Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 173: Religion und moderne Gesellschaft

Visuelle Glaubens­suche

Zwei Kunstausstellunen inzenieren Religion,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 71-80

Noch vor drei Jahren meinten die Kunsthistorikerin Carolin Meister und der Philosoph Knut Ebeling anlässlich der Ausstellung Warum! Bilder diesseits und jenseits des Menschen im Berliner Martin-Gropius-Bau, dass in Galerien, Ateliers, Kunsthallen und Museen weit und breit keine Religion zu finden sei. Die These vom Fortleben der Religion in der Kunst trotz Aufklärung und Moderne sei in weite Ferne gerückt (Meister/Ebeling 2003: 28). Im folgenden soll gezeigt werden, wie fragwürdig diese Aussage heute geworden ist. Im Gegenteil: Man kann vielmehr von einer Renaissance der Religion im zeitgenössischen Kunstbetrieb sprechen. Wenngleich im säkularisierten Kunstbetrieb der Glauben ein künstlerisches und kunsttheoretisches Thema unter vielen anderen ist, lässt sich doch vielfach seine wachsende Beliebtheit feststellen.
So fanden in den letzten Jahren zahlreiche Ausstellungen statt, die religiöse Themen und Motive aufgriffen: beispielsweise Altäre – Kunst zum Niederknien (2002) im museum kunst palast Düsseldorf, Heaven (1999) in der Kunsthalle Düsseldorf/Tate Gallery Liverpool, Corpus Christi (2004) im Internationalen Haus der Fotografie Hamburg, Die Zehn Gebote (2004) im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, Ansichten Christi (2005) im Wallraf-Richartz-Museum Köln, Bilderglauben (2005) in der Galerie Nord/Kunstverein Tiergarten Berlin oder Der Himmel auf Erden? (2005) in Potsdam.
In der Tages- und Fachpresse wurde die Wiederkehr der Religion, wie sie sich unter anderem in Konflikten um Kunstwerke und Ausstellungen äußerte, diskutiert. So fand im Jahr 2000 die Zerstörung der hyperrealistischen Papst-Skulptur von Maurizio Cattelan durch fundamental-katholische polnische Abgeordnete eine große Resonanz in den Medien: Der Künstler hatte in der Warschauer Nationalgalerie Zacheta Johannes Paul II. auf dem Boden liegend hyperrealistisch inszeniert – ein vom Himmel gefallener Meteorit hatte das Kirchenoberhaupt schwer getroffen. Nicht nur der Umstand, dass ausgerechnet der Mensch, dem eine besondere Verbindung zum Himmel nachgesagt wird, von oben einen Meteoriten geschickt bekam, sondern auch der Titel La Nona Ora erregte die Gemüter: in der neunten Stunde am Kreuz zweifelte Christus an seinem Herrn (Matthäus 27,46). Die Abgeordneten bemühten sich, den künstlichen Stein wegzurollen und zerstörten damit die Skulptur. Ähnliche Konflikte löste 1999 auch die mit Elefantendung und Zeitungsschnipseln aus Pornomagazinen verzierte schwarze Madonna von Chris Ofili in New York aus: Der New Yorker Bürgermeister Rudolph Guiliani stand damals an der Spitze des Protestes gegen die Ausstellung Sensation im Brooklyn Museum of Art, in dem die Arbeit des Künstlers gezeigt wurde. Der Protest mündete in einer Anzeige gegen das Museum und hatte ein juristisches Nachspiel.
Eine Vielzahl von Vorträgen und Tagungen, Kunstmessen und Ausstellungen in Galerien offenbaren gegenwärtig die Konjunktur religiöser Themen; auch für das Jahr 2006 künden zahlreiche geplante Ausstellungen und Tagungseinladungen davon.
Seit langer Zeit verbindet beide Sphären – Kunst und Religion – ein spezielles Verhältnis. Bis weit in die Neuzeit hinein stand die bildende Kunst zumeist im Dienst der Religion. Es war eine ihrer Hauptaufgaben, die religiösen Inhalte in Bilder zu fassen, um die christliche Lehre allen Schichten zugänglich zu machen. Mit der Aufklärung trennte sich die Kunst von der Religion und verselbständigte sich. Künstler sahen ihre Aufgabe nicht mehr darin, das Religiöse zu propagieren. Religion war nicht mehr zentraler Bestandteil künstlerischer Gestaltung; eine besondere Verbindung zur Kirche existiert heute nicht mehr (Messmer 2005: 15).
Wie verhält sich nun dazu die eingangs beschriebene Wiederkehr der Religion im Kunstbetrieb? Das soll anhand zweier Ausstellungen analysiert werden: Warum! Bilder diesseits und jenseits des Menschen (2003) in Berlin sowie Die Zehn Gebote (2004) in Dresden. In beiden Ausstellungen zeigten sich spezifische Formen von Religion im Kunstbetrieb: zum einen ein Verständnis von Religion als Moral und Wert, zum anderen die Fortführung einer älteren kunstreligiösen Haltung, wie sie in der Romantik und im bürgerlichen 19. Jahrhundert entwickelt worden war. In der Romantik kam es – gleichsam als Reaktion auf die Säkularisierung der Kunst – zu einer „Engführung“ von Kunst und Religion, die bis in die Gegenwart reicht; die romantische Verwandlung von Kunst-Erleben in religiöses Erleben gehört u.a. dazu. Seit dem 19. Jahrhundert existiert zudem eine „Sakralisierung“, also die Übertragung religiöser Begriffe und Formen auf nicht religiöse Bereiche (Bräunlein 2004: 23). Mit dem Bedeutungsverfall institutioneller Religion und damit auch institutionalisierter religiöser Kunst gehen also neue Konnotationen des Religiösen einher. Eine kunstreligiöse Wahrnehmung ist die Antwort auf den zunehmenden Funktionsverlust der historisch geprägten Religionen (Schipperges 2005).
Seit den 1990er Jahren fällt im Kunstbetrieb eine wachsende Selbstbefragung der christlichen Mehrheit auf. Dabei spielt, so die These, das Christentum im Vergleich zum Islam oder Judentum eine dominante Rolle; es herrscht demzufolge ein spezifisches Nachfrageinteresse vor bzw. wird bedient. Aufgrund des Ausschlusses anderer Religionsgemeinschaften in den beiden hier untersuchten Ausstellungen wird im folgenden auch die Singularform von Religion verwendet. Die Leitfragen lauten hier also: Was machen Kunstwerke im Hinblick auf Sinn, Werte, Religionen, Religiosität und Orientierung sichtbar? Was inszenieren und konstruieren die beiden Ausstellungen? Wird eine bestimmte Form von Religiosität über Kunst entwickelt? Welche Gruppen unserer Gesellschaft werden angesprochen?

Zurück zum Glauben?

Der Philosph Herbert Schnädelbach verwies kürzlich darauf, dass es sich bei der vermeintlichen Rückkehr der Religion in erster Linie lediglich um ein neuerliches Interesse an Religion handelt, das sich auf der kulturellen Nachfrageseite bemerkbar macht. Es gehe um ein rein funktionales Verständnis von Religion, bei dem primär Nützlichkeitsüberlegungen im Spiel sind. Religion diene als Mittel zum Zweck für ein empfundenes spirituelles sowie kulturhistorisches Vakuum, soll Orientierungsmaßstab sein für Beurteilungen und einstehen für alles, an dem es angeblich in der deutschen Gesellschaft mangelt. Dazu zählen beispielsweise Werte, Normen, Sinngebung und Nächstenliebe. Die Liste der existenziellen Fragen, die neuerdings unter Religion gefasst werden, ist lang. Bemerkenswert ist hierbei, dass weder eine traditionelle theologische Lesart noch eine alle Aspekte des Lebens umfassende, verbindliche Glaubensüberzeugung hoch im Kurs steht (Schnädelbach 2005).
Gefragt ist stattdessen Religion als Wert und Emotion, als eigenhändig zurechtgeschnittenes Paket, als das bereits Bekannte erweiterndes Erlebnisspektrum. Hier wird die Zeit- und Kulturgebundenheit des Religionsbegriffs deutlich, ebenso die Unterscheidung zwischen Religion im Allgemeinen und der Kirche als Institution. Das Bedürfnis eines „sich Zurückverbindens“, wie es die lateinische Ableitung des Wortes Religion von religari impliziert, findet also losgelöst von der institutionellen Seite statt.
Gründe für die von Herbert Schnädelbach angeführte verstärkte, christliche Nachfrageseite nach Religion im Sinne von Werten und Sinnstiftung mag das Gefühl von Entfremdung gegenüber dem Christentum sein. In diesem Zusammenhang erscheint auch Gabriele Werners Beobachtung interessant, wonach auch die Fähigkeit, christliche Ikonographie zu lesen, weitgehend verloren gegangen sei (Werner 2003: 38). In Katalogen, kunstwissenschaftlichen Zeitschriften und Ausstellungstexten lassen sich weitere Erklärungen finden: Die Aufmerksamkeit von Künstlern, Galeristen und Kuratoren sei aufgrund aktueller politischer Ereignisse wie beispielsweise das Erstarken von religiös-fundamentalistischen Strömungen im Islam verstärkt auf religiöse Fragestellungen gerichtet. Wurde in den 1980er Jahren über das Thema „Religion“ zunächst noch nicht gesondert vom „Kultur-Diskurs“ gesprochen, änderte sich dies in den 1990er Jahren durch eine Reihe von Kontroversen und Ereignissen, welche die Sprengkraft von Religion verdeutlichen. Hierzu zählt sicherlich der Anschlag auf das World Trade Center 2001, durch den Religion eine neue und „gefährliche“ Dimension erhielt, sowie die Ermordung des Filmregisseurs Theo van Gogh in den Niederlanden. Der Wunsch nach einer christlichen Selbstbefragung scheint auch durch die steigende Wahrnehmung einer anderen religiösen Gruppe in Europa und Deutschland ins Zentrum zu rücken. So werden Muslime in Deutschland beispielsweise sichtbarer, seitdem der muslimischen Gemeinschaft Ende der 1980er Jahre deutlich wurde, dass sie für längere Zeit in Deutschland sein würde und die seit den 1950er Jahren eingereisten Migranten nicht in ihre Heimatländer zurückkehren würden (Heine 2000: 47). Hieß es noch vor einiger Zeit, dass die Geschichte der verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften, die seit der Arbeitsmigration in der Bundesrepublik leben, zu jung sei, um museal repräsentiert zu werden (Held 2004: 13), scheint sich hier eine Veränderung zu vollziehen, wie die jüngste Ausstellung im Kölner Kunstverein unter dem Titel Projekt Migration belegt.

Warum! – die Überreste des Chris­ten­tums in der Kunst

Die Kunstausstellung Warum! Bilder diesseits und jenseits des Menschen wurde 2003 anlässlich des ersten ökumenischen Kirchentages im Berliner Martin-Gropius-Bau von der Guardini-Stiftung und der Stiftung St. Matthäus ausgerichtet. Von Mai bis August 2003 zeigte die Schau 36 internationale Künstlerinnen und Künstler, die von den Kuratoren und Kunsthistorikern Friedrich Meschede, Leiter des Berliner Künstlerprogrammes des DAAD, und Matthias Flügge, Vize-Präsident der Berliner Akademie der Künste, ausgesucht worden waren. Die Ausstellung beschäftigte sich mit dem Weiterleben der christlichen Symbole und Inhalte und fragte, wie sich in einer säkularen Gesellschaft Religion manifestiert. Motivation für diese Themensetzung waren aktuelle ethische Diskussionen, die um die Frage nach dem Menschenbild kreisten. Hier wurde von den Kuratoren beispielsweise auf die Debatte um die Gentechnik und das Klonen des Menschen verwiesen. Die Ausstellung ignorierte ganz bewusst aktuelle Debatten wie die um die Globalisierung und bemühte sich vielmehr um eine okzidentale Selbstbesinnung – in diesem Fall für die westlichen/deutschen Christen, da die Ausstellung anlässlich des ersten ökumenischen Kirchentages entstanden war und sich daher auch an ein spezifisches Publikum richtete. Darüber hinaus sollten jedoch vor allem kunstinteressierte Besucher angesprochen werden. In Warum! waren durchgängig Kunstwerke ausgestellt, die nicht per se christlich waren. Die teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler entstammten größtenteils dem christlichen Kulturkreis. In der Ausstellung, so schien es, waren „die Anderen“ damit indirekt Anlass und die unsichtbare Fläche für die Selbstbefragung. In dieser Ausstellung fand sich die von Schnädelbach genannte Definition von Religion als Moral und Sinnstiftung wieder: Die Kuratoren setzten Religion hier mit existenziellen Fragen gleich; heutige Künstler und Künstlerinnen, so die Botschaft, setzen sich noch immer mit „religiösen“, also existentiellen Fragen auseinander.
Als Beispiel stand dafür eine Videoarbeit der 1911 geborenen Louise Bourgeois The five questions (2003), die fünf Fragen nach dem Sinn des Lebens stellte (u.a.: „Wer hat Tag und Nacht erschaffen?“, „Warum sind wir auf der Welt?“). Die Stimme erklang im Raum, während gleichzeitig die Fragen nach dem Sinn des Lebens in roten Lettern an die Wand projiziert wurden. Einige Werke kreisten um grundlegende Fragen wie Tod, Selbstbilder und Menschenbilder. Thomas Schütte etwa gestaltete einen Raum als Andenken an seinen verstorbenen Freund, den Düsseldorfer Galeristen Konrad Fischer. Er präsentierte neben Zeichnungen und Aquarellen zwei überdimensionale, leuchtend farbige Keramiken, die in der Tradition der Totenmaske die Gesichtszüge des Freundes zeigten. Als Beispiel für Sinnsuchende stand auch Jonathan Meese, der als „Idolforscher“ schlechthin gilt. In seinem leidenschaftlichen Gesamtwerk ergründet er Ideologien und ihre Träger – von Nero und Dr. No über Claudia Schiffer und Napoleon ist alles an wirkungsmächtigen Gestalten der Geschichte und Gegenwart in seinen inszenierten Kultstätten dabei. In der Ausstellung war er mit einem 370 x 1000 cm großen Triptychon vertreten, auf dem neben einer Kreuzdarstellung einige der ehemals Angebeteten wie Richard Wagner und Hitler ihren Auftritt hatten. Sein Altarbild bildete ein apokalyptisches Szenario ab: saugende, parasitäre Wesen und gehäutete Körper bewegten sich um das lebensbaumartige Kreuz, an das eine wurmähnliche Figur – betitelt als Staatsgottheit – angeschlagen war.
Wenngleich hier schon ein blasphemischer Zug anklingt, war den Organisatoren der Ausstellung wichtig, dass in dieser Schau keine Kritik an der Institution Kirche geübt wurde. Es sollten zwar künstlerische Positionen gezeigt werden, die Widerspruch generierten, jedoch empfanden Meschede und Flügge provokative und blasphemische Arbeiten als zu simplifizierend. Bemerkenswert ist die Gleichsetzung von Kunst und Religion in der Ausstellung, wenngleich die Macher postulierten, dass die Kunstwerke auf Sinnfragen keine Antwort geben können. Friedrich Meschede zufolge ähneln sich Kunst und Religion in ihrer gemeinsamen Suche nach Antworten (Meschede 2005). In der Annahme eines gleichen Ursprungs von Kunst und Religion wurde die Kunst unter das Postulat „Auch im Profanen ist Religiöses eingeschrieben“ gestellt. Diese Idee verkennt allerdings, dass es auch nicht-religiöse, nicht religiös inspirierte Kunst gibt (Kamel 2004: 101f.).
Der Gestus der Romantik, der das Ziel verfolgte, Religion zur Kunst, Kunst zur Religion und den Künstler zum Priester zu erheben, zeigte sich in Warum! insbesondere in der Inszenierung des Hauptwerkes der Ausstellung, dem Triptychon des amerikanischen Malers Willem de Kooning. In der Inszenierung wurden zum ersten Mal der Entwurf und die letztendliche Ausführung zusammengebracht. De Kooning hatte 1985 ein dreiteiliges Altarbild für die progressive lutherische St. Peters-Kirche in New York als Auftragsarbeit entworfen. Obwohl der Künstler es der Kirche stiften wollte, lehnte die Gemeinde aus verschiedenen Gründen ab. Der Hauptgrund war die Abstraktion des Bildes. De Kooning hatte in seinem späten Werk die Figur mehr und mehr zu Gunsten eines durchlichteten Liniengewebes verschwinden lassen. Die Gemeinde empfand dies als bloßen Ausdruck einer privaten Theologie, als eine zu individuelle, nicht verbindliche Auslegung von Religion (Meschede/Flügge 2003: 15). Obwohl die Gläubigen den Entwurf ablehnten, realisierte de Kooning das Altarbild, das jedoch nie in eine Kirche gelangte, sondern in einer amerikanischen Kunstsammlung aufbewahrt wird.
Diese Arbeit zählte zu den wenigen religiösen Werken, die in der Ausstellung zu sehen waren – was die Inszenierung des Altarbildes dort erklären mag: Der größte Raum des Ausstellungsrundgangs, der Schliemann-Saal des Martin-Gropius-Baus, verlieh den sechs Tafeln eine eindrückliche Aura. Auf einer extra gefertigten Wand wurde das für den Altarraum geplante Werk in Gegenüberstellung zu einer Videoarbeit von Anri Sala gesetzt. Das Video Uomoduomo (2001) zeigte einen schlafenden Obdachlosen in einer Kirchenbank des Mailänder Doms. Indem das Video dem Altarbild gegenübergestellt wurde, entstand ein virtueller Kirchenraum. Die Sitzbänke des Mailänder Doms ließen sich so in der Vorstellung bis zum Triptychon vorziehen. Die Höhe des Raumes unterstrich diese Kirchenatmosphäre.

Kunst­re­li­giöse Insze­nie­rungs­ele­mente in der Warum!-Ausstel­lung

Die gezeigten Kunstwerke waren etablierte Positionen im Kunstbetrieb; ihre Inszenierung im White Cube erinnerte an die europäische Idee vom „Meisterwerk“. Es drängte sich der Eindruck auf, dass insbesondere ein Kunstkenner- und Intellektuellenpublikum angesprochen werden sollte: ein Bildungserlebnis für bestimmte Schichten/Milieus. Eine „spröde“ und sachliche Inszenierung sollte sich gegen mögliche Rezeptionsweisen sperren, wie etwa der religiösen Praxis (Niederknien und Beten) vor den Kunstwerken (Meschede 2005). Die ästhetische Präsentationsform, die in der Warum!-Ausstellung gewählt wurde, ließ die Konstruiertheit von Wahrnehmung unberücksichtigt und setzte universale Sichtweisen und Gefühle voraus (Kamel 2004: 102). Dass es sich bei „Heiligkeit“ oder „Schönheit“ um Zuschreibungen handelt, die Fähigkeit, etwas ästhetisch oder religiös zu erfahren, demzufolge allein von der Empfindsamkeit des Betrachters abhängt und Hintergrundwissen nötig ist, wurde nicht genügend in der Konzeption der Ausstellung bedacht. Mit einem elitär-bildungsbürgerlichen Ansatz von Kunst wurde hier bewusst gearbeitet, was sich auch am Assoziativen des Ausstellungskonzeptes (keine thematischen Sektionen oder eine festgelegte Laufrichtung) sowie den fehlenden inhaltlichen Orientierungsangeboten zeigte. Der kuratorische Appell an die Besucherinnen und Besucher, sich den Kunstwerken eigenständig zu nähern, wirkt in diesem Zusammenhang wie eine Phrase.
Die Ausstellung Warum! spiegelte die gesellschaftliche Suche nach Sinnstiftung und Wertorientierung sowie den Überresten des Christentums wider. Im Selbstbild ihrer Ausstellung sahen die Kuratoren ihre Schau in Distanz zu den christlichen Kirchen verortet (Meschede 2005). Zwar thematisierten sie ihr Verhältnis zur Institution und auch das der Künstlerinnen und Künstler. In der Außenwahrnehmung entstand jedoch der Eindruck, dass auch künstlerische Kritik an der Kirche eher zu deren Fortbestand beiträgt, als inhärenter Bestandteil des christlichen Denkmodells. Wenngleich die Künstlerinnen und Künstler um den Verlust des Christentums nicht zu trauern schienen – als Beispiel sei hierfür Florian Slotawas leichtfüßige raumfüllende Möbelinstallation angeführt, in der er Dinge des Alltags (Kühlschrank, Stühle, Auto) zur Nachstellung der Verkündigungsszene verwendete –, schwang in der Ausstellung die Trauer um den Bruch von Kunst und Kirche mit. Kirche und Kunst sollten wieder zusammengeführt werden. Interessant ist auch hier der traditionelle, fast negative Kirchenbegriff, der doch eine indirekte Kirchenkritik offenbarte: Den Kirchen (bis auf wenige individuelle Ausnahmen) gelänge es nicht, die Gegenwartskunst wertzuschätzen, ihre Intensität zu erkennen und ihr Potential für eine Zusammenarbeit in Form von Auftragswerken zu nutzen (ebd.). Hierfür stand unter anderem das abgelehnte Altarbild von de Kooning. Als Gegenpol wurde hier die zeitgenössische Kunst ins Feld geführt, die als innovativ definiert wurde. Dieses Bedauern über die Entfremdung von Kunst und Kirche übersah, dass womöglich in der vermeintlichen, aktuellen Rückkehr der Religion etwas Neues vorliegt, das in seinen Ausformungen womöglich noch nie da gewesen und allein schon deshalb originell ist.
Die Bestandsaufnahme der Warum!-Ausstellung fragte nicht, ob die Veränderung des Verhältnisses von Kunst und Kirche auch eine Chance beinhalten würde. Im Ergebnis der Ausstellung standen Gegenwartskunst und Kirche weit von einander entfernt. Ausgangspunkt der Schau war jedoch, dass gezeigt werden sollte, wie heutige Bilder durchaus noch in Verbindung zum Christlichen stehen und mit den Kirchen eine Allianz bilden könnten. Die totale Loslösung der Kunst von ihren kirchlichen Auftraggebern, den christlichen Inhalten und ihrem Verkündigungsauftrag hat sich im 20. Jahrhundert vollzogen. So stellten die präsentierten Kunstwerke kein Glaubenszeichen dar, sondern brachten eher allgemein Menschliches zum Ausdruck. Kritisches klang im Katalogtext durch: Die Künstler wollten von komplexen, theologischen Inhalten nichts mehr wissen, wenngleich auch eine Kontinuität der Auseinandersetzung mit Sinnfragen zu verzeichnen sei (Meschede/Flügge 2003: 14). Anhand einzelner Arbeiten wurde aber deutlich, wie stark einige Künstlerinnen und Künstler auf der Suche nach einer christlichen Verankerung waren. Beispielsweise wandte sich Gerhard Richter – erstmals und bislang einmalig – einer christlichen Thematik zu und setzte sich in drei Tafeln mit der Verkündigungsszene auseinander. Die Auflösung des Motivs ins Abstrakte versinnbildlichte in Verkündigung nach Tizian (344-1-3) (1973), dass es sich bei der Begegnung zwischen Maria und dem Engel um einen spirituellen Moment handelte.

Die Zehn Gebote – Moralische Orien­tie­rung im Zeitalter der           Globa­li­sie­rung

Die im Dresdner Hygiene-Museum von Juni bis Dezember 2004 ausgerichtete Ausstellung Die Zehn Gebote führte bereits in ihrem Untertitel die zentralen Schlagworte an: Politik-Moral-Gesellschaft. Anhand der Arbeiten von 69 internationalen Künstlerinnen und Künstlern fragte die von Klaus Biesenbach kuratierte Präsentation konkret nach der Relevanz der Zehn Gebote in Zeiten der Globalisierung. Darüber hinaus stand allgemein die Bedeutung der Moral und die Orientierung des Individuums im Mittelpunkt. Insgesamt wurden über hundert Kunstwerke gezeigt, die alle in Auseinandersetzung mit ethischen Prinzipien entstanden waren. Die Dresdner Einrichtung als „Museum vom Menschen“ hatte bislang eher kulturhistorische Ausstellungen von Hirnforschung bis Gentechnologie realisiert, die an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Alltagswelt angesiedelt waren – reine Kunstausstellungen hatte es zuvor hier nicht gegeben. Also musste man hier weniger mit einem dezidiert kunstinteressiertem Publikum rechnen, andere Bevölkerungsschichten waren hier erreichbar.
Zunächst war für das Thema Die Zehn Gebote auch eine kulturhistorische Herangehensweise geplant. Jedoch stellte sich für die Ausstellungsmacher relativ schnell heraus, dass so ein Vorhaben als moralischer Fingerzeig wirken würde. So entschied man sich auf zeitgenössische Kunst zurückzugreifen, um über diese Thematik mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen. Daraus mag sich auch die Wahl der gewählten Medien erklären: Auffällig waren die vielen Video-, Film- und fotografischen Arbeiten, die einen dokumentarischen Realismus verkörperten. Hier verschwammen die Grenzen zwischen Realität und künstlerischer Realität (Behrmann 2004). Die gezeigten Kunstwerke wiesen einen hohen Narrationsgrad auf, waren insofern durch die anekdotischen Geschichten, die sie erzählten, leichter zugänglich. Hinzu kam, dass ausführliche Labels Deutungsangebote für die Besucherinnen und Besucher bereithielten, die die Präsentationsform des White Cube abschwächte. Jedes der Kunstwerke war einem der Zehn Gebote zugeordnet, die Ausstellung war somit in mehrere thematische Sektionen unterteilt. Trotz der Aufteilung in einzelne Kapitel und einer mehr oder weniger vorgegebenen Laufrichtung, herrschte hier ein eher offeneres Konzept vor, da einige Räume ineinander über gingen. Ein kulturhistorischer, in rot gehaltener Raum war dem Ausstellungsrundgang vorgeschaltet. Hier waren beispielsweise Martin Luthers Handexemplar der hebräischen Bibel von 1494 sowie eine Torarolle aus Mitteldeutschland um 1800 ausgestellt. In einem der gesamten Ausstellung vorangehenden politischen Einführungsbereich wurden zahlreiche Zahlen und Weltstatistiken visuell umgesetzt. Elf bunte, großformatige Weltkarten informierten über globale Zustände im Hinblick auf Drogenhandel, Religionskriege, Arbeit und Freizeit, Sexualität u.a. Auch in dieser Ausstellung wurden keine religiösen Arbeiten gezeigt. Die meisten wurden bereits vorher in einem anderen Kontext vorgestellt und waren somit im Gegensatz zu einigen Werken der Warum!-Ausstellung keine Auftragsarbeiten. Einhergehend mit der globalen Fragestellung waren auch tatsächlich Künstler und Künstlerinnen aus allen Teilen der Welt vertreten.
Viele der gezeigten Kunstwerke thematisierten die Übertretung eines Gebotes. Beispielsweise zeigten die Fotografien von Boris Michailov unter dem Gebot Du sollst deine Eltern ehren einen ukrainischen Straßenjungen, wie er seine alkoholkranke obdachlose Mutter mit Fäusten traktierte. Die positive Einhaltung eines Gebotes wurde nur in wenigen Arbeiten aufgegriffen, unter anderem von Aleksander Sokurov, der in seinem Film Mutter und Sohn (1997) zeigt, wie ein Sohn bei seiner Mutter liebevolle Sterbebegleitung leistet.
Verdienstvoll war die Erweiterung und Anpassung der Zehn Gebote an eine veränderte globale Situation in der Ausstellung. Der Nächste sei nicht mehr nur in unmittelbare Nähe zu finden, sondern aufgrund der verkürzten Distanzen auch eine Afrikanerin Nächste ist. Die Schau erweiterte auch das Gebot Du sollst nicht ehebrechen und griff den westlichen Sextourismus und Umgang mit Sexualität auf. Beispielsweise präsentierte der algerische Künstler Adel Abdessemed eine Videoarbeit mit dem Titel „Real Time“, welche zehn Paare vor einem applaudierendem Publikum kopulierend in einer Mailänder Galerie zeigte. Der Künstler hatte per Zeitungsanzeige Menschen gesucht, die bereit waren, sich sexuell im öffentlichen Raum zu betätigen. Die Künstlerin Dayanita Singh zeigte Schwarzweißaufnahmen, welche die Lebensumstände von minderjährigen Sexarbeiterinnen in indischen Großstädten reflektieren.
Die Ausstellung generierte eine Diskussion über die Grenzen einer Kunstausstellung und regte eine Debatte darüber an, was in der Kunst erlaubt und was untersagt ist. Dazu zählte insbesondere eine Arbeit der Künstlerin Teresa Margolles Lengua (Zunge) (2000). Die Künstlerin präsentierte eine dunkle, gepiercte, geschrumpfte Zunge eines Teenagers, der in einem Straßenkampf in Mexiko ums Leben gekommen war. Die Künstlerin hatte dieses Körperteil bei den verarmten Eltern des Jungen gegen die Übernahme der Kosten für seine Beisetzung und Grabstelle eingetauscht. Dieses Objekt wurde unter dem Gebot Du sollst nicht stehlen eingeordnet, da die Künstlerin ihr Handeln selbst moralisch als Diebstahl bezeichnete. Einige Publikumsstimmen formulierten denn auch ein Bedürfnis nach Grenzen und Regeln im Ausstellungsraum und in der Kunst: So war im Besucherbuch zu lesen, dass die Zunge eines toten Jungen „in solch einer Ausstellung einfach nur falsch und traurig“ sei. Es drängte sich im Gespräch mit den Machern der Ausstellung der Eindruck auf, dass die Künstlerinnen und Künstler vor kritischen Nachfragen geschützt wurden und rasch das unantastbare Label „Das ist doch Kunst“ herausgeholt wurde. Mit ihrem Verweis auf die Kunst als Kunst entließ die Ausstellung sich selbst aus der Verantwortung (Sommer 2004).
Stärker als die Warum!-Ausstellung hatte die Dresdner Präsentation den Anspruch zu provozieren und arbeitete daher gezielt mit den Emotionen der Besucher (Sommer 2004). Das Besucherbuch offenbart, wie berührt das Publikum war: von „Betroffenheit“, „Beeindrucktsein“, Anstoß für Toleranz und das „Beschreiten spezifischer Lebenswege“ ist die Rede. Das Bedürfnis nach Grenzen des anything goes der Postmoderne ist hier deutlich zu spüren. Die Ausstellungstexte selber waren sehr moralisierend formuliert. Die Erklärungstafeln mit konkreten Interpretationsangeboten waren Ausdruck des kuratorischen Versuchs, die Reaktionen der Besucherinnen und Besucher zu steuern. Diese fühlten sich dadurch jedoch eher eingeengt.
Daneben gab es andere bemerkenswerte Aspekte: Am Anfang der Ausstellung waren die Zehn Gebote noch die inhaltliche Klammer, die sich jedoch mehr und mehr in der Ausstellung verlor. Das spezifisch Religiöse, wie es eingangs durch den Verweis auf das Judentum, den Islam und das Christentum noch verherrschte, verschwand. So blieb unklar, vor welchen religiösen Hintergründen die jeweiligen Arbeiten entstanden waren. Interreligiöse, hybride Religions- oder Ethikzusammenhänge wurden nicht problematisiert, unterschiedliche Ethikbegriffe oder andere Differenzen nicht reflektiert. Die zunächst vorgenommene historische Verankerung wurde verschenkt. Die Ausstellung selbst führte weg von der Fragestellung. Dies mag jedoch der Kompliziertheit des Vorhabens geschuldet sein, wie Carolin Behrmann anführt, da der Dekalog als Kern jüdischer, islamischer und christlicher Ethik und Gesetzgebung, in seiner Geschichte und Auslegung Interpretationsarbeit und Wissen erfordere und theologischer, rechtshistorischer und historischer Hinweise bedürfe. Allerdings bleibt laut Behrmann die Frage, ob dies eine Kunstausstellung überhaupt leisten kann (Behrmann 2004).
Das Fragmentarische der Ausstellung trat hier anders auf als in der Warum!-Ausstellung. Die Zehn Gebote-Schau wirkte unnahbar, da das angestrebte Untersuchungsfeld in seiner ganzen Spannweite von Theorie, Dokumentation und ästhetischer Fiktion bis die an Kontext und Geschichte gebundenen Fragen der Ethik durch eine reine Nebeneinanderstellung von Gebot und Kunstwerk nicht genügend beantwortet wurde (ebd.).

Kunst und Glauben

Das Religiöse scheint in den westlichen Gesellschaften wieder an Bedeutung zu gewinnen – und dadurch wird es auch zum Thema von Ausstellungen. Doch die gegenseitige Entfremdung zwischen Kunst und Religion ist nach wie vor sichtbar; ihre Ursache liegt in der Weigerung der bildenden Kunst, kirchliche Repräsentationsleistungen zu erfüllen. Auffällig ist, dass Künstlerinnen und Künstler sich dem Thema Religion meist fern vom Kontext der Kirchen, eher in Zusammenhang mit ästhetischen Problemen stellen. Die Auseinandersetzung mit religiösen Fragen zerfällt in individuelle Herangehensweisen. Viele Werke greifen heute auf die Bildtradition religiöser Inhalte zurück, ohne explizit religiöse Inhalte zu vermitteln. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass die Kunst – nach wie vor – selbst überhöht wird: trotz der Autonomisierung der Kunst im Laufe der Jahrhunderte ist ihr die Aura des Göttlichen haften geblieben (Messmer 2005: 15). Umgang mit Kunst wurde vielfach zur Ersatzreligion, wofür die Warum!-Ausstellung ein Beispiel war: Kunstpräsentation und die Überhöhung von Künstlern nimmt quasireligiöse Formen an; eine Ausstellungsinszenierung führt die alte, eigentlich doch so ferne Kunstreligion in der Gegenwart fort.
 
 
Literatur  

Behrmann, Carolin 2004: Zur Ausstellung Die Zehn Gebote. Politik – Moral – Gesellschaft. Internationale Kunstausstellung. Deutsches Hygienemuseum Dresden. 19. Juni – 5. Dezember 2004; http://www.arthist.net/DocExpoD.html [28. Dezember 2005]
Biesenbach, Klaus (Hg.) 2004: Die Zehn Gebote. Eine Kunstausstellung, Ostfildern-Ruit
Bräunlein, Peter J. 2004: „Zurück zu den Sachen!“. Religionswissenschaft vor dem Objekt. Zur Einleitung; in: Religion und Museum. Zur visuellen Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum, hg. v. Peter J. Bräunlein, Bielefeld, S. 7-53
Ebeling, Knut/Meister, Carolin 2003: Postsäkulare Paradiese. Kunst im Reich der Unähnlichkeit; in: warum! Bilder diesseits und jenseits des Menschen, hg. v. Matthias Flügge und Friedrich Meschede, Ostfildern-Ruit, S. 28-37
Flügge, Matthias/Meschede, Friedrich 2003: Warum warum! Zur Ausstellung; in: warum! Bilder diesseits und jenseits des Menschen, hg. v. Matthias Flügge und Friedrich Meschede, Ostfildern-Ruit, S. 12-19
Heine, Peter 2000: Islam in Deutschland – Deutscher Islam; in: 7 Hügel. Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts, V) Glauben. Weltreligionen zwischen Trend und Tradition, hg. v. Bodo-Michael Baumunk und Eva Maria Thimme, Berlin, S. 46-52
Held, Jutta 2004: Jüdische Kunst im 20. Jahrhundert und die Konzeptionen der Museen. Zur Einführung; in: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 6 (2004), S. 9-17
Kamel, Susan 2004: Museen als Agenten Gottes oder 0:0 unentschieden?; in: Religion und Museum. Zur visuellen Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum, hg. v. Peter J. Bräunlein, Bielefeld, S. 97-118
Meschede, Friedrich 2005: Interview mit der Autorin am 19. Dezember 2005
Messmer, Dorothee 2005: Die Kunst und das Überirdische; in: Gott sehen, hg. v. Dorothee Messmer/Markus Landert, Sulgen/Zürich 2005, S. 11-25
Schipperges, Thomas 2005: Rezension Stephenson, Gunther: Kunst als Religion. Europäische Malerei um 1800 und 1900. Würzburg 2005; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-080 [11. Februar 2006]

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