Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 185: Die verdrängte Revolution

Was ist zwanzig Jahre danach zu feiern?

Zur Bedeutung von 1989 in der deutschen Geschichte und Gegenwart,

aus: vorgänge Nr. 185, Heft1/2009, S. 26-30

Die zwanzigste Wiederkehr des annus mirabilis 1989 wird in Deutschland mit beträchtlichem Aufwand begangen: wichtige Publikationen sind bereits erschienen, zahlreiche Veranstaltungen, Kongresse, Vorträge, Ausstellungen sind angekündigt, die Medien werden das Geschehen auf ihre Weise „verarbeiten“ und selbstverständlich wird es auch die obligaten Staatsakte und andere offiziöse Bekundungen geben. Und doch scheint sich in die Vorbereitungen Unsicherheit und Skepsis zu mischen, die sich aus sehr unterschiedlichen Motiven speisen. Unverkennbar beziehen sie sich sowohl auf das Geschehen als auch auf dessen Gegenwartsbezug.

Auf diesem Hintergrund soll hier in einer kleinen Skizze versucht werden, den Charakter des Geschehens von 1989, über das schon die Begrifflichkeit differiert, zu bestimmen, seine Bedeutung im Kontext der deutschen Geschichte zu kennzeichnen sowie europäische Zusammenhänge des Geschehens aufzuzeigen, um daraus Folgerungen für den Umgang mit dem Geschehen in der öffentlichen Erinnerung zu ziehen. Dies schließt eine Reflexion der gegenwärtigen Situation ein. Es geht hier also weniger um die Diskussion zeithistorischer Fragen als um den Stellenwert von 1989 in der heutigen deutschen Erinnerungskultur.

I

Dass 1989-91 eine weltgeschichtliche Zäsur bildet, ist weithin unstrittig. Doch was diese herbeigeführt hat und wie sie zu dem Vorhergehenden in Beziehung zu setzen ist, darüber gehen die Einschätzungen auseinander, was schon in der Begrifflichkeit zum Ausdruck kommt.

Nach wie vor wird in Deutschland vielfach der von Egon Krenz geprägte blasse Begriff „Wende“ gebraucht, als ob es sich nur um eine Richtungsänderung gehandelt hätte. Abgesehen davon, dass er ironischerweise mit Helmut Kohls Begriff der „geistigmoralischen Wende“ von 1982 ein Stück weit konvergiert, unterschätzt er die Tiefe des Umbruchs.

Andere sprechen von einer „Implosion“ des kommunistischen Systems. Keine Frage, dass die Jahre 1989-1991 in den kommunistischen Systemen durch eine Überlagerung längerfristiger ökonomisch-technologischer und ideologischer Erosionsprozesse mit kurzfristigen politischen Krisenphänomenen gekennzeichnet waren. Sicherlich hat der Umbruch seine längere Vorgeschichte, nicht zuletzt in der Entwicklung des „realen Sozialismus“, der angesichts der neuen technologisch-ökonomischen Herausforderungen seit den 70er Jahren gegenüber dem westlichen Kapitalismus hoffnungslos ins Hintertreffen geriet. Seine wirtschaftliche Stagnation war unübersehbar. Ob deshalb jedoch der Begriff „Implosion“ für diese Umwälzung angemessen und damit der Begriff „Revolution“ abwegig ist, ist zu bezweifeln.

Es handelte sich beim Geschehen im Herbst 1989 nicht nur um einen Zusammenbruch, sondern eben auch um die Folgen des mutigen Handelns von oppositionellen Gruppen und Volksbewegungen. Beide bewirkten, auch wenn dies nicht alle Menschen in gleicher Weise als Ziel hatten, nicht lediglich einen Regierungs- sondern einen Systemwechsel, der sich keineswegs auf die politische Ebene beschränkte, sondern Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur einschloss. Für derartige plötzliche Systemwechsel verwenden wir in der Regel den Begriff „Revolution“. Ihn für diesen Umbruch zu verweigern, ist allenfalls dann möglich, wenn man den Begriff an Bildern einer Jakobinerdiktatur als Inkarnation revolutionären Handelns oder am marxistisch-leninistischen Revolutionsverständnis ausrichtet. Gewaltanwendung würde dann als konstitutiv für eine Revolution betrachtet oder auch Revolution an einem bestimmten ideologischen Ziel gemessen. Der Begriff der „friedlichen Revolution“, der schon von den Zeitgenossen verwandt wurde, erscheint jedoch durchaus angemessen. Dem widerspricht nicht wirklich, dass das Regime bis in die erste Oktober-Hälfte 1989 durchaus Gewaltmittel anwandte. Der Begriff Herbstrevolution ist dabei keine Alternative.

Für manche reduziert sich die „Friedliche Revolution“ auf einen Aspekt der „Vorbereitung der Wiedervereinigung“. Dies unterschätzt offensichtlich die Eigengewichtigkeit der Umwälzung im Herbst 1989, die allerdings in einer zweiten Phase tatsächlich zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten, d.h. zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, führte. Wesentliche Momente waren dabei sowohl das Ziel, die Überwindung des kommunistischen Systems durch Einführung der westlichen Ordnung auf Dauer zu stellen, als auch das Wiedererwachen des – niemals gänzlich verschwundenen – Zusammengehörigkeitsbewusstseins der Deutschen.

Da die Vereinigung durch staatliches Handeln nicht identisch mit der „Friedlichen Revolution“, sondern eher ihre Konsequenz war, mag man fragen, ob der Begriff der „Friedlichen Revolution“ den Gesamtprozess abdeckt oder ob man für diesen zwei Begriffe oder den der „Umwälzung 1989/90“ verwenden sollte.

II

1989/90 ist im Kontext der deutschen Geschichte zweifellos ein Datum von herausragender Bedeutung. Man kann geradezu 1989/90 als Beendigung des „deutschen Sonderwegs“ betrachten, als dessen Kennzeichen seit dem 19. Jahrhundert die lange Dauer vordemokratischer obrigkeitsstaatlicher Strukturen und entsprechende Mentalitäten, das Fehlen einer erfolgreichen Revolution und die lange ungeklärte Nationalstaatsproblematik bzw. die Überlagerung all dieser Momente bei zunehmend beschleunigtem ökonomischen Wandel aufgefasst worden sind.

Die Überwindung des SED-Systems und das Ende der DDR verweisen jedenfalls auf verschiedene Zusammenhänge dieser deutschen Geschichte. Zunächst einmal wird damit eine Diktatur beseitigt, die gewiss anderer Natur als die NS-Diktatur war und keine vergleichbare kriminelle Energie entfaltete, doch weit von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entfernt war. Dabei war das SED-System insofern spezifischer Art, als es einerseits die Übertragung des sowjetischen Systems auf den östlichen Teil Deutschlands darstellte, andererseits aber deutsche, nicht nur kommunistische Traditionen weiterführte – etwa in der Negierung von Pluralismus, in einem bestimmten Organisationsfetischismus, in einer Staatsorientierung u.a. Etlichen Beobachtern erschien die DDR sogar als der deutschere Staat, der – in manchen Hinsichten hermetisch abgeschlossen – Besonderheiten pflegte. Der Westernisierung der Bundesrepublik entsprach im Grunde nur sehr bedingt eine Sowjetisierung der DDR. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik wurde auch dieser ein Teil jenes Europas, das durch internationale Offenheit geprägt ist.

Ziel der oppositionellen Gruppen war dabei durchweg nicht das kapitalistische Wirtschaftssystem, sondern die Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte, der Gewaltenteilung, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Bei manchen verband sich dies mit Vorstellungen eines Dritten Weges. In der Volksbewegung ging es dann gewiss auch um ein anderes Leben als das in der DDR vorherrschende. Aufs Ganze gesehen hatte jedoch die Bewegung des Herbstes 1989 die Selbstbefreiung der Menschen zum Ziel. Die Bewegung des Herbstes 1989 lässt sich damit – um es pointiert zu formulieren – den Freiheitsbewegungen der deutschen Geschichte zuordnen, sie war sogar die erfolgreichste Freiheitsbewegung deutscher Geschichte. Gustav Heinemann hat in den frühen 70er Jahren nachdrücklich gefordert, die Freiheitstraditionen deutscher Geschichte bewusst zu machen und hat deshalb die Gründung des Museums für Freiheitsbewegungen der deutschen Geschichte in Rastatt angeregt. Die Bewegung des Herbstes 1989 hat in diesem Zusammenhang ihren historischen Ort.

Überwunden wurde 1989/90 auch die deutsche Zweistaatlichkeit. Damit wurde ein wesentliches Kennzeichen des „deutschen Sonderwegs“ überwunden – die mit der Reichstradition und der Staatsbildung auf territorialer Grundlage zusammenhängende Schwierigkeit, einen nationalen Staat zu gründen und ihn mit dem Prozess der Modernisierung und Demokratisierung der Gesellschaft in Einklang zu bringen. Erstmals in der deutschen Geschichte konnten 1989/90 Einheit und Freiheit, Nation und Demokratie wirklich zusammengebracht werden. Dass dies lange Zeit nicht gelungen war, hatte die deutsche von der westlichen Entwicklung unterschieden, mit großen Teilen Osteuropas aber verbunden.

Die „Friedliche Revolution“ und die deutsche Vereinigung waren in vieler Hinsicht europäische Ereignisse. Die Entwicklungen in Polen und in Ungarn, doch auch Gorbatschows Reformpolitik in der Sowjetunion ermöglichten und stimulierten den Prozess in Deutschland. Zugleich hat die „Friedliche Revolution“ in der DDR als Katalysator für das Ende der kommunistischen Herrschaft in Europa gewirkt. Die „Friedliche Revolution“ war damit Teil eines ganz Osteuropa erfassenden Prozesses. Anders als 1953, 1968,1980 war jetzt Europa insgesamt betroffen, so dass die Überwindung der Teilung Europas und des Ost-West-Gegensatzes möglich wurde. Im Grunde haben wir es 1989 wie 1848 mit einer europäischen Revolution zu tun, allerdings mit dem Unterschied, dass die Revolution 1989 nicht scheiterte.

Was die deutsche Vereinigung anbetrifft, so stieß der Vereinigungsprozess durchaus auf Vorbehalte in Europa – bei den Regierungen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Polens, zunächst auch der Sowjetunion. Bemerkenswert ist jedoch, dass sie in einer mit den Interessen der anderen europäischen Länder kompatiblen Weise realisiert werden konnte. Es wurde nicht ein autonomer Nationalstaat wiederhergestellt, sondern ein „europäisches Deutschland“, ein deutscher Nationalstaat, der sich bewusst in den europäischen Integrationsprozess eingeordnet hat, gebildet. Heinrich August Winkler hat vom „postklassischen Nationalstaat“ gesprochen. 1989/90 steht damit auch für eine neue europäische Perspektive.

III

Wenn man danach fragt, warum sich manche mit der Erinnerung an 1989/90 so schwer tun, so kommt man nicht umhin, die Folgen der Umwälzung mit einzubeziehen.

Zweifellos sind viele Bürgerinnen und Bürger in der früheren DDR von der Entwicklung seit 1990 enttäuscht. Der Wandel der Lebensverhältnisse war allzu radikal; die Menschen kamen in eine Welt, die sie vielfach als kalt und rücksichtslos empfanden. Viele hatten Probleme mit der neuen Freiheit. Adam Michnik hat dies im Hinblick auf Polen so formuliert: „… das Ende des Kommunismus offenbarte uns das tiefe Bedürfnis nach einem Leben in einer sicheren und vorhersehbaren Welt.“ So sehnten sich manche irgendwie in ihre Lebenswelt in der DDR zurück.

Das Erbe der SED-Diktatur war zudem ungleich verheerender als angenommen, in verschiedenen Hinsichten. Problematische Weichenstellungen kamen hinzu. Massive jahrelange Hilfe vom Westen wurden dadurch nötig, Mittel, die irgendwie in Westdeutschland fehlten – wenn auch keineswegs die meisten Probleme im Westen auf die zusätzlichen Lasten zurückzuführen waren. Und unter den Bedingungen eines verschärften globalisierten Wettbewerbs gelang es in den neuen Ländern nur sehr bedingt, einen selbsttragenden Aufschwung zu Stande zu bringen. Folgen waren Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit, trotz großer Transferleistungen von West- nach Ostdeutschland.

Dass dies die Erinnerung an die Umwälzung 1989/90, die Zeit der großen Erwartungen und Hoffnungen beeinträchtigen musste, war klar. „Ostalgie“ machte sich in der früheren DDR breit, stimuliert auch durch die alten Kader des SED-Systems. Kennzeichen dieser „Ostalgie“ ist, dass nur bestimmte Dinge erinnert werden. Umgekehrt werden problematische Aspekte der Gegenwart betont. Doch waren bei fairer Betrachtung die letzten 20 Jahre – wie Adam Michnik für Polen formuliert hat – keineswegs „nur ein Haufen Unglück“ – im Gegenteil.

Der Amerikaner Francis Fukuyama hat in den frühen 90er Jahren – die Geschichtsphilosophie Hegels aufgreifend – die These vom Ende der Geschichte vertreten, was so viel hieß, dass ein über das westliche Projekt hinausführendes politisches Projekt nicht mehr denkbar sei. Diese These ist sogleich auf Widerspruch gestoßen, obgleich ein derartiges alternatives Projekt nicht sichtbar wurde. Vieles wurde im früheren Herrschaftsbereich des Sowjetkommunismus inzwischen vorangebracht. Doch allzu offensichtlich traten auch problematische Seiten eines Marktradikalismus hervor. Und dieser Radikalismus mit seiner gigantischen verantwortungslosen Finanzspekulation mündet jetzt in eine große Krise ein. Dass dies das westliche Modell für viele Menschen aus der DDR – und nicht nur aus der DDR – ein Stück weit eindunkelt, ist nur zu verständlich.

Es ist deshalb klarzulegen, dass die westlichen Werte mehr waren und sind als das radikale Marktprinzip. Es geht 2009 um ein Erinnern, das nicht nur die Vorzüge der demokratischen Werte feiert, sondern deren immer wieder neu zu leistende Durchsetzung anmahnt, gerade auch in den Zeiten der Globalisierung und der Krise.

IV

Die deutsche Erinnerungskultur der Gegenwart weist besondere Merkmale auf. Charakteristisch ist die Dominanz des – wie Reinhard Koselleck formuliert hat – „negativen Gedächtnisses“, in dessen Zentrum zu Recht der Holocaust steht. In diesem Gedächtnis spielt neben der Zeit des Nationalsozialismus die SED-Diktatur eine gewisse Rolle, die von manchen – die Unterschiedlichkeit beider allzu sehr nivellierend – als „zweite deutsche Diktatur“ – bezeichnet wird. Keine Frage, dass dieses Gedächtnis für die deutsche Gesellschaft unverzichtbar ist.

Es stellt sich jedoch durchaus die Frage, ob ohne Verdrängung der negativen Erinnerungskomplexe nicht auch positive Traditionen stärker erinnert werden sollten, insbesondere die Freiheitsbewegungen deutscher Geschichte, die schon Gustav Heinemann im deutschen Geschichtsbewusstsein verankern wollte.

Zu denken ist an die Bewegung von 1848/49, an die für die demokratische Entwicklung in Deutschland zentrale sozialdemokratische Arbeiterbewegung, an den Widerstand gegen Hitler, an den 17. Juni 1953 und eben an die Bürger- und Volksbewegung 1989. 1989 wurde das nachgeholt, was vielfach als Defizit der deutschen Entwicklung betrachtet worden ist: eine erfolgreiche Revolution, im Grunde die erste in der deutschen Geschichte. Deshalb ist es an der Zeit, ihr einen besonderen Platz in der deutschen Erinnerungskultur einzuräumen. Dazu kann das Jahr 2009 beitragen.

Die Erinnerungskultur darf gewiss Diskurse über die verschiedenen Vergangenheiten nicht verhindern. Vergangenheit ist nicht still zustellen, vielmehr hat ihre Vergegenwärtigung zur Orientierung in der Gegenwart beizutragen. So ist nach der Last der Vergangenheit ebenso zu fragen wie nach dem, worauf wir stolz sein können, und dem, was auf dem Hintergrund der Geschichte in der Gegenwart zu bedenken und zu verbessern ist.

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