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Die extreme Rechte und Aids

aus: vorgänge Nr. 91 (Heft 1/ 1988), S. 17-20

Zentrale Agitationsthemen und feste Bestandteile des rechtsextremen ideologisch-politischen Diskurses sowie von (gewaltförmigen) Auseinandersetzungen sind seit mehreren Jahren, die vermeintlich »überschwappende Asylantenflut« und »drohende Überfremdung«. Mit einer ethno -zentristischen, völkisch-rassistischen Argumentationsstruktur und Propagandaformeln, die sich gegen »Ausländer, Flüchtlinge, Scheinasylanten, Fremdarbeiter / eingewanderte Arbeitskräfte, Vielvölkerstaat« richten, wird an ein nationalistisches und euro -zentristisches Überlebens- und Kulturkonzept der »Erhaltung der europäischen Völker und Kultur« appelliert.

Zu dieser »traditionellen« Argumentationskette gesellt sich seit einigen Monaten als weiteres Element die »Jahrhundertseuche Aids«. Die extreme Rechte als nationale Demokraten, freiheitliche oder nationale Rechte, nationale Sozialisten, Nationalsozialisten, nationalistische oder Alt-Rechte sieht — in Radikalisierung und Transformation rechtskonservativer Argumentationsfiguren — einer »Durchseuchung unseres Volkes Tür und Tor geöffnet«. Die Durchsicht von Zeitschriften, Flugblättern und Pamphleten von rechtsextremen Gruppen, Verlagen und Diskussionszirkeln, zeigt die »Besetzung« von Aids als ein weiteres ideologisches Zentrum ihrer politischen Propaganda. Dies wird als »neue Front im Kampf um die Erhaltung unseres Volkes« und der anderen europäischen Völker verstanden.

Die extreme Rechte lädt das Thema zur Schicksalsfrage »unseres Volkes« auf und will Aids zum zentralen Gegenstand der politisch-ideologischen Auseinandersetzung um die Zukunftsfrage »unseres Volkes« machen. Unter Berufung auf konservative Mediziner und »seriöse« Kommentierungen in der rechts-konservativen Tagespresse (Die Welt, FAZ u.a.) werden Begriffe und Formeln aufgegriffen wie: ein Schwelbrand, der sich durch die Bevölkerung weiterfrißt  Aids–Zeitalter und Jahrhundertgeißel; moderne Lustseuche als Krankheit einer dekadenten Gesellschafts  vitale Bedrohung unseres Volkes, »das unter Geburtenschwund leidet und die Motivierung, Kinder zu zeugen wird weiter abnehmen«; schleichende Durchseuchung und Zersetzung der völkischen Substanz; »beispielloses Massensterben, wenn die ideologischen Vorurteile einer Minderheit mehr gelten als das Schutzbedürfnis der Mehrheit. Ohne einen baldigen wissenschaftlichen Durchbruch könnte das Problem die Dimension eines globalen Atomkriegs erreichen«.

Die Appellstruktur richtet sich an diffuse Ängste und Unsicherheiten über eine generell ungewisse Zukunft; Aids wird zum »Instrument« eines Überlebens- und Kampfkonzeptes stilisiert, mit der Dualität: überleben oder untergehen.

Die offizielle Politik in der Bundesrepublik wird als »Rassenmischungs- und Gleichstellungspolitik«; als volksfeindliche Politik bezeichnet. »Pseudoasylanten aus Dritter und Vierter Welt« sind für die extreme Rechte ein »Transmissionsriemen der Aids-Verbreitung und die ausgeprägte Neigung Schwarzer und Negrider zu Promiskuität ein beschleunigendes Moment dabei«. Aids wird in seinen katastrophalen Wirkungen »auf unser Volk und die anderen europäischen Völker« mit der Masseneinwanderung von Farbigen aus Übersee verglichen, daher müssen die »Grenzen dicht gemacht werden«.

»Zu den vielfältigen Gefahren, die die Zuwanderung Farbiger in biologischer und kultureller Hinsicht mit sich bringt, kommt nun noch die Verbreitung der Seuche Aids hinzu. So ist bekannt, daß die Angehörigen bestimmter afrikanischer, aber auch asiatischer Völker von dieser Krankheit bedeutend mehr betroffen sind als jetzt noch die Europäer. Der Kampf muß an verschiedenen Fronten geführt werden, und die Bekämpfung der Seuche ist ebenso wichtig wie das direkte Vorgehen gegen die Einfuhr der Farbigen und die Befürworter dieser Maßnahmen«.

Die Schuld- und Schicksalsfrage wird an »Ausländer, Fremde« gebunden, sie nehmen eine Sündenbock-Stellung ein, indem Aids nationalistisch-rassistisch, volkspolitisch aufgeladen wird; es wird versucht, Vorurteilsstrukturen, Ängste und Unsicherheiten,
fremdenfeindliche Mentalitäten in der Bevölkerung zu radikalisieren. Für die vermeintlich volksgesundheitlichen Notwendigkeiten (Lebensschutz / Umweltschutz/ Lebensraum) wird selektiv mit biologisch-medizinischen Belegen und »harten Daten« argumentiert; als vermeintlich unangreifbare objektive Fakten und Prognosen werden sie ideologisch eingebunden.

Die extreme Rechte beklagt, daß heute auch der »Normalbürger« promiskuitiv eingestellt sei, weil die Losung unserer Epoche und das kultivierte Menschenbild »Selbstverwirklichung« heißt, »zu deren Zielvorgabe die Entwicklung von Genußfähigkeit gehört«. Leben ünd leben lassen als gesellschaftliche Verhaltensform gegenüber den Hauptrisikogruppen »Rauschgiftsüchtige, Homosexuelle, Neger« und die »Propaganda, daß zum allgemeinen Fortschritt die Befriedigung individueller Wünsche gehöre«, habe es »auf weiten Strecken unmöglich gemacht, die Einsicht für das gegenseitige Ausschließen von Gemeinwohl und individuellem Lustprinzip zu wecken. Der Popanz ‚Selbstverwirklichung‘ – gegenwärtig ein Grundhindernis, das Schutzbedürfnis Nichtinfizierter behördlich abzusichern — und die Beschwörungsformel ‚Gewissensentscheid‘ stecken die Grenzen des neuen Solidaritätsverständnisses ab.« Einsicht, Rücksichtnahme und Verantwortungsgefühl könne von den Angehörigen der Risikogruppen nicht erwartet werden. Vor allem aber die Zerstörung und Auflösung familiärer und religiöser Bindungen würden den Kern des Zusammenlebens gefährden und Zonen unseres gesellschaftspolitischen Selbstverständnisses dramatisch sensibilisieren.« Gleichzeitig ist dieses Verhalten der Liberalen, Kommunisten und Anarchisten aber auch ein Zeichen dafür, daß diese Gesellschaft aufs höchste verunsichert ist. Stand doch die Freiheit vor allem Zwang, die Freiheit zu jedem Genuß im Mittelpunkt ihrer verführerischen Propaganda, waren sie doch auf dem besten Wege, zumindest in einigen Ländern Europas den endgültigen Erfolg zu erringen. Damit scheint es jetzt vorbei zu sein. Die Angst um das liebe Leben wiegt eben weitaus höher als der Wunsch, mit jedem ins Bett steigen zu können. Schon bahnt sich auf dem Gebiet der Zweierbeziehungen wieder ein Umdenken an, schon sind Treue und Beständigkeit wieder gefragte Werte. Der Liberalismus hat seine entscheidende Niederlage schon erlitten, von jetzt an befindet er sich auf dem Rückzug.«

Das »Menschheitsproblem« Aids bekommt die Gesellschaft nach Auffassung der extremen Rechten solange nicht in Griff, wie der einzelne »seine Gelüste und Perversionen als Rechtsgüter höher stellt als das gesunde Überleben seines Volkes. Das verfassungsmäßig garantierte Recht auf körperliche Unversehrtheit und Leben von derzeit noch über 99 Prozent der Bevölkerung muß über einigen‚ vergleichsweise unbedeutenden Persönlichkeitsrechten der kleinen Minderheit der Infizierten stehen. Leider kreist die Diskussion derzeit vor allem um den Schutz der Infizierten vor einer Diskriminierung (was auch wichtig ist) und nicht um den Schutz des Lebens der Nichtinfizierten«.

Aufklärung, Datenschutz, bürgerliche Freiheitsrechte werden als liberalistische Ideologie eines schwachen Staates und als materielle Interessen von »Medizinern und Sozialhelfern, die bei einer steigenden Zahl Erkrankter ihren Broterwerb gesichert sehen« denunziert. Ihnen wird ein »verbrecherischer Umgang mit der Volksgesundheit« vorgeworfen. Mit Aids beginnt in rechtsextremistischer Zivilisationskritik die »Geschichtsschreibung« dekadenter westlicher Gesellschaftsformen die u.a. bestimmt ist von: Sklaverei der Triebe, Übersättigung, Wegwerfware Mensch, Neurotisierung und innere Verwahrlosung. Aids und vor allen die Angst vor Aids wird im Kontext von Wirtschaftskrise, von Verlust-, Enteignungs-, Kränkungs – und Verarmungserfahrungen, von gesellschaftlich produzierten und undurchschauten Unsicherheiten und (Sexual-) Ängsten zu einer Projektionsfigur für Phantasien einer im epochalen Strukturwandel befindlichen Gesellschaft und der Gefährdung konventioneller Normalitätskonzepte in denen u.a. Familie, Treue und Sexualität zusammengehören).

Diese Argumentationsrichtung zielt — in ideologischer Nähe zum rechtskonservativen Lager  — auf die Durchsetzung »moralischer Wiederaufrüstung und Verzichtsmoral«, auf die Wiederherstellung traditioneller Moral: Familie, eheliche Treue und Enthaltsamkeit als Grundlage sittlichen Verhaltens. Es soll ein öffentlicher Druck vor allem auf Jugendliche erzeugt werden — die Rücknahme und Verhinderung von Emanzipations- und Selbstbestimmungsprozessen sind beabsichtigt. Von der extremen Rechten werden »konservative Sekundärtugenden und Werte wie Familie, Pflicht, Ordnung, Sauberkeit radikalisiert« Jaschke und in obrigkeitsstaatliche, vordemokratische, autoritäre Ordnungskonzepte eingebunden.

Die Freizügigkeit für gesellschaftliche (sexuelle) Randgruppen, deren Integration in die Gesellschaft und »moderne Minderheitenpolitik« haben für die extreme Rechte zu einer sexuellen Liberalisierung und »Versozialwissenschaftlichung« der Diskussion geführt. »Pluralistische Gesellschaftskonzeptionen« und das »Systemveränderungsestablishment« hätten zu einer Ideologisierung von Kompetenzangelegenheiten geführt; jeder könne mitreden. Die Kampfansagen gelten nach ihrer Sicht: der Versozialwissenschaftlichung mit ihrer modernen Minderheitenpolitik (Integration), den Gleichheitsgrundsätzen und ihrem Verhältnismäßigkeitsbegriff sowie ihrem Einfluß auf die praktische Politik und die Ausprägung von Werten und Moral.

Es geht um die Veränderung eines wissenschaftlichen und politisch-praktischen Solidaritätsbegriffes, »der als Wucherung der Systemveränderungsphilosophie den Motivationen eines genügend großen Teils der Bevölkerung anhaftet.« Für sie hat sich die Wissenschaft in den Dienst und Kampf um Auslese, Biopolitik und Eugenik zu stellen. Die extreme Rechte sieht in Aids sowohl eine Bedrohung der Volks- (völkischen) Substanz, die von einem starken Staat geschützt werden muß, als auch eine Neuauflage ihrer dämonischen Geschichtsphilosophie, »das Böse zu nutzen, weil aus ihm das Gute erwächst«. Im Volks-Mythos  — als lebendiger Organismus ‚ Schicksals-Kampfgemeinschaft mit genetischer Determination  —  ist »Volksgesundheit« und Entmischung der Völker (Eugenik und Biopolitik) eine leitende Idee im Überlebenskampf der Völker. In der Bewertung der »Risikogruppen von Farbigen, homosexuellen Männern und Drogenabhängigen«, wird in Teilen der extremen Rechten die menschenverachtend-zynische, rassistische und offene, an Vernichtung anknüpfende Strategie in den Feststellungen deutlich: »bei denen man allerdings der Auffassung sein kann, daß ihre Dezimierung nicht unbedingt negativ zu bewerten ist«. An anderer Stelle heißt es: »Da aber nach wie vor die Hauptrisikogruppen betroffen seien, wäre damit zu rechnen, daß diese Gruppen nachhaltig dezimiert würden und im nächsten Jahrtausend die Krankheit dann wieder in ihrer Bedeutung nachläßt. Nach dem bisherigen Wissensstand können wir uns dieser Auffassung leider nicht anschließen. Bisher ist für uns nicht zu sehen, daß sich diese Krankheit sozusagen von selber reguliert, vielmehr wird das liberalisierte Sexualverhalten dazu führen, daß sie sich bis auf weiteres ungehemmt ausbreitet.«

Die Auseinandersetzung, »Aufklärung« über Aids (wie auch die »Ausländer- und Asylantenfrage«) soll nicht der »manipulierenden Aids-Lobby« und der sich »ausbreitenden Maffia der Sozialarbeiter« überlassen werden: »Die Vorschläge des linken Meinungsspektrums einschließlich der Bundesgesundheitsministerin Rita Süßmuth (rote Rita) halten wir für denkbar ungeeignet, da Aufklärung in Krisensituationen alleine nicht genügt und die Propagierung von Kondomen schon wegen der ohnehin katastrophalen Geburtensituation in unseren Völkern zweischneidig ist. Ein anderer Weg wäre eine stringentere Sexualmoral, die jedoch in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit kaum durchzusetzen ist. Es bleibt also nur der Weg über strikte Seuchen medizinische Maßnahmen, die sich auch bei anderen Krankheiten bewährt haben«.

Die auf Freiwilligkeit, Aufklärung setzende Strategie wird im extrem rechten (wie im nationalkonservativen) Lager als gescheitert angesehen. Gefordert werden von der extremen Rechten als angemessene Prioritätensetzungen: konsequente Seuchenbekämpfung und Anwendung des Bundesseuchengesetzes; Reihenuntersuchungen und namentliche Meldepflicht; sexuelle Isolierung; es sei »keine Zeit für Datenschutz«; bis hin zu Maßnahmen, »für die die gesetzlichen Grundlagen noch geschaffen werden müssen: geschlossene Häuser zur Isolierung der Virusverbreiter«.

In der offiziell-politischen Auseinandersetzung dominieren derzeit die beiden Konzeptvarianten »Aufklärung« (liberal-konservativ/post-konservativ) und »Ausgrenzung«  (rechtskonservativ/traditionalistisch) die Diskussion und Handlungsstrategien. Der extremen Rechten kommt (arbeitsteilig) die Funktion zu, die Radikalisierung und Transformation des konservativen Traditionalismus, deren Tugenden und Denkstile sowie deren Ausgrenzungsstrategien in den öffentlichen Diskurs einzubringen, sie als politischen Diskursbestandteil populistisch zu mobilisieren. Damit wird eine Politik der Angst, Panik und Paranoia inszeniert; rassistische Hysterie stimuliert gegen Risikogruppen, Minderheiten, Kranke. Ihr Resümee lautet: »Wenn die Gesunden aufwachen und die Gefahr erkennen, hat der Liberalismus seine Schlacht verloren. Frau Süßmuth ist dann ein Fall für die Strafrichter.«

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