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Die Infor­ma­li­sie­rung der Politik

Neue Formen des Risk Governance oder Entdemokratisierung der Politik?

aus: vorgänge Nr. 191, Heft 3/2010, S. 119-128

I. Einleitung

Der Rettungsschirm von 750 Milliarden Euro, der unter dem Druck anhaltender Spekulationswellen gegen den Euro am 09.05.2010 von den europäischen Regierungschefs entschieden und der am 21.05.2010 per Gesetz durch den deutschen Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde, ist ein Ereignis, welches man in vielerlei Hinsichten interpretieren kann. Selbst diejenigen, die sich davon eine Stärkung Europas erhoffen, werden allerdings nicht verleugnen können, dass bei der hastigen Entscheidung über dieses „Währungsnotstand-Gesetz“ (Prantl 2010) die Parlamente erneut die Verlierer der Regierungspraxis sind, da sie nunmehr ex post – nachdem Vorentscheidungen unter exekutiver Führerschaft nahezu irreversibel gefällt worden sind – als ratifizierende Instanzen fungierten. Bei alledem hat es den Anschein, als bliebe den Parlamentariern der Inhalt und der konkrete Modus dieses Jahrhundertgesetzes verschlossen. Das fehlende Wissen über die möglichen Folgewirkungen der Entscheidung ist wie häufig ein Indiz dafür, dass wir in einer „Weltrisikogesellschaft“ (Beck 2007; Holzinger u.a. 2010) leben. Heribert Prantl (2010) resümiert: „Das Parlament ermächtigt die EU-Kommission und eine noch nicht gegründete Zweckgesellschaft luxemburgischen Rechts zur Vergabe von Unsummen – nach Kriterien, die der Bundestag noch gar nicht kennt. Die noch ganz vagen Strukturelemente einer solchen Konditionsvereinbarung wurden bisher nur auf einer halben Seite mitgeteilt: ein Waschzettel als Anleitung für Milliardenausgaben.“ Man muss zugeben: Dadurch, dass dem Parlament nur begrenzte Kontrollmöglichkeiten offen stehen und es sich keine alternativen Informationsquellen zu erschließen vermag, untergräbt die Exekutive die demokratische Legitimation des Gesetzes (vgl. generell Kropp 2003).

Das ausschlaggebende Merkmal dieses Phänomens wurde in den letzten Jahren von unterschiedlichen staats- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen diskutiert: die Rede ist von der Informalisierung der Politik (siehe dazu z.B. Daase 2009; Greven 2005; Slaughter 2004). Was sich gegenwärtig in der nationalen und internationalen Politik abzeichnet, ist ein Trend zur Informalisierung. Politische Akteure nutzen ad hoc-
Entscheidungen und neue Kooperationsformen, um globalen Risiken zu steuern. Operative Medien und Organisationen mit stark kodifizierten Konventionen und expliziten Regeln (z.B. Verträge, formal völkerrechtliche Gesetze) werden umgangen. Weniger stark institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit mit lockeren Vereinbarungen und impliziten Regeln sind ein zentraler Attraktor.

Gegenstand dieses – kursorischen – Beitrages sind die neuartigen Prozesse der Informalisierung des Politischen. Um dieses Themenfeld zu entfalten, wird im Folgenden zunächst kurz die formale Politik als Gegenbegriff zu informaler Politik präzisiert. Es folgt eine phänomenologische Rekonstruktion der Entwicklung und der Funktionen informaler Dimensionen politischer Willensbildung. Als Resümee schließt sich eine Darstellung der gegenwärtigen Einschätzungen und normativen Bewertungen des Spannungsverhältnisses von Formalisierung und Informalisierung an.

II. Forma­li­sie­rung als Standard­modus des Politischen

Seit jeher, bei Max Weber, Norbert Elias, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas war die sozialwissenschaftliche Theorie der europäischen Moderne eine Theorie der Formalisierung der Lebensverhältnisse im Allgemeinen und des Politischen im Besonderen. Die moderne Gesellschaft, davon ging die westliche Sozialwissenschaft aus, orientiert sich am Paradigma der Formalisierung von Verhaltenserwartungen im Sinne von zweckrationaler
Orientierung bzw. rechtlicher Kodifizierung. Schon für Weber (1980) ist die Voraussetzung für das take off der industriellen Moderne die Ausprägung einer spezifisch formalen Rationalität. Formale Organisationen treten als Diffusionsagenten der rechtlich-politischen Ordnung westlicher Provenienz in Erscheinung. Sie lassen sich definieren „als Mittel rationaler Herrschaft, durch formulierte, insbesondere schriftlich fixierte Regeln“ (Luhmann 1964: 32f.). Üblicherweise galt auch (und gerade) für die internationale Sicherheitspolitik, dass in den Gebieten, in denen zusammen gearbeitet wurde, diese Übereinkünfte über formale Verträge und darin enthaltene Rechte und Pflichten der Vertragspartner legitimiert wurden. Charles Lipson stellte dementsprechend fest, dass die meisten sicherheitspolitischen Kooperationen – und insbesondere diejenigen, die auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle erfolgen – „die Form des Vertrags“ besitzen. Was auch immer das Objekt der Abmachung gewesen sei, „die Verhandlungsführer hätten immer formale Dokumente mit voller Ratifikation zum Ziel gehabt“ (Lipson 1991: 520).

Insbesondere der moderne Rechtsstaat ist als Gegenmodell zum monarchischen Anstaltsstaat konzipiert worden. Oberstes Prinzip der modernen Staatsform ist die Verfahrensform der Gewaltenteilung, d.h. die Trennung der Funktionsbereiche von Legislative, Exekutive und Judikative. Seit der Abkehr von der absolutistischen Staatsform verbindet sich mit dieser klaren Aufteilung der Kompetenz- und Befugnisformulierung staatlichen Handelns die Hoffnung auf eine rationale Begrenzung von Machtverhältnissen. Die demokratietheoretische Pointe des Formalismus moderner politischer Institutionen liegt mithin in der Ausdifferenzierung formaler Diskursregeln. Von nun an sollte niemand Entscheidungen unterworfen werden, die ihr oder ihm gegenüber nicht reziprok und allgemein begründbar sind. Entscheidungen sollten nur dann legitim sein, wenn sie „die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können“ (Habermas 1992: 141). Und in der Verteilung der Gesetzsetzung und der Gesetzanwendung auf verschiedene Organe und Institutionen, in der Gewaltenteilung fand diese Differenzierung ihren eigentlichen Sinn.

Für die Verrechtlichung gesellschaftlicher Beziehungsformen bürgt paradigmatisch das Grundprinzip formaler Legalität. Das zentrale Medium, um den rechstaatlichen Anspruch des Verfassungsstaates zu markieren, ist das parlamentarische Gesetz geworden. In seiner Multifunktionalität erweist sich das Gesetz als unverzichtbare Ordnungsgarantie und als herausragendes Steuerungsinstrument gesellschaftlicher Problembewältigung. Das gilt auch für die Verwaltungsrechtswissenschaft, die ihre Systematisierungsbemühungen an der „Herrschaft des Gesetzes“ ausrichtet. Dem Rechtsstaat lag insofern von Anbeginn die konstitutive Unterscheidung von Normieren und Handeln zu Grunde. Niklas Luhmann (1995: 195ff.) bewertet das rechtliche Konditionalprogramm als Prototyp des rationalen formalen Rechts und kontrastiert es gegen das traditionelle Recht.

Diese Entwicklung der Moderne hat, wie in den Theorien der Weltgesellschaft dargelegt, seit dem Zweiten Weltkrieg globale Ausmaße angenommen (z.B. Meyer 2005). Nicht nur ein internationaler Strafgerichtshof (ICC) und die globale Verankerung der Menschenrechte spricht dafür, sondern auch die Entstehung eines Norm- und Schiedssystems im Bereich des internationalen Handels („Lex Mercatoria“) sind deutliche Hinweise auf ein Weltrecht, dessen wesentliches Spezifikum darin zu sehen ist, dass es „kein Außen mehr“ (Brunkhorst 2009: 109) hat. Informelle Prozesse wurden dabei zunächst eher als randständige Aspekte nicht vollständiger Formalisierung betrachtet. Sie besaßen keine eigene Funktion. Ihnen wurde nur eine nachrangige Stellung gegenüber den Formalstrukturen zugeordnet.

III. Das Phänomen der Infor­ma­li­sie­rung

Seit dem Ende des Kalten Krieges sind Staaten dazu übergegangen, neue politische Formen anzuwenden, bei denen formale Organisationsstandards umgangen werden. Tatsächlich findet nationales bzw. internationales Konfliktmanagement zunehmend in informellen Interessenkonstellationen statt, die je nach Konfliktmuster heterogen zusammengesetzt sind. Informalisierungsprozesse beziehen sich dabei sowohl auf die formalen Kriterien der Vereinbarungen (Informalisierung der Verbindlichkeit) als auch auf den Kooperationsmodus (stark institutionalisierte Organisationen versus informelle Adhoc-Koalitionen) (vgl. Daase 2009: 289f.). Häufig ersetzen informelle Verfahren zwar nicht die formale Entscheidung. Aber der formale Vollzug durch die verantwortlichen Instanzen erfolgt automatisch in Form von „Abnicken“.

  • Der UN-Sicherheitsrat greift beispielsweise auf informelle Strukturen zurück, um seine strukturell begrenzten Steuerungskapazitäten zu optimieren. Im Zuge der internationalen Konfliktregulierung formieren sich informelle Staatengruppen, die sich als „Freunde des Generalsekretärs“ bezeichnen und oftmals in der Lage sind, dort effizient zu agieren, wo die UNO strukturell durch die Charta oder durch politische Konstellationen daran gehindert ist (Prantl 2005). Sie regen einen Dialog zwischen dem UN-Sekretariat und verschiedenen regionalen und lokal verorteten Organisationen an, die spezifisches Kontextwissen mitbringen.
  • Die Kosovo-Intervention 1999 in Jugoslawien als „Selbstermächtigung der Nato“ (Jürgen Habermas) stellte den im Völkerrecht anerkannten Grundsatz der Unabhängigkeit der Nationalstaaten in Zweifel und wurde ohne Legitimation des Sicherheitsrates vollzogen, der im eigentlichen Sinne die „Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ (Art. 24, UN-Charta) trägt. Der Irak-Krieg 2003 unter einer „Koalition der Willigen“ wurde ebenso informell, ohne Mandatierung durch den Sicherheitsrat realisiert.
  • Die G8-Staaten erwirtschaften etwa zwei Drittel des globalen Bruttoinlandprodukts. Die G8 sind ein informelles Forum der Staats- und Regierungschefs (Gstöhl 2007). Die Gruppe ist keine internationale Organisation, sie besitzt weder einen eigenen Verwaltungsapparat mit ständigem Sekretariat und Bediensteten noch eine permanente Vertretung ihrer Mitglieder. Sie ist ein „transgovernmentales Netzwerk“ (Slaughter 2004). Die G8 bündelt in ihrer Funktion als „master transgovernmental coalition“ (Gstöhl 2007: 5) immer mehr wirtschaftspolitische und sicherheitsrelevante Themen in Arbeitsgruppen. Die Themenpalette umfasst mittlerweile das gesamte Spektrum globaler Politik. Neben der Wirtschaftspolitik werden außen- und sicherheitspolitische, aber auch entwicklungspolitische Themen angesprochen. Die G8-Gipfelprozesse mit ihren rhizomhaften, dichten Netzwerken der Politikkoordination, nehmen maßgeblich auf die Entscheidungsprämissen der nationalen politischen Systeme Einfluss, so dass bereits von „Club Governance“ (Schneckener 2009) die Rede ist. Die G8-Staaten werden mittlerweile als Gruppensouverän gehandelt, der sogar die USA als Hegemon ablösen könnte.
  • Die Staats- und Regierungschefs verständigten sich auf dem G20-Gipfel im September 2009 in Pittsburgh darauf, dass die G20 die G8 als maßgebliches Gremium für globale Wirtschaftsfragen ablösen soll. U. a. wurde über eine Neuordnung der Finanzwirtschaft gesprochen. Die erfolgsabhängigen Vergütungssysteme der Banken sollen sich nach dem Willen der G20 nicht mehr an vorübergehenden Gewinnen, sondern an Nachhaltigkeitskriterien orientieren. Dazu macht der Finanzstabilitäts-Rat (FSB) konkrete Vorschläge. Diese sollen Grundlage für die nationale Gesetzgebung der G20-Staaten werden.
  • Seit den 60er Jahren wird auch innenpolitisch von einer „Entparlamentarisierung“ gesprochen (z.B. Kropp 2003). Politische Entscheidungen würden in Wirklichkeit schon längst in informalen Koalitionsausschüssen oder -gesprächen getroffen (so bereits Bohne 1981). Die Herrschaft der politischen Parteien hat es mit sich gebracht, dass Deliberation und Entscheidung separiert sind. In der parlamentarischen Realität ist der Abgeordnete nicht allein dem Willen seines Wählers und seinem Gewissen verpflichtet, sondern an Fraktionsbeschlüsse gebunden. Die Chefs der Regierungsfraktionen richten die Abgeordneten auf eine bereits in informellen Absprachen mit der Regierung abgestimmte Richtung aus. Carl Schmitt (2003: 319) stellte schon fest: „Das Parlament wird eine Art Behörde, die in geheimer Beratung beschließt und das Ergebnis der Beschlussfassung in einer öffentlichen Sitzung in der Form von Abstimmungen verkündet.“ Die Abstimmung kann dann im Prinzip vor leeren Stühlen durchgeführt werden.

  • Auch bezüglich des Rechtssystems ist von Autoren wie Franz Neumann, Ernst Forsthoff, Dieter Grimm, Ernst-Wolfgang Böckenförde eine Informalisierung modernen Rechts diagnostiziert worden, in dessen Folge es zu einem dramatischen Anstieg der Unbestimmtheit des Rechts kommt. Es wird von einer „Krise des Rechtsstaates“ gesprochen, da die nachlassende Bindewirkung des parlamentarischen Gesetzes zu einer Gefährdung des Modus der Gewaltenteilung führt. Im Monopolkapitalismus verschwindet, so lässt sich Neumanns (1967) Argumentation zusammenfassen, tendenziell das durch das allgemeine Gesetz definierte formal-rationale Recht zugunsten eines Rechts, in dem die Rechtsformen des Verwaltungsaktes und der Generalklausel dominant werden. Die Generalsklausel ist ein Instrument mit der das System der Gewaltenteilung umgangen wird. Generalklauseln dienen dazu, die Legitimation für ein präzises Handlungsprogramm in der Schwebe zu lassen und damit „äußerlich ablesbare Handlungsgrenzen des Staates zu verdunkeln“ (Wissmann 2008: 4). Rechtssystematisch artikuliert sich diese Verarbeitung unterschiedlichster Formen von Ungewissheit in der Pluralisierung dogmatischer Leitlinien und ihrer methodischen Grundlagen.
  • IV. Ursachen und Funktionen von Infor­ma­li­sie­rung

    Dieser kurze Überblick über typische Felder, in denen es zu einer Informalisierung des Politischen kommt, ist zu ergänzen um eine Explikation ihrer spezifischen Funktionen, die hier nur ganz kursorisch skizziert werden können. Welche verschiedenen Ursachen hat der aufgezeigte Formenwandel des Politischen?

    (1) Anpassung, Optimierung und Ergänzung: In vielen Beiträgen, die auf eine Stärkung informeller Regelungsmechanismen hinweisen, spielen informelle Organisationen die Rolle, ineffiziente formale Organisationen zu ergänzen und zu optimieren. Eine der Ursachen für die feststellbaren politischen Informalisierungsprozesse, kann in der veränderten Weltlage gesehen werden, die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 sichtbar wurde. Die Staatenwelt muss sich mit teilweise neuen Bedingungen und Herausforderungen auseinandersetzen und sieht sich mit einem ungeheueren Normbedarf konfrontiert. Gleichzeitig erodieren in vielen Bereichen die Adäquatheitsbedingungen für die traditionalen Regeln und ihrer noch gültigen rationalen Rechtfertigung. Die Strukturveränderungen stellen für die Institutionen und deren Aufgabenprofil eine Überforderung dar. Viele Problemkomplexe deuten somit auf eine zunehmende Ungewissheit hin, wie soziale Normen angesichts konkurrierender Anforderungen angewendet werden sollen, und markieren das Bedürfnis nach strukturellen Reformen.

    Informalität entwickelt sich dabei häufig vor dem Hintergrund einer durch das formale Recht verursachten Begrenzung. Die den Anpassungsnotwendigkeiten korrelierenden Praktiken bedienen sich oftmals einer „brauchbaren Illegalität“ (Luhmann 1964: 304) und erfordern einen elastischen Umgang mit etablierten Regeln, um den Reformstau zu umschiffen. „Formale Normen schaffen ein Problem, informal wird es zu lösen versucht.“ (Morlok 2003: 50) Der informelle Akteur ist daher notwendigerweise Dezisionist, der immer auch die Transaktionskosten von aufgeschobenen Entscheidungen im Blick hat. Da im Falle des Konflikts in der serbischen Provinz Kosovo, eine Beschlussfassung für weitere Maßnahmen im Sinne eines UN-Mandats an dem Veto von Russland und China scheiterte, entschlossen sich am 24. März 1999 19 NATO-Staaten, dass die Behandlung, welche die Albaner im Kosovo durch das serbische Regime unter Slobodan Miloševic erfuhren, ein gewaltsames Eingreifen rechtfertigte. Damit hebelten sie kurzerhand das Gewaltverbot der UN-Charta aus. Noch deutlicher treten die Konturen der Informalität im „asymmetrischen Krieg“ ans Licht: Da der aus der Deckung agierende Gegner in Afghanistan jede symmetrische (konventionelle) Kriegsführung unterwandert, entschlossen sich amerikanische Kommandokräfte – in Analogie zum „Phönix-Programm“ in Vietnam – mit Hilfe paramilitärischer Spezialeinheiten und streng geheimen Feindeslisten, Al-Qaida-Anhänger und hochrangige Taliban in Afghanistan gezielt zu töten oder gefangen zunehmen. Die Kräfte agierten jenseits des Kriegsrechts (Weiner 2010: 24).

    (2) Unsicherheitsabsorption: Informale Handlungsmuster mildern in der Regel die Last der Ungewissheit. Sie werden insofern auch in Zukunft ein zentraler Operator der politischen Risikosteuerung in der Weltrisikogesellschaft sein. In der Weltrisikogesellschaft existiert alles miteinander verbunden und nötigt Politik dazu, dass sie relational, vernetzt und rückkoppelnd denkt und wahrnimmt. Häufig sind eilige Entscheidungen und schnell geschmiedete Bündnisse und Koalitionen von zentraler Bedeutung für die Bewältigung akuter riskanter Handlungssituationen. So betrachtet ist informelles Handeln letztlich nichts anderes als die Abwehr von Gefahrenlagen. Informal Handelnde sind weniger von der Legalität des Rechts als von Interessen geleitet, die Situation zu managen. Die objektive Ungewissheit wird freilich in der Regel dadurch nicht beseitigt, aber durch Entscheidungen und durch Herstellung von Konsens „sozial absorbiert“ (Morlok 2003: 49). Sie wird gleichsam in eine andere Zone der Ungewissheit transportiert, auch wenn sie zeitlich nur verschleppt wird. Ein ähnlicher Vorgang kann bei der Verabschiedung des „Kreditermächtigungsgesetzes“ im Deutschen Bundestag beobachtet werden. Um den „Generalangriff“ der Spekulanten auf den Euro zu trotzen, müsse das in seinen Umrissen anonyme und in seinen riskanten Nebenfolgen völlig intransparente Gesetz rasch implementiert werden, „denn die Märkte vertrauen erst, wenn es in Kraft ist“ (Wolfgang Schäuble).

    (3) Erweiterung der Ungewissheitszone: Informalität kann aber auch in puncto Ungewissheit eine genau entgegengesetzte Funktion erfüllen. Ziel von Informalität wäre dabei nicht, wie man es erwarten würde, die Verkleinerung der uncertainty zone, sondern im Gegenteil ihre Vergrößerung, d. h. die Ausdehnung des Interpretationsspielraums, welche Phänomene unter eine bestimmte Institution fallen und wie bei ihnen zu verfahren ist (vgl. Daase 2009: 293f.). Durch eine Expansion der „Zone der Unbestimmtheit“ (Agamben 2004: 33) wird es möglich, alternative Strategien jenseits existierender Referenzsysteme zu erproben, ohne Letztere direkt zu kompromittieren (vgl. Daase 2009: 293).

    Die Konstituierung neuer Zonen der Uneindeutigkeit und einer hierin angelegten Entgrenzung, lassen sich insbesondere im Rechtssystem nachweisen. Rechtssystematisch artikuliert sich diese Verarbeitung unterschiedlichster Formen von Ungewissheit in der Pluralisierung und Heterogenisierung dogmatischer Leitlinien und ihrer methodischen Grundlagen. Die steigende Ungewissheit führt beispielsweise dazu, dass Gesetze in nebulöse Rezeptionsbegriffe geformt werden. Vage Formulierungen, wie z.B. „effektive Maßnahmen“ – wie sie oftmals der UNO-Sicherheitsrat benutzt – bezeugen die kognitive Unsicherheit im Recht, die sich in einer mangelnden Konventionalisierbarkeit der Maßnahmen manifestiert. Folglich verschwimmen gerade im Rahmen von präventiven Strategien, die prinzipiell keine präzise festlegbare Grenze kennen, die Maßstäbe für normierende Vorgaben.

    V. Schluss­be­mer­kung

    Eine Bewertung der Informalisierung der Politik ist konfrontiert mit deren widersprüchlichen wissenschaftlichen Einordnung, sowohl in empirischer als auch in normativer Hinsicht.

    (1) Auf der einen Seite wird – insbesondere, was die internationale Ordnung betrifft – konstatiert, dass wir in einer rechtlich und politisch integrierten Weltgesellschaft lebten. In der an einer zu vollendenden Weltgesellschaft orientierten Sichtweise kommt das was man Informalisierung von Politik nennt, überhaupt nicht zum Vorschein. Die Struktur des Nationalstaates mit den Personen als Staatsbürgern und Organisationen als Entitäten ist demnach global diffundiert (z.B. Meyer 2005). Die Konstitutionalisierung einer Weltinnenpolitik im Rahmen einer supranationalen Verfassung erreicht in der Idee des Kosmopolitismus seinen Höhepunkt. Insbesondere in strukturellen Konstellationen, die Mehrebenensystemen wie etwa der EU der UNO, der WTO, dem GATT-Abkommen oder Lex Mercatoria, zuzuordnen sind, setze sich der Formalismus der westlichen Gesellschaft fort und werde das westliche Muster der Modernisierung institutionell auf Dauer gestellt (z.B. Brunkhorst 2009; Habermas 2004: 142ff.). Die funktional differenzierte Gesellschaft als Metacodierung sei nicht mehr etwas spezifisch Europäisches. Die Globalisierung der Funktionssysteme habe vielmehr dazu geführt, dass „ausnahmslos alle Menschen, die am Beginn des 21. Jahrhunderts leben, in ihrem Lebensschicksal von funktionaler Differenzierung (…) abhängig geworden sind“ (Brunkhorst 2009: 111). Im Prinzip rekurriert auch die Weltgesellschaft im Routinefall auf formelle Regelungen. Die gegenwärtige Modernisierungstheorie knüpft hier lückenlos an das Projekt an, das von Max Weber begonnen wurde.

    (2) Man muss wenig Scharfsinn aufwenden, um zu erkennen, wo das argumentative Defizit dieser These aufzufinden ist. Der Sache nach, so die Kritik, handele es sich bei den Theorien der Weltgesellschaft häufig um ein wildes Spekulieren des „homo scholasticus“ unter dem Signum von Ausdifferenzierungs-Teleologien (Wagner 1996).1 Dem Theorem der Weltgesellschaft sei eine westliche Missionsdynamik immanent, die es dazu prädisponiere, einer „Kosmopolitismusromantik“ (Sloterdijk 2005: 306) aufzusitzen. Denn es könne auch sein, dass es bei der Konstituierung neuer Zonen der Uneindeutigkeit zu Formen politischer Entgrenzung komme, die in ihrer Folge die Legitimität formeller Kooperationsformen aufs Spiel setze. Informelle Politik könne formelles Recht und formelle Politik korrumpieren und delegitimieren (z.B. Greven 2005).

    Es entstehen zunehmend Zonen von Unsicherheit und Unentscheidbarkeit, unklare Lagen zwischen Regel und Ausnahme. Insbesondere die konstatierte „Weltstaatlichkeit ohne Staat“ – aber ebenso die EU – weisen eine chronische Unterinstitutionalisierung deliberativer Verfahren auf. Das Völkerrecht wird zunehmend fragmentiert. In diesem sehr viel weiter gefassten Begriff von Informalisierung werden zentrale Rechtsnormen zwar nicht aufgegeben, aber ihr Geltungsraum wird undeutlich, und dann dürfen sich Staatsbürger ihrer Rechte nicht mehr so sicher sein. In diesem Diffusionsprozess geht das Gesetz des Handels schleichend an die Exekutive über. Entscheidungsprozesse werden intransparent. Informelle Politik ist dann eher eine Chiffre für Entscheidungsabläufe jenseits des Gesetzes und der demokratischen Prozesse, als ein Signum für eine „Vollrealisierung funktionaler Differenzierung“ (Luhmann 1997: 163). Übersetzt man die Neumannsche (1967) Diagnose von einem Rechtsformenwandel auf die gegenwärtige Rechtssituation, dann drängen sich seine Schlüsse geradezu auf. Denn gerade ein verzeitlichtes, flexibles, prozeduralisiertes Recht wird in steigendem Maß von Generalklauseln und kontextspezifischen Abwägungsgeboten Gebrauch machen.

    (3) Zum Schluss ist darauf hinzuweisen, dass unsere Evaluation der Informalisierung der Politik noch eine dritte Interpretation zulässt. In aller Regel wird Informalisierung (auch im Sinne eines Rechtsformenwandels) als Delegitimierung des Rechtsstaates, insbesondere seiner demokratischen Grundlagen, interpretiert. Es ist aber keinesfalls zwingend, in diesem historischen Politik- und Rechtsformenwandel ausschließlich einen Legitimationsverfall zu sehen. So präzise ob seiner systematischen Geschlossenheit das bürgerliche Formalrecht auch immer ist, so ist es doch unbestreitbar, dass diese Systematik von Anfang an eine entscheidende Voraussetzung hatte: Sie suggerierte nämlich eine Gesellschaft, die sich gar nicht und – wenn überhaupt – dann nur in vorhersehbaren Bahnen transformiert. In Zeiten menschengemachter Katastrophen, Weltkrisen und größerer Unheilskomplexe, die planetarisches Format annehmen, könnte die Informalisierung des Politischen und das in ihr verkapselte dezisionistische Element, Ausdruck der Vitalität politischer Institutionen sein.

    Allerdings hängt meines Erachtens die Qualität der Vitalität politischer Entscheidungen erneut voll und ganz davon ab, ob diese an die Legitimationsflüsse diskursiver Verfahren der Meinungs- und Willensbildung angeschlossen sind, wenn der normative Rahmen informeller Prozesse mehr abgeben soll als eine „hegemonialrechtliche Fassade“ (Habermas 2004: 139). Es lässt sich nicht leugnen: Supranationale Instanzen, die hierarchisch aufgebaut sind und im Prozess der Normerzeugung nur auf die (intransparente) Willensbildung einiger Wenigen reduziert wären, sind nicht demokratisch organisiert. Ihnen fehlt die legitimationsnotwendige Verknüpfung mit demokratischen Verfahren. Die zentrale Frage lautet somit nicht nur, wie politische Entscheidungen der überstaatlichen Organisationsebenen an eine im Grunde ja „nur informell einflussreiche(n) Weltöffentlichkeit“ (Habermas 2004:141) rückgekoppelt werden, sondern wie politische Entscheidungen im Rahmen informeller Modi, mit dem politischen Publikum verkoppelt werden können. „Für die Demokratie müssten wie immer die Bürger und Bürgerinnen selbst sorgen …“ (Greven 1999: 171) Entscheidend für den Gang der Dinge bleibt die Tatsache, dass die „ununterbrochene Kette der Repräsentation“ von den Bürgern bis hin zu den die Herrschaft ausübenden politischen Eliten über den Grad der Vitalität politischen Handelns bestimmt.[2] Bricht diese Kette ab, ist die Informalisierung von Politik weniger eine Chiffre für eine realisierte Weltgesellschaft als ein Zeichen für die Emergenz einer „halbierten Weltstaatlichkeit“ (Brock 2007: 178).

    [1] Angesichts einer solchen makrodeterministischen, weitgehend an der Oberflächenstruktur von globalen Phänomenen verharrenden Theoriebildung rät Bruno Latour (2007: 315): „Wann immer jemand von einem „System“, einer „globalen Eigenschaft“ einer „Struktur“, einer „Gesellschaft“, einem „Imperium“, einer „Weltwirtschaft“, einer „Organisation“ spricht, sollte der erste (…) Reflex darin bestehen zu fragen: „In welchem Gebäude? In welchem Büro? Durch welchen Korridor erreichbar…?.“

    [2] Was die Demokratisierung supranationaler Instanzen, wie etwa die EU, betrifft, schlagen z. B. Beck/Grande (2004: 3352f.) die Einführung europaweiter Referenden vor, die von den Bürgern initiiert werden. Der Lösungsweg von Joerges (2008) sieht einen „deliberativen Supranationalismus“ vor.

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