Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 168: Ungleichheit als Schicksal?

Integration ist Assimi­la­tion

Das Migrationsreport 2004 liefert aktuelle Bestandsaufnahme

aus: Vorgänge Nr. 168 ( Heft 4/2004 ), S. 110-112

Nachdem der Rat für Migration in seinem letzten Report 2002 das Thema „Migration” in den Mittelpunkt gestellt hatte, geht es in seiner diesjährigen Veröffentlichung vorrangig um Integration. Das hängt mit dem endlich beschlossenen Zuwanderungsgesetz zusammen, in dem die Förderung der Integration von Einwanderern erstmals als gesetzliche Aufgabe festgeschrieben wird. Die Politik kann Integration nicht verordnen, aber sie kann Rahmenbedingungen schaffen, die sie erleichtert. Neben praktischen Fragen nach konkreten Maßnahmen und deren Zielen gibt es aber weiterhin grundsätzliche wissenschaftliche Diskussionen darüber, was Integration eigentlich ist oder sein soll. Das haben nicht zuletzt die Diskussionen um das neue Gesetz gezeigt. Wer sich dazu umfassend kundig machen möchte, wird im Migrationsreport und einem Begleitband fündig:

Klaus J. Bade/Michael Bommes/Rainer Münz

(Hg.): Migrationsreport 2004. Fakten — Analysen – Perspektiven, Campus Verlag: Frankfurt/Main/New York 2004, 322 S., ISBN 3-593-37478-1; 22,90 Euro

Auf den ersten Blick wirken die einzelnen Beiträge des Migrationsreports etwas disparat, aber im Verlauf der Lektüre formen sich Kritik durchaus thematische Gruppen. Gegenüber dem Begleitband (s.u.) haben sie einen größeren Aktualitätsbezug, was der angestrebten Resonanz auch außerhalb der fachwissenschaftlichen Zirkel förderlich ist – ebenso wie die gute Lesbarkeit der meisten Beiträge.

Das Erklärungsmuster für Integration, das sich durch beide Bände zieht, ist ein modifizierter Assimilationsansatz, der stark auf die prozesshaften strukturellen Anpassungen im Verlauf mehrerer Generationen rekurriert. Multikulturellen Ansätzen, die die Persistenz fest gefügter, ethnisch differenter Gruppen behaupten, wird eine Absage erteilt. So zeigt Leo Lucassen mit vergleichendem Blick auf Zuwanderungen in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, dass bei aller Berücksichtigung von Unterschieden im intergenerationellen Verlauf viele klassische Assimilationspfade weiterhin Gültigkeit besitzen. Insgesamt scheinen frühere Integrationsprozesse oftmals als zu positiv, gegenwärtige dagegen häufig als zu negativ bewertet zu werden. Die Erkenntnis, dass diese Prozesse ä la longue auch nicht an ethnischen Vereinen oder Koloniebildungen scheitern, passt zu Werner Schiffauers Innenansicht der Islamischen Gemeinde Milli Görüs, Anders als der Verfassungsschutzbericht glauben machen will,laufen sogar dort komplexe Prozesse struktureller Anpassung (Partizipation über Opposition, Organisation als Religionsgemeinschaft, Schule) ab, die durch die staatliche Bekämpfung geschwächt werden. Sorgt hier dann letztlich nicht der Staat für Abkapselung und damit die Schaffung einer Parallelgesellschaft, die er eigentlich verhindern will? Ebenso korrigiert Kurt Salentins Untersuchung zur Koloniebildung, in der er das Engagement in Migrantenvereinen als Indikator nimmt, ein Fehlurteil über Abschottungstendenzen. So haben diejenigen, die in solchen Vereinen stark eingebunden sind, regelmäßig auch vielfältige Kontakte in der Mehrheitsgesellschaft.

Dass sich für die deutsche Politik kein Modell von Integration aus anderen Staaten einfach importieren lässt, zeigt Friedrich Heckmanns Vergleich zu den Integrationsweisen in sieben europäischen Staaten, der zwar Kornvergenzen deutlich macht, aber ebenso auf die erhebliche Bedeutung des nationalen Kontextes verweist. In diesem Sinn argumentieren auch Klaus J. Bade und Michael Bommes in ihrem einleitenden Problemaufriss.

Zu den konkreten Maßnahmen der Integrationsförderung, die das Zuwanderungsgesetz vorsieht, diskutieren zwei Beiträge die Herausforderungen und Erfordernisse bei Sprach- und Orientierungskursen. Während Utz Maas, Ulrich Mehlem und Christoph Schroeder bei Sprachkursen dringend ein einheitliches Konzept fordern, erscheint der inhaltliche und didaktische Anforderungskatalog von Stefan Kammhuber und Alexander Thomas an die Orientierungskurse so ambitioniert, dass seine Umsetzung in die Praxis doch ein wenig zweifelhaft erscheint.

Die zusammenfassende Analyse der deutschen Migrationspolitik von Steffen Angenendt und Imke Krase in den Jahren 2002/ 2003 sowie die Chronologie der Ereignisse und Debatten, die fast ein Drittel des Bandes einnimmt, machen den Migrationsreport daneben wie gewohnt zu einem praktischen Nachschlagewerk.

Da das Angebot an Beiträgen offenbar den Umfang des Reports gesprengt hätte, ist ein Begleitband erschienen, der sich im Vergleich zum Report stärker auf die wissenschaftliche Fachdiskussion konzentriert:

Klaus J. Bade/Michael Bommes (Hg.): Migration – Integration – Bildung. Grundfragen und Problembereiche (= IMIS-Beiträge 23/2004), Osnabrück 2004, 204 S., ISSN 0949-4723, kostenlos (Anforderung über Universität Osnabrück, IMIS, 49069 Osnabrück oder Downladunter www.imis.uni-osnabrueck.de).

Der vorsichtige Titel hätte durchaus provokanter „Assimilation — Familie – Bildung” heißen können. Hier wird das erwähnte modifizierte Assimilationskonzept sowohl für die USA als auch für Europa als das sozial weit-gehend gültige Muster der Eingliederung verstanden. Statt eines verzerrten politischen Kampfbegriffs, der Assimilation als gewaltsame kulturelle Homogenisierung begreift, redefinieren Richard D. Alba und Victor Nee Assimilation als einen Prozess der Abnahme und ggf. in ferner Zukunft auch Auflösung ethnischer Differenzen und daran gebundener sozialer und kultureller Unterschiede. Vor dem Hintergrund der Funktionsbedingungen moderner, funktional differenzierter Gesellschaften erscheint bei Hartmut Esser strukturelle Assimilation individueller Migranten im intergenerationellen Verlauf sogar als relativ alternativlos. Das schließt eine horizontale kulturelle und ethnische Pluralisierung, sofern es sich vor allem um Lebensstile handelt, nicht aus. Die empirische Untersuchung von Frank Kalter und Nadia Granato, die Segregationsindizes und Regressionsanalyse verbindet, bestätigt diese Trends, weist aber auch darauf hin, dass strukturelle Probleme des Bildungssystems die Integration von Migranten gleichzeitig unterlaufen.

Dass dem so ist, haben PISA oder die IGLU-Studie gezeigt, deren Ergebnisse hier im Vergleich zu Landesschulstatistiken von Uwe Hunger und Dietrich Thränhardt diskutiert werden. Es sei eine Illusion zu glauben, so Frank-Olaf Radtke, dass Leistung der entscheidende Faktor für schulischen Erfolg sei. Vielmehr spielen sozialer Status, ethnische Herkunft und lokale Ungleichbehandlungen eine wesentliche Rolle. Bei den geplanten Deregulierungen im Bildungswesen sei daher eher mit mehr Segregation zu rechnen. Dem scheinen die empirischen Ergebnisse von Cornelia Kristen und Nadia Granato teilweise zu widersprechen: Für den Bildungserfolg von Migrantenkindern seien, so die Autorinnen, die Ressourcen der Eltern (Bildungsabschluss, soziale Herkunft, berufliche Stellung) und nicht die ethnische Herkunft die entscheidende Variable.

Zwei weitere Beiträge diskutieren die bis-her nur wenig untersuchte Rolle der Familie als Integrationsinstanz zwischen Individuum und Gesellschaft. Dabei geht es vor allem um die Funktion der Familie als Ressource zur Förderung struktureller Anpassung (Bernhard Nauck) bzw. für die Transmission kultureller Codes (Heidi Keller). Im Zusammenhang mit letzterem wird die Notwendigkeit betont, wechselseitig die Kenntnisse über solche Codes zu verbessern, um Integrationsprozesse zu erleichtern.

Beide Bände bieten eine Fülle anregender Bestandsaufnahmen und Auseinandersetzungen zum vielfach kontrovers diskutierten Themenbereich der Integration und seiner Wahrnehmung in der wissenschaftlichen, öffentlichen und politischen Diskussion. Die Einsichten in diese komplexe Materie sollten dazu beitragen, gerade nach den Aufgeregtheiten der Debatte um das Zuwanderungsgesetz, den Blick nach vorne zu richten und auf einer sachlichen Basis Integrationspolitik und -prozesse zu gestalten und zu begleiten

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