Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 176: Die fragmentierte Gesellschaft

Die Agora von Glarus

Die jährliche Landgemeinde in einem Schweizer Kanton,

aus: vorgänge Nr. 176 (Heft 4/2006), S. 126-132

Die Landsgemeinde ist eine der wenigen verbliebenen Formen der direkten Demokratie (auch Versammlungsdemokratie genannt, Vgl. Möckli 1987), die sich auf dem rousseauschen Ideal der Versammlung des Souveräns begründet. Bis heute treten die Bürgerinnen und Bürger im so genannten ‚Ring’ einmal im Jahr zusammen um über die bedeutendsten Angelegenheiten des Kantons zu beratschlagen und abzustimmen.
Nur wenige demokratische Verfassungen beinhalten heutzutage noch die Möglichkeit der unmittelbaren Mitbestimmung. Eine ähnlich umfassende Form der direkten Demokratie besteht, neben den Landsgemeinden in der Schweiz, nur in den Townmeetings in einigen Neuengland-Staaten(1). Auch in Deutschland sind Gemeindversammlungen in einigen Landesverfassungen noch immer festgeschrieben, kommen jedoch seit der Gemeindegebietsreform Mitte der 1970er Jahre nicht mehr zur Anwendung(2).  Die meisten demokratischen Verfassungen haben die Versammlung durch gewählte Repräsentanten und durch ein Parlament als Ort der Willensbildung ersetzt. Dementsprechend werden die Versammlungsdemokratien in den meisten demokratietheoretischen Untersuchungen als Randerscheinungen und Beispiele ungewöhnlicher demokratischer Praktiken mit einem großen Anteil an Folklore bezeichnet. 
Aufgrund der spezifischen Besonderheiten und der tiefen traditionellen Verwurzelungen erscheint diese Form der politischen Willensbildung kaum übertragbar auf andere westliche parlamentarische Demokratien. Sicherlich ist es nicht möglich eine in der Schweiz über Jahrhunderte gewachsene Form der Demokratie als Blaupause auf andere Gesellschaften zu übertragen. Dennoch ist die Landsgemeinde ähnlich wie die athenische Demokratie ein in der Sozialwissenschaft gern zitiertes Beispiel das die Möglichkeit einer stärkeren Partizipation der Menschen beweist.
Autoren wie Pateman (1970), Barber (1994) und Dewey (2001) betonen die Bedeutung der lokalen Bürgerbeteiligung als Schule der Demokratie. Aber auch die in den 90er Jahren entstandene globalisierungskritische Bewegung macht die direkte Teilhabe an der Gestaltung der Politik zu einer ihrer zentralen Forderungen. So ist die Landsgemeinde nicht nur als kulturelles Phänomen zu verstehen sondern als Verwirklichung einer unmittelbaren Selbstbestimmung des Menschen.
Im Folgenden sollen zunächst die während einer Studienreise Anfang Mai 2006 gesammelten Eindrücke wiedergegeben werden, um anschließend die Frage nach dem Nutzen für die demokratietheoretische Diskussion erneut aufzuwerfen.

Definition der Begriff­lich­keit

Die Landsgemeinde als spezielle Form der direkten Demokratie, in der sich die Bürgerinnen und Bürger für die wichtigen Entscheidungen des Gemeinwesens auf dem Marktplatz treffen, weist Ähnlichkeiten zur Urform der Demokratie, wie sie in Athen im 5. Jh. vor Chr. praktiziert wurde, auf. Neben der physischen Präsenz der BürgerInnen sind eine weitreichende Kompetenz in Sach- und Personalfragen sowie der Betonung der Gemeinschaft (Community) wichtige Charakteristiken dieser Form der versammlungsbetonten direkten Demokratie. Mit diesen Eigenschaften grenzt sich jene Form der direkten Demokratie, die im Folgenden als Versammlungsdemokratie bezeichnet werden soll, zu anderen Formen der direkten Demokratie (etwa auf der Grundlage von Initiativen oder Referenden) und zum vorherrschenden Modell der repräsentativen Demokratie ab.

Demokratie in der Schweiz

Die Schweiz hat eine lange Tradition der direkten Beteiligung der BürgerInnen durch Instrumente wie Referenden und Initiativen. Älter allerdings und unmittelbarer ist die Beteiligung der BürgerInnen in der kantonalen Versammlung, der Landsgemeinde. Bis zur Entstehung des Schweizer Nationalstaates im Jahre 1848 waren die Landsgemeinden in einem Bündnis zusammengeschlossen. Unter zunehmendem Druck von außen bildete sich schließlich der Schweizer Staat, der seinen Kantonen jedoch eine weitgehende Autonomie einräumte. Die politische Einheit der Kantone blieb erhalten und damit das Recht, weiterhin Landsgemeinden abzuhalten, auch wenn diese nun dem Bundesrecht untergeordnet waren. Viele Landsgemeinden lösten sich im Laufe der Zeit auf und übergaben die politische Verantwortung an die Repräsentanten, so dass im Jahr 2005 nur noch in Glarus und Appenzell-Innerrhoden Landsgemeinden abgehalten wurden.
Heutzutage zeichnet sich die Schweiz durch einen äußerst hohen Grad der politischen Mitbestimmung aus. Auch wenn die parlamentarische Demokratie die vorherrschende Form der legislativen und exekutiven Entscheidungen ist, so üben die Bürger- Innen durch die Volksinitiative und Referenden einen starken Einfluss auf die Politikführung aus. Letztlich ist die Schweizer Verfassung der Rahmen, in dem sich die einzelnen Kantone hinsichtlich der Partizipationsrechte ganz unterschiedlich von einander entwickelten. Diese interkantonale Konkurrenz, die dadurch hervorgerufen wird, hat weitreichende und ambivalente Folgen, die an dieser Stelle allerdings nicht thematisiert werden sollen (Vgl. dazu Vatter 2002). Im Fokus stehen hier die beobachteten Wirkungsmechanismen der direkten Demokratie am Beispiel der Landsgemeinde Glarus.

Der Kanton Glarus und die Lands­ge­meinde

Die Beobachtungen in Glarus – vor und während der Landsgemeinde – waren sehr eingänglich und vermittelten den Eindruck einer lebendigen Demokratie. Glarus ist mit 38.000 BürgerInnen einer der kleineren Kantone. Der Kanton ist der historisch am stärksten industrialisierte im Schweizer Vergleich. Rund 42 % der Einwohner arbeiten noch heute im Industriesektor. Der Anteil der Nicht-Schweizer Bevölkerung im Kanton beträgt ca. 20%.
Wann genau die ersten Landsgemeinden in Glarus stattfanden, kann nicht genau bestimmt werden. Nach Möckli (1987) wurden bereits im Mittelalter Landsgemeinden abgehalten. Die Landsgemeinde ist das oberste Organ des Kantons und steht in seinen Entscheidungen über dem Landrat (Kantonsparlament). In der Kantonsverfassung heißt es dazu: „Die Landsgemeinde ist die Versammlung der stimmberechtigten Landeseinwohner. Sie ist das oberste Organ des Kantons.“ (Art. 61) Dementsprechend kommt dem Landrat keine gesetzgebende Gewalt zu. Diese wird ausschließlich von der Landsgemeinde ausgeübt. So steht in der Kantonsverfassung: „Er [der Landrat] bereitet die Verfassungs- und Gesetzgebung und die übrigen Beschlüsse der Landsgemeinde vor“ (Art. 82, Absatz 3). Das einzige zur Gesetzgebung befugt Organ im Kanton ist damit die Landsgemeinde.

Der Tag der Lands­ge­meinde

Über die Landsgemeinde und die zur Entscheidung stehenden Paragraphen wurde schon lange vor dem eigentlichen Ereignis gesprochen. Die Zeitungen, insbesondere die lokal weit verbreitete Regionalzeitung Südostschweiz, berichteten ausführlich und ausgewogen über die unterschiedlichen Positionen und Vorschläge: Artikel und Lesermeinungen lieferten sich überwiegend sachliche, auf Argumenten basierende Auseinandersetzungen. Wenngleich die Zeitung das wichtigste Informationsmedium für die Meinungsbildung darstellte, wurde auch anderweitig für Positionen geworben. Neben der Berichterstattung in Fernsehen und Rundfunk spielte insbesondere das direkte Gespräch zwischen den BürgerInnenn eine zentrale Rolle im politischen Austausch. Dies zeigte sich eindrucksvoll „auf der Straße“, denn ob im Cafe oder im (Bio-)Laden, fast überall wurde über die kontroversen Agendapunkte gesprochen, jeder hat seine Meinung, die er oder sie bei Bedarf auch relativ fundiert erklären konnte. Kurz vor der Versammlung des gesamten Kantons zeigte sich die Bürgerschaft durchweg politisiert.
Die Landsgemeinde, die wie jedes Jahr am ersten Sonntag im Mai stattfand, war in vielerlei Hinsicht ein aufregendes Spektakel. Viele Glarner hatten sich schon früh (gegen 9:00 Uhr) auf dem Platz vor dem Rathaus versammelt, um dem traditionellen Auszug der kantonalen Autoritäten aus dem Kantonsparlament beizuwohnen. Begleitet von einer Kapelle und ausgestattet mit historischen Insignien, wie etwa dem Schwert des Landammannes und der traditionellen Robe, schritten die gewählte Exekutive und andere Funktionsträger in den ‚Ring’. Dieses für Außenstehende vielleicht folkloristisch anmutende Ritual erfüllt für die Bür-gerInnen des Kantons eine wichtige identitäts- und gemeinschaftsstiftende Funktion, manifestiert sich in ihr doch die jahrhundertealte Tradition der politischen Mitbestimmung und Souveränität der KantonsbürgerInnen. Die Landsgemeinde geht jedoch weit über den rein symbolischen Gestus hinaus, denn hier werden unter unmittelbarer Beteiligung der stimmberechtigten BürgerInnen verbindliche politische Entscheidungen mit weitreichenden Folgen beschlossen.
Zum Beginn der Landsgemeinde hatten sich auf dem Zaunplatz (auch Landsgemeindeplatz genannt) im Hauptort Glarus ca. 8000 Stimmberechtigte versammelt, was einer Stimmbeteiligung von 25 bis 30 Prozent entsprach. Zutritt zum ‚Ring’ wurde nur mit Stimmkarte gewährt, die jedem Stimmberechtigten zugestellt wurde. Teilnahmeberechtigt sind damit ausschließlich in Glarus ansässige Schweizer Staatsbürger3. Den Auftakt der Landsgemeinde machte der Landammann Jakob Kamm mit einer Ansprache zum Zustand des Kantons, die allerdings nicht nur lokale Belange thematisierte, sondern auch dezidiert globale Fragen aufwarf. Verbunden mit der Aufforderung an alle Glarner, sich am politischen Prozess zu beteiligen, deutete diese Rede ein umfassendes Politik- und Partizipationsverständnis der Bürgerschaft an.
Im Verlauf der Landsgemeinde wurden zuerst die Autoritäten (Landammann, Obergerichtspräsident, Staatsanwalt, Verhörrichter, etc.) gewählt. Bis vor kurzem wurden auch die Repräsentanten des Kantonsparlaments auf der Landsgemeinde bestimmt. Auf die Wahl folgte die Abstimmung über die Finanzmittel des Kantons, sowie über die Gehälter der Regierungsmitglieder4.  Daran anschließend wurden die zur Abstimmung stehenden Tagungsordnungspunkte, die so genannten Traktanden, das „Herzstück“ der Landsgemeinde abgehandelt.
Für die Landsgemeinde am 7. Mai 2006 waren 14 Punkte anberaumt. Vor der Abstimmung eines Traktandums konnten sich die versammelten BürgerInnen auf eine Rednerliste setzen und ihren Beitrag zu dem abzustimmenden Gesetz einbringen. Sie konnten entweder affirmativ dafür werben, ihre Missbilligung zum Ausdruck bringen und somit für die Ablehnung des Gesetzes plädieren oder eigene Änderungs- bzw. Alternativvorschläge zur Abstimmung einbringen. Insbesondere letzteres ermöglicht den BürgerInnen einen großen Gestaltungsspielraum, der immer wieder für Überraschungen während der Landsgemeinde sorgt. Neben der die Diskussion strukturierenden Rednerliste kann auch der Landammann, der die Sitzung leitet, während der Debatte ordnend eingreifen und bei zu langen oder nicht relevanten Reden das Wort entziehen. Dies scheint meist jedoch nicht nötig zu sein, da zum einen die RednerInnen in ihrem Redeverhalten diszipliniert sind und zum anderen der meist vorher einsetzende, lautstark geäußerte Unmut des Publikums ein effektives Sanktionsmittel ist. Kommt es schließlich zur Abstimmung stellt der Landammann per ‚einfacher’ Schätzung der erhobenen Stimmkarten – deutlich gelb sichtbar – die Mehrheit fest.
Sollte die Mehrheit nicht eindeutig erkennbar sein, so bedient sich der Landammann vier weiterer Helfer, die jeweils einen Bereich des Ringes abschätzen und somit eine treffsicherere Aussage fällen können. Elektronische, präzise Erfassungen existieren nicht und werden von den BürgerInnen mit Verweis auf die Tradition abgelehnt. Die Abstimmung kann maximal dreimal wiederholt werden, bis schließlich ein Ergebnis verkündet werden muss. Erstaunlicherweise wird nach Aussage eines Einheimischen das Ergebnis von den BürgerInnen so gut wie immer anerkannt, eine Anfechtung habe es noch nicht gegeben. Das Ende der Landsgemeinde folgte nach knapp fünf Stunden (ohne Pause) unspektakulär durch das feststellen des Endes der Landsgemeinde und dem Auszug der Autoritäten aus dem „Ring“.

Die Resultate

Die Resultate der fünfstündigen Verhandlungen sind erstaunlich und entkräften so manches Vorurteil gegenüber der direkten Demokratie im Generellen sowie der Versammlungsdemokratie im Speziellen. Damit stellt die Landsgemeinde die Forderung nach Mitbestimmungsrechten der BürgerInnen in ein neues Licht.
Von den insgesamt 14 Gesetzesvorhaben, die auf der Agenda zur Abstimmung standen, war die Änderung der Gemeindestruktur der kontroverseste Punkt. Als ein relativ kleiner Kanton mit – wie erwähnt – gerade einmal etwa 38.000 Einwohnern bestand Glarus aus 25 Gemeinden, einige von ihnen sogar nur wenige hundert Einwohner stark. Die mit dieser Vielzahl der Gemeinden einhergehende aufwendige Bürokratie wurde zunehmend als Belastung für die BürgerInnen und als Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen Kantonen empfunden, weshalb auf Vorschlag des Regierungsrates (=Landesregierung) eine Verschlankung der Strukturen auf 10 Gemeinden durchgeführt werden sollte. Diese von vielen zwar als nötig erachtete Gemeindestrukturreform stieß jedoch schon im Vorfeld auf großen Widerstand5. Welch Überraschung, als nach intensiver Debatte nicht das „10er Modell“ angenommen wurde, sondern ein noch viel weitergehender Vorschlag eines einzelnen Bürgers, der erst während der Landsgemeinde vorgetragen wurde, und nur noch drei Gemeinden vorsah.
Diese Episode verdeutlicht zwei Aspekte der Versammlungsdemokratie auf eindrückliche Weise: Zum einen erwies sich die Landsgemeinde mitnichten als reformträge oder gar strukturkonservativ, wie ihr meist nachgesagt wird. Zum anderen zeigte sich eine ausgeprägte Diskussionskultur, die mit sachlichen Argumenten eine politische Entscheidung herbeigeführt hat. Die offensichtlich starke Demokratie, die durch die Landsgemeinde gefördert wird, wirft jedoch auch Widersprüche und Kritik auf. Die beiden gewichtigsten Kritikpunkte sollen im Folgenden kurz dargestellt werden.

Wider­sprüche zum heutigen Verständnis von Demokratie

Gegen die Versammlungsdemokratie werden verfassungsrechtliche Bedenken artikuliert, da zwei wichtige demokratietheoretische Prinzipien nicht gewährleistet seien. Zum einen wird das Recht auf Geheimhaltung der Wahlentscheidung nicht eingehalten, da jeder sehen kann, wie sein Nachbar wählt6.  Dies kann zu einem beeinflussten und unfreien Wahlverhalten führen, wenn auf Grund konträrer Interessenlagen struktureller Zwang ausgeübt wird. Als klassisches Beispiel wird hier die Entscheidung eines Arbeitnehmers angeführt, der sich in Anwesenheit seines Arbeitgebers zu einem arbeitsmarkpolitischen Thema positionieren muss, das vielleicht seinem eigenen Interesse zuwiderläuft. Zum anderen gilt nicht die Allgemeinheit der Wahl. Ist ein Stimmbürger am Tag der Landsgemeinde verhindert, sei es aus Krankheit, beruflichen oder sonstigen Gründen, so verfällt sein Stimmrecht unweigerlich. Briefwahl oder eine sonstige alternative Stimmabgabe ist nicht möglich. Die Bürgerin oder der Bürger ist somit von der politischen Partizipation gänzlich ausgeschlossen.

Schlussfolgerungen

 Als eine der letzten derart unmittelbaren Demokratien lässt sich aus diesem direktdemokratischen Biotop vielleicht einiges über die möglichen Auswirkungen einer umfassenderen Beteiligung der BürgerInnen am Gemeinwesen ableiten.
Trotz der berechtigten Einwände scheint die Versammlungsdemokratie eine inspirierende und bereichernde Demokratieform zu sein, die die politische Kultur des Kantons sicherlich maßgeblich beeinflusst, die Verantwortung der BürgerInnen gegenüber ihrem Gemeinwesen stärkt und eine gemeinsame Identität schafft. Die Landsgemeinde hat sich als eine politische Arena präsentiert, in der die Mitglieder der Gemeinde in einem starken Maße in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden sind. Das macht sie zu einer überlegenswerten Bereicherung eines repräsentativ-demokratischen Systems. Typische und gängige Klagen über die repräsentative Demokratie, wie z.B. abnehmende Wahlbeteiligung, besonders auf lokaler und regionaler Ebene, Ohnmachtsgefühle der BürgerInnen, Entsachlichung und Banalisierung des Politischen und letztendlich eine weit verbreitete Politikverdrossenheit scheint es in dieser Dramatik in Glarus nicht zu geben.  Glarnerinnen und Glarner können während der Landsgemeinde eine Vorlage nicht nur annehmen oder ablehnen. Sie können sie auch ändern, diskutieren und aus dem Stehgreif neue Anträge stellen. Dieses hohe Maß an Mitsprache des Einzelnen scheint eine konstruktive und belebende Wirkung auf das Gemeinwesen zu haben, die in dieser Form in Deutschland oder anderen Demokratien bisher nur wenig beachtet wurde.
Angesichts der empirischen Befunde, die sich aus der Beobachtung der Glarner Landsgemeinde ergeben, scheint es weder utopisch noch unvernünftig zu sein, über die direkte Beteiligung der BürgerInnen an der Politik des Gemeinwesens intensiver zu diskutieren und diese gegebenenfalls auch einzufordern. Dies führt uns zurück zu der eingangs aufgeworfenen Frage nach dem Nutzen für die demokratietheoretische Diskussion. Hier zeigt sich entgegen den gängigen Einwänden, dass erstens eine direkte Beteiligung der Menschen an der Politik eines Gemeinwesens möglich ist. Zweitens muss die direkte Demokratie nicht im Widerspruch zur parlamentarischen Demokratie gesehen werden. Drittens wird die Gewaltenteilung durch die direkte Regierungs- ausübung nicht eingeschränkt sondern gestärkt. Und letztlich stellt die Partizipation der Menschen an dem Gemeinwesen eine Möglichkeit dar, der wachsenden Unzufriedenheit der Menschen mit der Politik entgegen zu wirken. Somit zeigt sich in Anknüpfung an die eingangs erwähnten Autoren Pateman, Barber und Dewey ein Verständnis von Demokratie, dessen Kern die politisch aktiven Bürgerinnen und Bürger sind. Durch die direkte Teilhabe wird Politik erfahrbar und ist keine abstrakte Tätigkeit von Repräsentanten, sondern eine Verantwor- tung die jeder Einzelne mit trägt. Damit ist die lokale Selbstregierung in der Landsgemeinde die wichtigste Schule für eine demokratische Gesellschaft.
In diesem Sinne schreibt auch der Bundesrat Arnold Koller zur Landsgemeinde folgende Worte: „Die Landsgemeinde, wo demokratisches Wählen und Abstimmen zugleich Gemeinschaftserlebnis ist, wo die persönliche Verantwortung der Regierenden gegenüber dem Landvolk jedes Jahr Aug in Aug neu zu übernehmen ist, wo eine Herausbildung einer fremden „Classe politique“ undenkbar und wo die Einführung der Jungen in die Politik zugleich eine Feier, wenn nicht gar ein Fest ist, bleibt eine, wenn auch immer seltener werdende Schule der Nation. Heute, wo wir soviel von politischem Desinteresse vieler Bürgerinnen und Bürger, von schwindendem Verantwortungsgefühl der Regierenden und mangelndem Dialog zwischen Volk und Regierung sprechen, bleibt die Landsgemeinde der Garant einer bürgernahen, verantwortungsbewussten Politik“ (Koller 1999).

1   Insbesondere im Bundesstaat Vermont/ USA wird die direkte Demokratie, als Townmeeting, auf der Grundlage von Versammlungen noch immer praktiziert. Dort allerdings lediglich auf lokaler Ebene in den Gemeinden und nicht für den gesamten Bundesstaat.
2  Die meisten Gemeinden haben eine Größe   (über 50.000 EW) erreicht, die Gemeindeversammlungen von Verfassungswegen nicht mehr gestatten.
3  „Alle Schweizer sind im Kanton und in der Gemeinde stimmberechtigt, wenn sie hier wohnhaft sind und das 18. Altersjahr zurückgelegt haben“ (Art. 56, Absatz 1 der Kantonsverfassung).
4   Interessanterweise wurde trotz knapper Kassen eine Reduktion der Gehälter der Regierungsmitglieder des Kantons abgelehnt. Der Kanton hat einer der höchsten Gehaltssätze in der Schweiz.
5   Hauptargumente waren die fehlende Identifikation mit den neuen Gemeinden, Rivalitäten zwischen den einzelnen Regionen und schließlich auch die „von oben diktierte und künstliche“ Zusammenlegung. (Aufzeichnungen von Gesprächen in Glarus).
6   Diese Kritik ist jedoch diskussionswürdig. Eine öffentliche Stimmabgabe könnte auch dazu führen, dass die BürgerInnen ihre Verantwortlichkeit stärker wahrnehmen (Vgl. dazu Buchstein 2000).

Literatur


Barber, Benjamin (1994): Starke Demokratie, Über die Teilhabe am Politischen. Hamburg.
Buchstein, Hubertus (2000): Öffentliche und geheime Stimmabgabe. Eine ideengeschichtli-che und wahlrechtshistorische Studie. Baden- Baden.
Dewey, John (2001): Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Berlin.
Landsgemeinde 2006: Homepage der Landgemeinde: http://www.glarusnet.ch/lg2006
Koller, Arnold (1999): Rede des Landammans zur Eröffnung der Landsgemeinde 1999:  http://www.glarusnet.ch/lg99/htm/01.htm
Möckli, Silvano (1987): Die schweizerischen Landsgemeinde-Demokratien. Bern.
Pateman, Carol (1970): Participation and democratic Theory. Cambridge.
Südostschweiz vom 9.5.2006.
Vatter, Adrian (2002): Kantonale Demokratien im Vergleich: Entstehungsgründe, Interaktionen und Wirkungen politischer Institutionen in den Schweizer Kantonen. Mit einem Vorw. von Arend Lijphart. Opladen.

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