Publikationen / vorgänge / vorgänge 190: Die Erosion der Demokratie

Blockiert durch Komple­xi­tät?

Demokratie in Mehrebenensystemen föderaler und transnationaler Politik;

aus: vorgänge Nr. 190, Heft 2/2010, S. 64-72

Der Staat kehrt zurück, aber die Demokratie leidet. So kann man die Folgen der jüngsten Finanzmarktkrise auf einen knappen Nenner bringen. Regierungen westlicher Staaten können durch koordiniertes Handeln in wirtschaftliche Abläufe eingreifen, selbst wenn diese Staatengrenzen überschreiten. Aber sie scheinen in ihrem Handeln weniger dem Willen der Bürgerinnen und Bürger zu folgen als vielmehr den Zwängen der Krisen und der Dynamik internationaler Verhandlungen. Entscheidungen werden als alternativlos präsentiert und von Parlamenten unter Zeitdruck ratifiziert. Kritische Diskussionen in Parteien und Verbänden bleiben dann folgenlos. Wenn kurzfristig keine Entscheidungen getroffen werden, stilisieren Medien Politik als Dauerstreit, ohne den Wählerinnen und Wählern zu vermitteln, wer wofür verantwortlich ist. Nicht nur die globalen Märkte, sondern auch Politik erscheint so komplex geworden zu sein, dass demokratische Willensbildungs- und Kontrollverfahren nicht mehr funktionieren können.

Die jüngste Finanzkrise hat nur ein strukturelles Problem der Demokratie verschärft und dadurch augenfällig gemacht, dessen Ursachen im gesellschaftlichen Wandel und in der Entwicklung von Mehrebenensystemen der Politik liegen. Diese Veränderung beobachten wir schon seit Längerem, und Komplexität der Politik ist alles andere als ein neues Thema. Schon vor etwa 40 Jahren entfaltete sich in der deutschen Sozialwissenschaft eine Kontroverse um diese Problematik (Luhmann 1969; Naschold 1972; Scharpf 1970). Seinerzeit schon erkannte man, dass Regieren ein hohes Maß an Fachwissen und Urteilsfähigkeit sowie die Berücksichtigung vieler Interessen erfordert, weshalb Ansprüche auf umfassende Bürgerbeteiligung die Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigen können.

Ohne Zweifel kann Demokratie durch Komplexität gefährdet werden. Allerdings bietet nur ein demokratisches Regierungssystem die Chance, Politik so zu organisieren, dass die Komplexität von gesellschaftlichen Problemen und aus ihnen folgenden öffentlichen Aufgaben in Verfahren bewältigt werden kann. Es kommt also darauf an, diese Qualität demokratischer Systeme zu begreifen, um sie dann durch geeignete Reformen zu verbessern. Viele Vorschläge zur Demokratiereform laufen dagegen auf eine Vereinfachung der politischen Strukturen und Prozesse hinaus. Sie stiften mehr Schaden als Nutzen. Statt einfacher Reformmodelle benötigen wir daher zunächst eine Aufklärung der Demokratietheorie und – wie Michael Greven zu Recht betonte (Greven 1999: 221232) – eine entsprechende politische Bildung, um Demokratie zu stabilisieren und zu revitalisieren.

Komplexität des Politischen

Jede Demokratietheorie muss mit der Analyse der Herausforderungen und Probleme beginnen, die sich aus der Komplexität des Politischen ergeben. Gemeint ist damit die Differenzierung, Interdependenz und Dynamik gesellschaftlicher und politischer Strukturen. Als zunehmend komplex erweisen sich Entscheidungsgegenstände (policies), Konfliktstrukturen (politics) und Entscheidungsstrukturen (polity).

Dass gesellschaftliche Probleme in der Moderne komplex geworden sind, muss nicht weiter begründet werden. In entwickelten Gesellschaften verfügen Menschen über vielfältige Optionen, ihre Ziele und Interessen zu verwirklichen, erzeugen durch ihr Handeln aber auch Folgen, die sie nicht einkalkulieren oder nicht intendieren. Die technologische Entwicklung hat zu beschleunigten Veränderungen geführt, wobei ökonomische, ökologische oder politische Krisen rasche Umbrüche in weiten Teilen der Welt auslösen können. Politik muss Folgen des Klimawandels, des Wandels der Bevölkerungsstruktur, von Börsenspekulationen oder des internationalen Terrorismus bewältigen, die durch vielfältige, nur bedingt beherrschbare Faktoren verursacht sind. Wurde in den 1970er Jahren noch über die Regierbarkeit in Staaten diskutiert, stellt sich heute das Problem der Regierbarkeit in globalen Zusammenhängen oder transnationalen Gesellschaften.

Der beschleunigte gesellschaftliche Wandel wirkt sich auf die politische Strukturierung von Gesellschaften aus (Bartolini 2005). Duale Konfliktstrukturen, die im Zeitalter der Industrialisierung entstanden und sich verfestigten, haben sich inzwischen aufgelöst. Soziologen beobachten eine Individualisierung von Gesellschaften, in der Interessen instabil geworden sind und die Bereitschaft zur kollektiven Interessenvertretung abgenommen hat. Gleichzeitig haben sich Interessenverbände und Parteien ausdifferenziert, wobei sie mehrere überlappende Konfliktlinien konstituieren. Wirtschaftliche und soziale Interessen lassen sich kaum mehr auf den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital reduzieren. Hinzugekommen sind funktionsbezogene und territoriale Interessenkonflikte. Entsprechend hat sich die Zahl der Parteien in Parlamenten und der Organisationen, die an der politischen Willensbildung mitwirken, erhöht.

Komplexer geworden sind schließlich die Entscheidungsstrukturen in Regierungssystemen. Eine Ursache dafür liegt in der funktionalen Differenzierung von Regierungs- und Verwaltungsorganisationen, die angesichts der Interdependenzen zwischen Aufgabenfeldern mehr Koordination zwischen Funktionsbereichen erfordert. Darüber hinaus müssen immer mehr Entscheidungen zwischen Zuständigkeitsräumen ausgehandelt werden, sei es innerhalb von territorial differenzierten Staaten oder zwischen Staaten.
Regieren überschreitet die Grenzen etablierter staatlicher Institutionen und findet immer mehr in Mehrebenensystemen statt.

Für die Demokratie ergeben sich daraus drei zentrale Probleme: Erstens erzeugen politische Entscheidungen vielfach unintendierte Effekte oder sie lösen Wirkungen aus, die nicht direkt auf Regierungshandeln zurückgeführt werden können. Unter diesen Bedingungen lassen sich gute und schlechte Politik nur schwerlich unterscheiden. Zweitens werden Entscheidungsverfahren für die Bürgerinnen und Bürger zunehmend intransparent, weil viele Akteure mitwirken und Entscheidungen ausgehandelt werden, wobei regelmäßig Experten oder Vertreter organisierter Interessen involviert sind. Minister oder Verwaltungsbeamte, die für bestimmte Aufgabenbereiche zuständig sind, können wegen der Mitentscheidung anderer Akteure leicht Verantwortung für Politikergebnisse abwälzen. Drittens können bei Entscheidungen, die über Zuständigkeitsräume von Staaten oder regionalen bzw. lokalen Gebietskörperschaften hinauswirken, nicht alle Betroffenen mitwirken oder zuständige Regierungen zur Rechenschaft ziehen. Demokratische Selbstbestimmung des Volkes funktioniert nur noch begrenzt, wenn Räume der Willensbildung, der Entscheidung und der Wirkung von Politik nicht kongruent sind.

Die direkte Verantwortungs- und Kontrollbeziehung zwischen Amtsinhabern, die politische Entscheidungen treffen, und denen, die von Entscheidungen betroffen oder als Bürgerinnen und Bürger an ihnen beteiligt sind, ist also durch die Komplexität des Politischen gestört. Damit ist eine fundamentale Voraussetzung von Demokratie in Frage gestellt, die es ermöglicht, dass Regieren auf den Willen eines „demos“ zurückgeführt und somit legitimiert werden kann.

Irrwege der Komple­xi­täts­re­duk­tion

Diese Probleme der Demokratie werden in Wissenschaft und Praxis schon seit längerem diskutiert. Aufmerksamkeit erregen dabei vor allem Vorschläge, die darauf gerichtet sind, den gordischen Knoten der Problematik zu durchschneiden und Komplexität zu reduzieren. Solche Empfehlungen sind aber entweder nicht realisierbar, sie gehen an den eigentlichen Herausforderungen vorbei oder reduzieren im Endeffekt die Demokratiequalität.

Angesichts der komplexen Entscheidungsprobleme sowie der transnationalen und sektoralen Verflechtung von Aufgaben plädieren manche Theoretiker für eine deliberative Demokratie (Dryzek 2002). Sie erhoffen sich von der Beteiligung möglichst aller Betroffenen bzw. ihrer Vertreter sowie von Verhandlungen, die sich am Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses orientieren, dass sowohl die Qualität von politischen Entscheidungen als auch ihre Akzeptanz zunehmen. Deliberation hat dabei den Vorteil, dass sie institutionelle und territoriale Grenzen überschreiten kann. Bei komplexen Aufgaben, zumal wenn sie unter Zeitdruck und Unsicherheit bewältigt werden müssen, stellt sich aber das Problem der Entscheidungsfähigkeit. Praktische Beispielsfälle für deliberative Verfahren zeigen zudem, dass in ihnen in der Regel Experten dominieren, weil sie an Wissen und Argumentationsfähigkeit überlegen sind. Deliberative Demokratie kann somit leicht in eine Herrschaft der Experten mutieren, die bekanntlich nie wie Platons Philosophenkönige agieren, sondern besondere Interessen durchsetzen.

Vertreter des Modells der partizipativen Demokratie (Barber 2008) kritisieren die Intransparenz von Strukturen und Verfahren der repräsentativen Demokratie und ihre mangelnde Responsivität. Sie nehmen an, dass die demokratische Legitimität politischer Entscheidungen zunimmt, wenn Bürgerinnen und Bürger direkt beteiligt werden. Diese sollen entweder Entscheidungen initiieren, ihre Meinungen in Befragungen oder Versammlungen äußern oder in Referenden Entscheidungen treffen können. So populär diese Vorschläge sind, so kritisch muss man ihre Realisierbarkeit und ihre Folgen untersuchen. Ihre Verfechter ignorieren, dass individuelle Interessen nicht einfach durch Meinungsäußerungen oder Wahlakte in legitime kollektive Entscheidungen transformiert werden können. Politik benötigt eine Agenda und Entscheidungsoptionen, auf die sich demokratische Partizipation bezieht, dadurch aber nicht erzeugt werden können. Zudem wird das Modell den angesprochenen Herausforderungen an Demokratie nicht gerecht, auch wenn es als Ergänzung zu etablierten Verfahren der repräsentativen Demokratie oder in lokalen Zusammenhängen nützlich sein mag.

Theoretiker und Praktiker, die für sich beanspruchen, den bisher dargestellten Vorschlägen eine realistische Perspektive entgegenzusetzen, favorisieren Reformen, die die Komplexität von Entscheidungsstrukturen reduzieren. Dazu gehören Modelle der Mehrheitsdemokratie, welche die politische Führung und die Entscheidungsfähigkeit in Regierungssystemen stärken sollen (z.B. Arnim 2009). Dazu gehören aber auch Vorschläge, die auf eine Entflechtung von Ebenen zielen. Diese haben bekanntlich die jüngsten Diskussionen um die Verfassung der EU und die Reform des deutschen Bundesstaats geprägt. Erfahrungen mit jüngsten Reformbemühungen wecken jedoch Zweifel, ob es angesichts der Komplexität von Aufgaben praktikabel ist, die institutionelle Komplexität von Regierungssystemen zu reduzieren (Benz 2002). Abgesehen von der Paradoxie, dass realistische Theoretiker zu nicht realisierbaren Vorschlägen tendieren, ist auch auf negative Folgen dieser Modelle hinzuweisen. Mehrheitsdemokratische Verfahren mögen zwar Entscheidungen erleichtern und beschleunigen, aber sie eignen sich nicht, komplexe Konflikte pluralistischer Gesellschaften zu lösen. Sie können, wie der britische Fall illustriert, eine Fragmentierung von Parteiensystemen nicht verhindern. Unter dieser Bedingung erzeugen sie keine klaren Regierungsmehrheiten und wirken kontraproduktiv. Kompetenzen zwischen Ebenen können zwar formal getrennt werden. Aber komplexe Aufgaben erfordern nichtsdestoweniger Koordination zwischen Ebenen, die in föderalen Trennsystemen informell und intransparent erfolgt. Auch dies bewirkt mehr Nachteile als Vorteile für die Demokratie.

Die vielfach diskutierten Demokratiedefizite können also durch eine Reduktion von institutioneller Komplexität nicht verringert werden. Um zu erkennen, wie Demokratie unter den heutigen Bedingungen von Differenzierung, Interdependenz und Dynamik der globalisierten Gesellschaft funktionsfähig erhalten werden kann, bedarf es der Leitideen, die auf einer Theorie komplexer Demokratie gründen. Diese kann in groben Zügen wie folgt skizziert werden.

Demokratie als kollektiver Lernprozess – Elemente einer Theorie komplexer Demokratie

In aktuellen Debatten, die hier nur verkürzt zusammengefasst werden können, wird Demokratie meistens auf einen Prozess der Beteiligung, der Deliberation oder der Entscheidungsfindung reduziert. Dabei lehrt schon die Ideengeschichte, dass eine solche Betrachtungsweise wesentliche Aspekte ausblendet. Der moderne Begriff der Demokratie, der die Entwicklung westlicher Regierungssysteme leitete, beruht auf Konzeptionen einer Mischverfassung, mit der Macht auf verschiedene Institutionen aufgeteilt wird, auf der vor allem in den oberitalienischen Stadtstaaten entstandenen Idee der funktionalen Differenzierung von Entscheidungsstrukturen, sowie auf der Transformation des mittelalterlichen Begriffs der Repräsentation in ein neuzeitliches Verständnis, wonach Macht auf der Basis von Vertrauen und Verantwortung übertragen wird. Folglich erfolgte Demokratisierung nicht einfach dadurch, dass Souveränität auf das Volk überging und Parlamente wie Regierungen in allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl bestimmt wurden. Dies waren nur Schritte in einem Prozess der institutionellen Differenzierung von Herrschaftsordnungen. Herrschaft wurde zu einem geregelten Prozess kollektiven Handelns, dessen Ergebnisse von Bürgerinnen und Bürgern als dem Gemeinwohl entsprechend anerkannt werden.

Damit kollektive Entscheidungen diesen Anforderungen genügen, müssen Bürgerinnen und Bürger zunächst in der Lage sein, frei ihre Meinung über öffentliche Angelegenheiten zu bilden und ihren Willen zu äußern, sie müssen effektiv auf politische Entscheidungen einwirken können, und zwar mit der gleiche Chance wie alle anderen, Entscheidungen zu beeinflussen. Diese Voraussetzungen sind durch die Trias von Freiheitsrechten, Beteiligungsrechten und sozialen Rechten erfüllt (Marshall 1992). Angesichts der beobachtbaren Vergrößerung gesellschaftlicher Ungleichheit ist vor allem die Bedeutung sozialer Rechte zu betonen, ohne die Freiheit zu einer Leerformel gerät. Sie wurden auf der Basis gleicher Beteiligungsrechte durchgesetzt, sind aber durch Globalisierung gefährdet, wenn Politik Umverteilung durch die Märkte hinnimmt in der Annahme, sie könnte im Wettbewerb der Staaten nicht korrigiert werden. In Deutschland wird inzwischen vielfach das Verfassungsgericht bemüht, um die sozialen Voraussetzungen von individuellen Freiheits-und Gleichheitsrechten zu sichern. Die Justizialisierung schwächt aber die Demokratie, die durch Gewährleistung von Rechten ihre eigenen Funktionsbedingungen erzeugen muss.

Umso wichtiger ist die Stabilisierung jener institutionellen Strukturen, die legitime kollektive Entscheidungen ermöglichen. Diese entstanden mit der Erfindung der repräsentativen Demokratie, also durch eine fundamentale Transformation des Demokratiebegriffs. Wurde dieser seit der Antike mit der Herrschaft der Vielen identifiziert, ohne dass man verstand, wie eine Vielzahl von Individuen regieren kann, erkannten Theoretiker der modernen Demokratie die Machtdifferenzierung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, aber auch deren wechselseitige Abhängigkeit als grundlegend für demokratische Herrschaft (Pitkin 1972). Sie erst ermöglichen effektives Regieren, das an den Willen des Volkes gebunden ist. Das Konzept der demokratischen Repräsentation wurde in der Entwicklung westlicher Regierungssysteme mit der Idee der Gewaltenteilung kombiniert (Riklin 2005). Teilung sollte Macht beschränken, um eine Tyrannei der Mehrheit zu vermeiden und Manipulationen von Parteienkonkurrenz zu unterbinden. Die effektive Macht von Regierungen wurde an Gesetze gebunden, die von Parlamenten beschlossen werden und deren Einhaltung von Gerichten kontrolliert wird.

Diese institutionelle Differenzierung von Herrschaft impliziert, dass es keine Identität von individuellen Interessen und Gemeinwohl geben kann. Beide können nur im politischen Prozess einander angenähert und durch Entscheidungen immer nur vorläufig in Übereinstimmung gebracht werden, wobei beide in diesem Prozess erst definiert werden, wenn komplexe Materien zu bewältigen sind. Bürgerinnen und Bürger können in der Regel erst auf der Basis von Politikangeboten von Parteien oder von Entscheidungen der Regierenden ex post beurteilen, welche Politik für sie akzeptabel ist. Ebenso können Parlamente nicht bestimmen, welche Ergebnisse Regierungen in Verhandlungen mit Interessenvertretern oder anderen Regierungen erreichen können, sondern nur nachträglich definitiv beurteilen, ob Regierungen dabei ihrer Verantwortung gerecht geworden sind. In der Gewaltenteilung demokratischer Regierungssysteme, in der Prozessdifferenzierung zwischen Agenda-Definition, Verhandlungen, Entscheidung und Kontrollen und im Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten werden daher keine stringenten Schlussfolgerungen aus Prämissen abgeleitet, vielmehr werden Positionen, Präferenzen und Entscheidungen ausgehandelt oder wechselseitig angepasst. Demokratie ist daher als kollektiver Lernprozess zu begreifen. Legitimität beruht darauf, dass immer anders entschieden werden kann. Deswegen ist die Vorstellung einer Legitimationskette von den Wählerinnen und Wählern zu den Regierenden problematisch. Vielmehr verlaufen in einer komplexen Demokratie Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in verschiedenen Arenen, die nur lose miteinander verkoppelt sind, sich aber immer wechselseitig beeinflussen. Gerade diese Struktur ermöglicht die kontinuierliche Annäherung individueller und allgemeiner Interessen, ohne dass diese definitiv übereinstimmen können. Demokratische Legitimation beruht, so gesehen, auf der institutionellen Begrenzung von Macht, die alle Beteiligten, also auch Bürgerinnen und Bürger, zwingt zu lernen.

Dieser kollektive Lernprozess erfordert eine Balance von Macht in Bezug auf Funktionen der Initiativen und Agenda-Definition, der Entwicklung von alternativen Politikangeboten, der Aushandlung von Kompromissen, der Entscheidung und der Kontrolle, welche die Revidierbarkeit von Entscheidungen in allen Phasen sichert. Gefährdet wird diese Balance, wenn ausschließlich Regierungen und ihre Experten die Agenda bestimmen, wenn keine Alternativen zur Diskussion stehen, wenn Parlamente nur ratifizieren oder blockieren, da sie Verhandlungen und Optionen nicht durchschauen, wenn Regierungen sich Kontrollen entziehen, weil sie Verantwortung auf andere abwälzen, oder wenn Kontrollen auf Gerichte verlagert und damit entpolitisiert werden. Stabilisierung von Demokratie erfordert daher, die Machtbalance immer wieder neu auszutarieren. Dazu muss Demokratie sich auf sich selbst beziehen, also reflexiv werden (Schmalz-Bruns 1995).

Optionen einer Demokra­tie­re­form

In praktischer Hinsicht stellen sich damit die Fragen, wie unter der Bedingung zunehmender Komplexität demokratisches Lernen revitalisiert werden kann und wie es gelingen kann, die Machtbalance in der differenzierten Herrschaftsordnung zu stabilisieren. Antworten auf diese Fragen können nur in einem ständigen Dialog zwischen Theorie und Praxis gefunden werden, der in der Bundesrepublik verbesserungsbedürftig ist. Im Folgenden sind Ideen skizziert, die in einem solchen Dialog zu diskutieren wären.

Demokratisches Lernen erfordert alternative und innovative Politikangebote. Dazu bedarf es einer Öffnung von Agenden der Politik, einer Konkurrenz um Ideen für Problemlösungen sowie einer Förderung experimenteller Politik. Dem könnten folgende Vorkehrungen dienen:

  • Gegen die Dominanz von Exekutiven und Experten bei der Bestimmung dessen, was Gegenstand politischer Verhandlungen und Entscheidungen wird, helfen Bürgerinitiativen. Gestärkt werden könnte auch die Initiativmacht von Parlamenten, sei es gegenüber der eigenen Regierung oder, analog dem Modell der Subsidiaritätskontrolle in der EU, gegenüber Regierungen anderer Ebenen.
  • Angesichts eines geschwächten Parteienwettbewerbs und populistischer Orientierung von Politikern an medial erzeugten Meinungsströmungen können Mehrebenenstrukturen genutzt werden, um die Innovationsfähigkeit der Demokratie durch Leistungswettbewerb zwischen Gebietskörperschaften und Staaten zu fördern. Das Verfahren setzt, anders als der Steuerwettbewerb, Regierungen und Parlamente nicht dem Zwang aus, sich an vermeintlich besten Lösungen anzupassen, vielmehr fördert es den Transfer von Ideen und den Vergleich von realisierten Entscheidungen, die im politischen Prozess auf Umsetzbarkeit unter den spezifischen Bedingungen eines Staates, einer Region oder einer lokalen Gebietskörperschaft geprüft werden. Leistungswettbewerb produziert somit Alternativen und stimuliert öffentliche Diskurse (Benz 2009: 220).
  • Politische Innovationen entstehen, wenn Bereiche für Experimente eröffnet werden. In Mehrebenensystemen können diese durch überlappende Kompetenzen und Möglichkeiten des opt-outs von zentralen Regeln oder intergouvernementalen Vereinbarungen gefördert werden.

Initiativen, Ideen und Experimente fördern Lernfähigkeit in Regierungssystemen. Demokratische Lernfähigkeit setzt zudem die Rückkopplung zwischen Regierung, Parlament und Wählerschaft voraus, die im Grundsatz der Verantwortung der Repräsentanten gegenüber den Repräsentierten angelegt ist. In komplexen Entscheidungssituationen, besonders wenn sie mit Zeitdruck verbunden sind, versuchen Regierungen, sich ihrer Verantwortung zu entziehen, indem sie auf Sachzwänge oder die Mitentscheidung von Verhandlungspartnern verweisen. Diese Rechtfertigung wird in wissenschaftlichen Studien häufig nachvollzogen, indem die Inkongruenz von Aufgaben und Kompetenzen als unlösbares Demokratieproblem dargestellt wird. Doch lässt sich die Problematik auflösen, wenn Verantwortung und Rechenschaft unterschieden werden. Dann kann sich erstere umfassend auf die Folgen der Machtausübung erstrecken, gleichgültig wie weit diese reichen und ob sie erkennbar sind oder nicht. Rechenschaft schuldig sind Regierungen hingegen nur gegenüber den Parlamenten und der Bürgerschaft der politischen Einheit, in der sie gewählt worden sind. Im Unterschied zur Verantwortung, die sich auf materielle Politikergebnisse erstreckt und über Grenzen hinausreichen kann, ist Rechenschaft eine formale Verpflichtung, die institutionell begrenzt ist. Durch formale Rechenschaftspflicht gegenüber der Bürgerschaft oder deren Vertretern in Parlamenten kann aber umfassende Verantwortlichkeit auch für „externe“ Effekte politischer Entscheidungen eingefordert werden (Risse 2006).

Die Unterscheidung zwischen der externen und der internen Dimension demokratischen Regierens enthält allerdings eine weitere Problematik für kollektives Lernen, wenn externe Effekte in intergouvernementalen Verhandlungen bearbeitet werden. Verstehen sich dann Parlamente als „Veto-Spieler“, die nur noch ratifizieren oder blockieren können, kommt entweder der repräsentierte Wille der Bürger nicht zum Tragen oder werden Entscheidungen verhindert. Deswegen müssen Parlamente ihre Meinung in einem erweiterten Horizont bilden und in die Lage versetzt werden, Verhandlungen begleitend zu beobachten, um entweder rechtzeitig durch Meinungsäußerungen gegenüber Regierungen zu intervenieren oder um bei ihren Entscheidungen die Spielräume für Verhandlungslösungen berücksichtigen zu können. Dazu können interparlamentarische Beziehungen beitragen, die sich etwa in der EU bereits deutlich entwickelt haben (Crum/ Fossum 2009). Parlamente erweitern damit ihre Perspektiven und können strategisch handeln, zugleich können sie Politik in Mehrebenensystemen gegenüber ihren Bürgerschaften vermitteln und Öffentlichkeit herstellen.

Reflexive Demokratie verwirklicht sich schließlich in einer ständigen Fortentwicklung der Verfassung von Demokratie selbst, wodurch Machtverschiebungen und -konzentrationen korrigiert werden. Verfassungsreformen sind bekanntlich schwierig zu verwirklichen. Institutionelle Innovationen können aber durch Verfassungsexperimente angestoßen werden (Bednar 2010). Mehrebenensysteme bieten die erforderliche Differenzierung, um solche Experimente zu ermöglichen.

Komplexität muss also Demokratie nicht blockieren, auch steht sie Reformen nicht entgegen. Die institutionelle Komplexität des politischen Systems bietet auch eine Chance für Demokratie.

Literatur

Arnim, Hans Herbert von, 2009: Mehrheitswahl und Partizipation, in: Strohmeier, Gerd (Hrsg.), Wahlsystemreform (Zeitschrift für Politikwissenschaft, Sonderband 2009). Baden-Baden, Nomos, 183210

Barber, Benjamin R., 2008: Strong Democracy: Participatory Politics for a New Age. Berkeley/Cal., University of California Press (20th anniversary ed.)

Bartolini, Stefano, 2005: Restructuring Europe. Centre Formation, System Building and Political Structuring Between the Nation State and the European Union. Oxford, Oxford University Press

Benz, Arthur, 2002: Lehren aus entwicklungsgeschichtlichen und vergleichenden Analysen. Thesen zur aktuellen Föderalismusdiskussion, in: Benz, Arthur/ Lehmbruch, Gerhard (Hrsg.), Föderalismus (PVS-Sonderheft 32). Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 391-403

Benz, Arthur, 2009: Politik in Mehrebenensystemen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Crum, Ben/ Fossum, John Erik, 2009: The Multilevel Parliamentary Field: a framework for theorising representative democracy in the EU, in: European Political Science Review 1, 249-271

Dryzek, John, 2002: Deliberative Democracy and Beyond: Liberals, Critics, Contestations. Oxford, Oxford University Press

Greven, Michael Th., 1999: Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Problem des Regierens und der modernen Demokratie. Opladen, Leske & Budrich

Luhmann, Niklas, 1969: Komplexität und Demokratie. Zu Frieder Naschold: „Demokratie und Komplexität“, in: Politische Vierteljahresschrift 10, 314-325

Marshall, Thomas H., 1992: Bürgerrechte und soziale Klassen. Frankfurt a. M., New York, Campus

Naschold, Frieder, 1972: Organisation und Demokratie. Untersuchung zum Demokratisierungspotential in komplexen Organisationen. Stuttgart u. a., Kohlhammer (3. Aufl.)

Pitkin, Hanna Fenichel, 1972: The Concept of Representation. Berkeley: University of California Press

Riklin, Alois, 2005: Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Risse, Thomas, 2006: Transnational Governance and Legitimacy, in: Benz, Arthur/ Papadopoulos, Yannis (Hg.), Governance and Democracy. London, Routledge, 179-199

Scharpf, Fritz W., 1970: Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung. Konstanz, Universitätsverlag

Schmalz-Bruns, Rainer, 1995: Reflexive Demokratie. Die demokratische Transformation moderner Politik. Baden-Baden, Nomos

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