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Keine Papiere für alle?

Formen und Grenzen der Politisierung illegaler Migranten in Deutschland,

aus: vorgänge Nr. 194, Heft 2/2011, S. 77-84

„Papiere für alle“ – unter diesem Motto haben in Frankreich Ende der 1990er Jahre, in Spanien und in der Schweiz um die Jahrtausendwende Migranten ohne legalen Aufenthaltsstatus eine kollektive Legalisierung aller illegal im Land lebenden Migranten gefordert.[1] Die Initiatoren der Proteste stammten im französischen Fall aus Westafrika, im spanischen Fall aus Ecuador und im Schweizer Fall aus dem ehemaligen Jugoslawien. Mit spektakulären Aktionen und Demonstrationen mit bis zu 40.000 Teilnehmern gelang es den Migranten, öffentliche Debatten über ihre Lebenssituation anzustoßen und staatliche Reaktionen zu provozieren. In Frankreich und Spanien wurden in Folge der Proteste kollektive Legalisierungsprozesse durchgeführt, die insgesamt 300.000 Menschen einen regulären Aufenthalt eröffneten. In der Schweiz führten die Mobilisierungen zu einer breiten Debatte über die bis dahin ignorierte problematische Lebenslage irregulärer Migranten[2] und zu neuen Formen der institutionalisierten Unterstützung von Einwanderern ohne Aufenthaltsrecht.

Auch in Deutschland leben zwischen 400.000 und 600.000 Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus (Vogel 2009), deren Lebenssituation durch ähnlich prekäre soziale und ökonomische Bedingungen gekennzeichnet ist wie die irregulärer Migranten in an-deren europäischen Ländern. Bisher sind Einwanderer ohne Aufenthaltsrecht jedoch nicht als politische Akteure in Erscheinung getreten. Ist auch im deutschen Kontext eine Politisierung des Problemfelds illegale Migration in Form von zivilgesellschaftlichen Mobilisierungen und einer Selbstorganisation irregulärer Migranten vorstellbar? Die These dieses Beitrags lautet, dass in Deutschland zentrale Voraussetzungen für die Entstehung einer Pro-Regularisierungsbewegung nicht vorliegen. Vielmehr existiert ein „deutsches Modell” des Umgangs mit illegaler Migration, das wesentliche Faktoren beinhaltet, die die Entstehung kollektiver Aktion von Menschen ohne Aufenthaltsstatus erschweren, wenn nicht gar verhindern. Um der These eines „deutschen Modells” und den daraus resultierenden Möglichkeiten und Formen der Politisierung nachzugehen, sollen im Folgenden zunächst die Voraussetzungen für die Entstehung von Pro-Regularisierungsbewegungen dargestellt werden. Darauf folgend wird diskutiert, wie der deutsche Fall sich von anderen europäischen Ländern unterscheidet. In welchen Formen illegale Migration trotzdem politisiert wird und welche Bedingungen zu einer Verbesserung der Lebenssituation irregulärer Migranten in Deutschland beitragen, wird abschließend thematisiert.

Die Entste­hungs­be­din­gungen von Pro-Re­gu­la­ri­sie­rungs­be­we­gungen in Frankreich, Spanien und der Schweiz

Bei der Entstehung von sozialen Bewegungen marginalisierter Gruppen lassen sich drei wesentliche Einflussfaktoren identifizieren, die in ihrer Interaktion mobilisierungsfördernd wirken. Erstens weist das betroffene Politikfeld spezifische Merkmale auf, die eine Anreiz- und Gelegenheitsstruktur für kollektive Aktion darstellen. Zweitens ist für die kollektive Aktion von so genannten schwachen Interessen das Vorhandensein von Unterstützern unabdingbar. Drittens ist für die Entstehung von erfolgreichen Mobilisierungen von zentraler Bedeutung, dass die Bewegung einen Diskurs entwickeln kann, mit dem sich ihre Forderungen erfolgreich legitimieren lassen. Dazu muss sie im nationalen politischen Kontext rhetorische „Zugangspunkte” finden.

Die französischen, spanischen und Schweizer Migrationspolitiken hatten mehrere gemeinsame Merkmale. In allen drei Ländern existierten vor Ausbruch der Proteste so-wohl informelle als auch offizielle Legalisierungsmöglichkeiten. „Versteckte” Legalisierungen waren vor den Protesten ein strukturelles Merkmal französischer und spanischer Migrationspolitik. In Frankreich fand seit Beginn der Ausländeranwerbung in den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre eine strukturelle Umgehung bestehender Kontrollmechanismen statt. In Spanien wurde ein Quotensystem, mit dem Migranten in Herkunftsländern angeworben werden sollten, zur nachträglichen Legalisierung von bereits im Land lebenden Migranten genutzt. Vor allem gehörten Regularisierungsprozesse zum Instrumentarium der Migrationspolitiken der drei Länder, und die Erfahrung vorangegangener kollektiver Legalisierungen stellte einen wesentlichen Anreiz für illegale Migranten dar, sich zu organisieren und an die Öffentlichkeit zu treten.

Zudem existierte in den drei Ländern eine Toleranz gegenüber illegalem Aufenthalt, die sich in einer partiellen sozialstaatlichen Inklusion manifestierte. In der Schweiz konnten Migranten trotz fehlendem Aufenthaltsrecht sozialversicherungspflichtig arbeiten. In Spanien bestand die Möglichkeit, sich in der Gemeinde anmelden und so offiziellen Zugang zur lokalen Gesundheitsversorgung zu erhalten. In Frankreich konnten Migranten prinzipiell zu jedem Zeitpunkt eine individuelle Legalisierung beantragen und erhalten.

Auch hinsichtlich der Präsenz von Unterstützern gab es Gemeinsamkeiten zwischen den drei Ländern. In Frankreich waren die engsten Verbündeten Arbeitslosenkollektive, die aus der Hausbesetzerbewegung hervorgegangen waren. Im spanischen Fall waren die Hauptunterstützer Antirassismusorganisationen, die sich Ende der 1990er Jahre in Abgrenzung von staatlichen Wohlfahrtsorganisationen gegründet hatten und zu deren Selbstverständnis ein unkonventionelles Aktionsrepertoire gehörte. In der Schweiz wurden die Migranten von den Gewerkschaften unterstützt, die seit den 1990er Jahren eine Positionsverschiebung nach links vollzogen und ihr Aktionsrepertoire verschärft hatten.

Schließlich basierten die Legitimationsdiskurse der Bewegungen in den drei Ländern auf ähnlichen Voraussetzungen. Die Protestierer bezogen sich in ihrer Argumentation auf historische Verbindungen zwischen den Herkunftsländern der Migranten und ihren Ankunftsländern. Im französischen Fall argumentierten die Migranten, dass sie aufgrund der Verdienste ihrer Großväter als Kolonialsoldaten im Zweiten Weltkrieg ein moralisches Recht auf einen Aufenthalt in Frankreich hätten. Im spanischen Fall legitimierten die Migranten ihre Forderung damit, dass sie eine bereits bestehende Zugehörigkeit durch die gemeinsame Geschichte und Sprache postulierten. In der Schweiz begründeten die Migranten ihre Forderung damit, dass sie zum Teil bereits jahrzehntelang in der Schweiz arbeiteten und zur Entstehung des Schweizer Wohlstands entscheidend beigetragen hätten.

Der gesell­schaft­liche und politische Umgang mit illegaler Migration in Deutschland

Gegenüber den beschriebenen Fällen weist der deutsche Umgang mit illegaler Migration einige bedeutende Unterschiede auf. Der erste betrifft die Migrationspolitik. Bis auf eine liberale Phase in den 1960er Jahren, in der Migranten auch nachträglich eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung erhalten konnten (Karakayali 2008: 111-113), ist das deutsche Migrationsregime von einer strikten Verhinderungsmaxime gegenüber unerwünschter Einwanderung gekennzeichnet. Ab den 1990er Jahren wurde illegale Migration zunehmend als Problem wahrgenommen (Bade 2001). Während die „Entdeckung” des Problemfelds illegale Migration durchaus gesamteuropäisch stattfand und auch in anderen Ländern Migrationskontrollpolitiken verschärft wurden, kommt Deutschland insofern eine Sonderrolle zu, als dass es im europäischen Vergleich über eines der restriktivsten Migrationskontrollregime verfügt (Vogel/Cyrus 2008). Individuelle Legalisierungsmöglichkeiten, etwa im Rahmen von Härtefallregelungen, bestehen in der Regel lediglich für Migranten, die über einen Aufenthaltstitel verfügen (Sinn et al. 2005: 39). Kollektive Legalisierungen werden in Deutschland nicht als Police-Instrument genutzt und werden auf öffentlich-politischer Ebene nicht als eine Option diskutiert (Bielefeld 2006). Seit den 1990er Jahren wurden die Strafen für illegale Einreise und illegalen Aufenthalt sukzessive erhöht (Sinn et al 1995: 33), und die deutsche Migrationskontrolle ist durch ein hoch entwickeltes System von wechselseitigen Zugriffsmöglichkeiten verschiedener Institutionen auf Daten und interne Kontrollen gekennzeichnet (Schönwälder et al. 2004: 39).

Im Mittelpunkt der Migrationskontrolle steht mit Paragraph 87 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz eine rechtliche Regelung, die im europäischen Kontext einzigartig ist und die weitreichende Folgen für die Lebensrealität von Migranten ohne Aufenthaltsrecht hat. Danach sind öffentliche Einrichtungen verpflichtet, die Ausländerbehörde zu informieren, wenn sie Kenntnis über einen unerlaubten Aufenthalt haben. In der Folge sind illegale Migranten in Krankheitsfällen und in der Frage des Schulbesuchs ihrer Kinder stark eingeschränkt. Irreguläre Migranten versuchen im Alltag nicht aufzufallen und den Kontakt mit öffentlichen Institutionen zu vermeiden (Sinn et al. 2005: 62). Obwohl ein Anspruch auf Notfallversorgung besteht, scheuen sich Betroffene häufig, einen Arzt oder ein Krankenhaus aufzusuchen. Hinsichtlich des Schulbesuchs von Kindern unterscheiden sich die rechtlichen Rahmenbedingungen in den einzelnen Bundesländern.[3] Grundsätzlich ist zur Anmeldung eines Kindes in der Schule jedoch eine Meldebescheinigung nötig — eine Voraussetzung, die Eltern ohne Aufenthaltsrecht nicht erfüllen können. In den letzten Jahren allerdings haben einige Städte und Bundesländer Regelungen erlassen, die Schulen von der Übermittlungspflicht befreien bzw. festlegen, dass ausländische Schüler keine Meldebescheinigung vorlegen müssen (Laubenthal 2011; Vogel/Aßler 2010). Zudem beschloss der Bundestag im Juli 2011, Schulen und andere Bildungseinrichtungen von der Übermittlungspflicht zu befreien. Empirische Untersuchungen kommen jedoch zu dem Schluss, dass bisher Eltern ihre Kinder aus Angst vor Entdeckung überwiegend nicht zur Schule schicken (Bommes/Wilmes: 2007; Sinn et al 2005: 114).

Parallel zur Verschärfung der Migrationskontrolle lässt sich in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre jedoch auch eine Zunahme zivilgesellschaftlicher Interventionen für irreguläre Migranten feststellen Dabei gehören drei Akteursgruppen zu den zentralen Unterstützern. Zunächst sind die Kirchen zu nennen, die vor allem mit Bezug auf das internationale Menschenrechtsregime soziale Rechte einfordern. 2001 legte die Deutsche Bischofskonferenz die erste bundesweit sichtbare Intervention vor, der zahlreiche Publikationen und Stellungnahmen folgten: „Auch Menschen in der Illegalität haben ein Recht auf Achtung ihrer Menschenwürde. (…). Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung. Die Regelungen, die Deutschland im Rahmen der UN-Kinderkonvention unterzeichnet hat, müssen umgesetzt werden. (…).Jeder Ausländer muss unabhängig von seinem Aufenthaltsstatus (…) Zugang zu den erforderlichen medizinischen Leistungen des Staates erhalten.” (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2001: 52). Auch das Katholische Forum Leben in der Illegalität setzt sich dafür ein, „(…) dass Menschen in der ,Illegalität` in Deutschland ihre grundlegenden sozialen Rechte in Anspruch nehmen können, ohne deshalb die Abschiebung befürchten zu müssen.“[4]

Weitere Unterstützer sind die Wohlfahrtsverbände, die sich mit vielfältigen Publikationen und Stellungnahmen für die Gewährung sozialer Rechte einsetzen. So hat das Diakonische Werk in Hamburg Berichte über die Zugangsmöglichkeiten irregulärer Migranten zu Bildung und zu Arbeitnehmerrechten in Auftrag gegeben (vgl. Mitrovic 2009a und 2009b). Im Jahr 2011 haben der Caritas-Verband und das Deutsche Rote Kreuz ein Handbuch veröffentlicht, das Berater in der Praxis über die rechtlichen Rahmenbedingungen ihrer Unterstützung für illegale Migranten informieren soll (vgl. Kössler et al. 2011). Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege fordert sicherzustellen, dass „(…) Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität ihren Anspruch auf medizinische Grundversorgung ohne Furcht vor Statusaufdeckung geltend machen können. (…) Kinder und Jugendliche in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität ohne Furcht vor Statusaufdeckung Zugang zu schulischer Bildung haben.

Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität der Rechtsweg zur Durchsetzung ihrer Rechte ohne Furcht vor Statusaufdeckung offen steht.” (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 2010: 5). Dabei nutzen auch die Wohlfahrtsverbände menschenrechtliche Argumentationsmuster: „Der Deutsche Caritasverband fordert, dass internationale Rechtsinstrumente wie die Kinderrechts- und Wanderarbeitnehmerkonvention der Vereinten Nationen vollständig umgesetzt werden (…)” (Caritas e. V. 2008: 54).

Eine dritte Unterstützergruppe besteht aus Organisationen, die themenspezifisch agieren und dabei die fehlende staatliche Fürsorge gegenüber illegalen Migranten im Gesundheitsbereich kompensieren. Seit Mitte der 1990er Jahre sind praxisbezogene Organisationen von Ehrenamtlichen entstanden. Bei den Medinetzen und Medibüros handelt es sich um Zusammenschlüsse von Ärzten, Medizinstudenten und in Pflegeberufen tätigen Menschen, die eine kostenlose und anonyme medizinische Versorgung anbieten. Zu den Hauptforderungen dieser Organisationen gehört der legale Zugang zu Gesundheitsversorgung. Dazu fordern sie die Abschaffung des Paragraph 87 sowie die Einführung eines anonymen Krankenscheins.[5] Auch die Bundesärztekammer fordert einen legalen Zugang zur Gesundheitsversorgung.[6]

Eine letzte Akteursgruppe stellen Kommunen und lokale Verwaltungen dar, die, häufig auf der Grundlage von Expertenberichten und in Kooperation mit der lokalen Zivilgesellschaft, Maßnahmen einführen, die die Lebenssituation illegaler Migranten verbessern sollen. 2004 beschloss die Stadt München auf der Basis von Handlungsempfehlungen[7] unter anderem die Einrichtung eines Fonds zur Deckung von Kosten der medizinischen Behandlung von illegalen Migranten. Auch von der Stadt Köln wurde ein Bericht über die Lebenssituation illegaler Migranten in der Stadt in Auftrag gegeben, dessen Empfehlungen vom Rat der Stadt Köln angenommen wurden.[8] Die Stadt Frankfurt bietet mit einer „Internationalen humanitären Sprechstunde” anonyme Gesundheitsleistungen an. In Berlin findet seit 2010 eine Interaktion von Senat und Zivilgesellschaft im Rahmen eines Runden Tisches zu Gesundheitsfragen sowie mit dem „Berliner Bündnis gegen Menschenhandel zum Zweck der Arbeitsausbeutung” statt.

Würden irreguläre Migranten in Deutschland über Argumente verfügen, um ein Recht auf legalen Aufenthalt erfolgreich zu legitimieren? In den europäischen Ländern, in denen unerwünschte Einwanderer zu politische Akteuren wurden, existierten zwei Argumentationsfiguren zur Legitimation der Forderung nach Inklusion: Eine gemeinsame Geschichte von Herkunfts- und Aufnahmeland oder eine Einwanderungstradition in das Aufnahmeland. Ein Blick auf die Herkunftsländer von irregulären Migranten in Deutschland zeigt ein disparates Nationalitätenprofil. Sie stammen aus Rumänien, der Ukraine, Serbien und Montenegro, der Türkei, Russland, China, dem Irak, Bulgarien und Indien (Vogel 2009). Es ist anzunehmen, dass vor der EU-Erweiterung im Jahr 2004 Polen die größte Gruppe stellten (Sinn et al. 2005: 61). In Bezug auf osteuropäische Migranten wäre die Entwicklung historisch orientierter Argumentationsmuster (etwa in Bezug auf Nationalsozialismus und deutsche Verbrechen im Zweiten Weltkrieg) zumindest denkbar. Jedoch ist die Illegalität von Osteuropäern durch wiederholte kurze Aufenthalte, eine starke Bindung an das Herkunftsland und die Möglichkeit, auch nach einer Entdeckung relativ problemlos wieder nach Deutschland einzureisen, gekennzeichnet (Schönwälder 2004: 35/36). Dementsprechend könnte es sich hier um eine „handhabbare Illegalität” einer Gruppe handeln, deren Problemdruck nicht so groß ist, dass er in politische Aktivität münden würde. Allerdings könnten andere Nationalitäten, etwa Türken oder Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, sich durchaus auf eine Einwanderungstradition und damit einhergehende Verdienste berufen und mit dieser Begründung ein Aufenthaltsrecht fordern.

Massen­de­mon­s­tra­ti­onen durch das Branden­burger Tor?

Ist in Deutschland die Entstehung einer sozialen Bewegung denkbar, in deren Mittelpunkt illegale Migranten selbst stehen, die selbstbewusst in der Öffentlichkeit für ihre Rechte eintreten? Der Vergleich des deutschen Kontexts mit Ländern, in denen Pro-Regularisierungsbewegungen entstanden sind, spricht eher dagegen. Die politischen Kontexte, in denen eine Politisierung des Themas illegale Migration in Form von zivil-gesellschaftlichen Mobilisierungen und einer Selbstorganisation irregulärer Migranten stattfand, waren durch mehrere Merkmale gekennzeichnet: Erstens einen Umgang mit illegaler Migration, der ein gewisses Maß an struktureller Toleranz beinhaltete und trotz des unerlaubten Aufenthalts sozialstaatliche Inklusionsangebote bereithielt. Zudem verfügten irreguläre Migranten über die Erfahrung, dass bereits kollektive Legalisierungen stattgefunden hatten, und diese vorausgegangenen Regularisierungen fungierten als ein Anreiz, es quasi „erneut zu versuchen”. Zweitens standen in allen Ländern (neugegründete) Unterstützer mit einem eindeutig politischen und staatskritischen Profil zur Verfügung, die zur Durchsetzung ihrer Ziele unkonventionelle Protestformen nutzten. Drittens existierten historische Beziehungen zwischen den Herkunftsländern der Migranten und ihrem Ankunftsland, die die Forderung nach Inklusion argumentativ ermöglichten.

Zwei dieser drei mobilisierungsfördernden Faktoren lassen sich für den deutschen Fall nicht feststellen. Erstens enthält das deutsche Migrationsregime weder Anreize für kollektive Aktion in Form von vorangegangenen Legalisierungsprozessen noch Toleranzstrukturen, die ein Auftreten von illegalen Migranten im öffentlichen Raum favorisieren oder zumindest ermöglichen würden. Vielmehr soll der genannte Übermittlungsparagraf die Inanspruchnahme sozialer Rechte und damit auch die Möglichkeit einer partiellen sozialstaatlichen Inklusion aktiv verhindern. Zwar ließe sich argumentieren, dass kollektive Legalisierungsprozesse schlicht kein deutsches Instrument der Migrationspolitik sind und somit nicht als ein Ziel kollektiver Aktion fungieren können. Trotz-dem wäre denkbar, dass Mobilisierungen entstehen, etwa für eine verbesserte Gewährung sozialer Rechte. Hier zeigt sich jedoch der zweite Unterschied zwischen den drei skizzierten Fällen und Deutschland. Im Gegensatz zu Unterstützern mit einem politischen Selbstverständnis und einem disruptiven Aktionsrepertoire ist die deutsche Unterstützerlandschaft von Akteuren gekennzeichnet, die einen hohen Stellvertretungsanspruch haben und deren Handlungsrepertoire keine unkonventionellen Partizipationsformen beinhaltet. Zwar haben auch in Deutschland, analog zu den Entwicklungen in anderen europäischen Ländern, Veränderungen in der Zivilgesellschaft stattgefunden, und es sind neue Akteure im Politikfeld illegale Migration entstanden. Diese Organisationen haben jedoch eher ein soziales denn ein politisches Profil.

Im deutschen Fall greifen ein restriktives Migrationskontrollregime und eine spezifische Form der advokatischen Interessenvertretung ineinander und erschweren eine kollektive Aktion von illegalen Migranten. Zwar gäbe es innerhalb der Bevölkerung ohne Aufenthaltsrecht durchaus Gruppen, die ein erfolgreiches Framing zur Legitimation einer Forderung nach Inklusion entwickeln könnten. Aufgrund des Mangels an permissiven Elementen des Migrationsregimes und des Fehlens aktionsbereiter Unterstützer liegen jedoch wesentliche Voraussetzungen für die Selbstorganisation irregulärer Migranten nicht vor, ohne die auch potenziell erfolgreiche Argumentations- und Legitimationsstrategien nicht entwickelt werden können.

Trotzdem gibt es in Deutschland eine Entwicklung hinsichtlich der Gewährung sozialer Rechte. Sie findet jedoch vorwiegend auf institutionellem Weg und mit einem diskursiven Fokus auf allgemeine Menschenrechte statt. Wohlfahrtsverbände und NGOs betreiben mit menschenrechtlich orientierten Diskursen ein aktives Lobbying für illegale Migranten. 2009 wurde eine neue Verwaltungsvorschrift eingeführt, nach der Krankenhäuser bei Notfallbehandlungen nicht mehr verpflichtet sind, Daten an die Ausländerbehörde weiterzuleiten und NGOs und ihre Mitarbeiter nicht mehr wegen Beihilfe zum illegalen Aufenthalt belangt werden können.[9] Die kürzlich erfolgte Abschaffung der Übermittlungspflicht für Schulen stellt eine wichtige politische Veränderung im Umgang mit illegaler Migration dar. Zudem haben in den letzten Jahren politische Parteien wiederholt Gesetzesentwürfe für eine generelle Aufhebung der Übermittlungspflicht eingebracht.[10] Auf lokaler Ebene sind in den letzten Jahren durch die Interaktion von Kommunen und Zivilgesellschaft Verbesserungen beim Zugang zu sozialen Rechten entstanden. Abschließend lässt sich jedoch festhalten, dass der deutsche politische Kontext wesentliche Merkmale enthält, die die Entstehung von Mobilisierungen irregulärer Migranten unwahrscheinlich machen. Das interessante an sozialen Bewegungen ist freilich ihre Dynamik und Unberechenbarkeit, die sich auch den Instrumenten und Prognosen der sozialen Bewegungsforschung häufig entzieht. Trotzdem erscheint eine Massendemonstration von irregulären Migranten, die Menschen- und Aufenthaltsrechte einfordern, durch das Brandenburger Tor als unwahrscheinlich.

[1] Die Darstellung von Pro-Regularisierungsbewegungen und den Gründen für ihre Emergenz basiert auf Laubenthal, Barbara (2007): Der Kampf um Legalisierung. Soziale Bewegungen illegaler Migranten in Frankreich, Spanien und der Schweiz. Frankfurt/Main: Campus-Verlag.

[2] Unter irregulären Migranten werden hier Migranten verstanden, die über keine Form eines juristischen Aufenthaltsrechts verfügen.

[3] Vgl. hierzu Kössler, Melanie et al. (2011): Aufenthaltsrechtliche Illegalität. Beratungshandbuch 2010. Deutscher Caritas-Verband e.V./Deutsches Rotes Kreuz e.V. :Berlin/Freiburg, S.22-23.

[4] Vgl. http://www.forum-illegalitaet.de/. Konsultiert am 03.06.2011.

[5] http://www.medibuero.de/de/News/Bundesweiter_MedibueroAustausch.html. Konsultiert am 03.06. 2011

[6] http://www.bundesaerztekammer.de/page.a~p?his=0.2.6578.8260.8265.8506.8507. Konsultiert am 03.06.2011.

[7] Anderson, Philipp (2003): „Dass sie uns nicht vergessen.” Menschen in der Illegalität in München. Eine empirische Studie im Auftrag der Landeshauptstadt München. München: Sozialreferat der Stadt München.

[8] Vgl. Bommes, Michael/Wilmes, Maren (2007): Menschen ohne Papiere in Köln. Eine Studie zur Lebenssituation irregulärer Migranten. Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Osnabrück.

[9] Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 18.092009; Drucksache 669/09.

[10] Vgl. zu einem Gesetzesentwurf der SPD im Jahr 2009 und zu menschenrechtlichen Argumentationsmustern Friedrich, David (2011): „Illegale Ausländer sind natürlich Menschen”. Zum Schulzugang statusloser Kinder in Deutschland. Analyse des medialen und politischen Diskurses. Unveröff. Hausarbeit, Ruhr-Universität Bochum.

Literatur

Bade, Klaus J. (2001): Die „Festung Europa” und die illegale Migration, in: Ders. (Hg..): Integration und Illegalität in Deutschland, Rat für Migration e.V., Osnabrück, S. 65-76.

Bielefeld, Heiner (2006): Menschenrechte „irregulärer” Migrantinnen und Migranten, in: Alt, Jörg/Bommes, Michael (Hg.): Illegalität. Grenzen und Möglichkeiten der Migrationspolitik. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 81-93.

Bommes, Michael/Wilmes, Maren (2007): Menschen ohne Papiere in Köln. Eine Studie zur Lebenssituation irregulärer Migranten. Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, Osnabrück.

Bundearbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (Hg.) (2010): Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität. Positionspapier. Berlin.

Deutscher Caritas-Verband e. V. (2008): Miteinander Leben. Perspektiven des Deutschen Caritasverbandes zur Migrations- und Integrationspolitik. Grundlagen. Zentrale Botschaften. Erläuterungen.

Karakayali, Serhat (2008): Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: Transcript.

Kössler, Melanie et al. (2011): Aufenthaltsrechtliche Illegalität. Beratungshandbuch 2010. Deutscher Caritas-Verband e.V./Deutsches Rotes Kreuz e.V. :Berlin/Freiburg.

Laubenthal, Barbara (2011): The negotiation of social rights of irregular migrants in Germany — a challenge to the nation-state, in: Ethnic and Racial Studies, Jg. 34, H 8.

Mitrovic, Emilija (2009a): Schulbesuch von Kindern illegalisierter MigrantInnen. Leben in der Schattenwelt. Studie zur Situation von Menschen ohne gültige Papiere in Hamburg. Eine Feldstudie im Auftrag des Diakonischen Werks Hamburg. Arbeitspapier 3/ 2009.

Mitrovic, Emilija (2009b): Arbeiten in Illegalität. Leben in der Schattenwelt. Studie zur Situation von Menschen ohne gültige Papiere in Hamburg. Eine Feldstudie im Auftrag des Diakonischen Werks Hamburg. Arbeitspapier 5/ 2009.

Schönwälder, Karen et al. (2004): Migration und Illegalität in Deutschland, AKI-Forschungsbilanz 1. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (2001): Leben in der Illegalität. Eine humanitäre und pastorale Herausforderung. Bonn.

Sinn, Annette et al. (2006): Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige in Deutschland: Staatliche Ansätze, Profil und soziale Situation. Forschungsstudie 2005 im Rahmen des Europäischen Migrationsnetzwerks. Forschungsberichte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Bd. 2. Nürnberg.

Vogel, Dita/Aßler, Manuel (2010): Kinder ohne Aufenthaltsstatus — illegal im Land, legal in der Schule. Studie für den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Berlin.

Vogel, Dita /Cyrus, Norbert (2008): Irregular Migration in Europe — Doubts about the Effectiveness of Control Strategies. Focus Migration Policy Brief No. 9, March.

Vogel, Dita (2009): How many irregular residents are there in Germany? Estimates on the basis of police criminal statistics. Database on Irregular Migration, Working paper No.3. Hamburg Institute of International Economics (HWWI).

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