei dezisionistischen Entscheidungen müssen wir selbst entscheiden, weil der Vernunft die Gründe ausgegangen sind, ihre normalen prudentiellen und moralischen Entscheidungsverfahren versagen”.

Eine solche Sichtweise von Politik wird ohne Zweifel umso adäquater, je situativer sich Politik gestaltet und je kurzfristiger sich das politische Handeln an neue Lagen an-passen muss. Eine unter Zeitdruck operierende Politik operiert zunehmend unter Zwang und situationsfixiert. Sie schreitet pragmatisch voran. Das „Muddling Through” wird zum Leitprinzip – was nicht weiter verwundert. Schließlich schwinden die Zeiträume für Entscheidungen. Die Anzahl unerlässlicher Entscheidungen nimmt zu, die Zeitressourcen pro Entscheidung werden beschränkter. Was sind die Konsequenzen für das politische System? Die Politik verlagert Entscheidungen an andere, schnellere Entscheidungsinstanzen, damit „zeitnäher” und vielleicht auch effizienter entschieden werden kann (vgl. Rosa 2005: 415 ff.). Es wird outgesourct, dereguliert und privatisiert. Politische Akteure nutzen Ad-Hoc-Entscheidungen und neue informelle Kooperationsformen, um globalen Risiken zu steuern.

Doch diese Veränderungen bewirken nicht einfach nur einen politischen Machtverlust. Es kommt vielmehr zu einer schleichenden internen Transformation des Politischen (vgl. Holzinger u.a. 2010). Die Experten und die Exekutive gewinnen an Macht über die Legislative. Zentrale Beschlüsse wandern häufig von demokratisch gewählten Parlamenten in demokratisch nicht legitimierte supranationale Organisationen (wie z. B. die WTO, den IWF, ICSID-Panels oder die internationale Gerichtsbarkeit). Selbst die nationalen Parlamente erleben diesen Zustand – wie etwa bei der Ratifizierung des Gesetzes über den Rettungsschirm von 750 Milliarden Euro, der am 21.05.2010 per Gesetz durch den deutschen Bundestag ging – nur noch als Exekution der Sachzwänge. Das Parlament wird zum Akklamationsorgan. Ob die EU zu einer Fiskalunion wird oder ob die Schuldensünder, wie z. B. Griechenland, die Geldunion verlassen müssen, wird letztendlich in täglichen Telefonkonferenzen zwischen Berlin und Paris entschieden: Entscheidungen – und sei es nur über einzelne Formulierungen – unterlaufen oftmals heute die formalen Vorab-Bindungen der staatlichen Gewalt, wie etwa die Gewaltenteilung oder demokratische Legitimation des Staates.

VI. Fazit

Hier angekommen können wir das Verhältnis moderner Gesellschaften zum Phänomen der Kontingenz neu präzisieren. Die „Kontingenzgesellschaft” (Greven 2000: 273) bezeichnet einerseits eine Form von Gesellschaft, in der eingelebte Formen der Institutionalisierung und Kollektivität zunehmend durch Entscheidungen bestimmt sind. Auf der anderen Seite wird die Orientierungssicherheit und die Entscheidungsoption zunehmend problematisch, weil viele Wirklichkeitsbereiche in der Gegenwartsgesellschaft auch deswegen anders als bisher sein könnten, weil sie den Akteuren als nichtintendierte Nebenfolgen widerfahren. In der Regel beginnt zwar mit jeder Entscheidung eine neue Geschichte – allerdings: eine Geschichte, die ihrerseits „neue Geschichten erzeugen wird” (Luhmann 2000: 166). Das hängt mit der Tatsache zusammen, dass moderne Gesellschaften es immer häufiger mit Komplexitäten zu tun haben, die einzelne Akteure kaum noch übersehen können. „Es werden möglicherweise Schäden, ja vielleicht sogar Katastrophen eintreten, ohne daß man feststellen könnte, wessen Entscheidung sie aus-gelöst hat. In den schon eingeleiteten Klimaveränderungen hat man dafür ein anschauliches Beispiel.” (Luhmann 1990, 167) Häufig geht es heute in sachlicher und sozialer Hinsicht zunächst gar nicht mehr um vorangegangene Entscheidungen, sondern vielmehr um „deren Folgen, die sich in der Regel verselbständigen und die Gestalt von eigenen Risikosystemen annehmen” (Bonß 1995: 31). Wenn heute diagnostiziert wird, dass die Logik der Unbestimmtheit als die eigentliche Infrastruktur des modernen Weltverständnisses gelten müsse (Gamm 1994), dann zeigt sich diese vielleicht darin, dass
in der Gegenwartsgesellschaft häufig das Entscheiden-Können und das Nicht-Entscheiden-Können fast ununterscheidbar zusammenfallen.

Es ist das Schicksal des modernen homo creator, diese grundlegende Paradoxie aushalten zu müssen: in einer Welt zu leben, in der er zunehmend selbst über sein Schicksal entscheiden muss und gleichzeitig zu reflektieren, dass er auf Grund just dieser Optionen, weit verzweigte Kausalketten in Gang setzt, deren nicht intendierte Nebenfolgen er nicht mehr überblickt und über die er in der nächsten Runde des Handelns erneut zu entscheiden hat.

Literatur

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