Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 182: Die Aufgabe des Staates

Die neue Gegen­wär­tig­keit des Wohlfahrts­s­taa­tes*

aus: vorgänge Nr.182, Hefz 2/2008, S. 45-55

Ist der Wohlfahrtsstaat ein historisches Auslaufmodell? Haben wir es aktuell mit einem Verschwinden von Staatlichkeit zu tun? Zerfällt das Politische und vermarktlicht die Gesellschaft? Bemerken wir nicht allerorten dramatische fiskalische Erschöpfungszustände staatlichen Handelns? Empirische Beobachtungen der wachsenden Privatisierung öffentlicher Aufgaben und das Selbstbewusstsein zahlreicher Apologeten freier Märkte sprechen zunächst dafür, diese Fragen zu bejahen. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich zum einen, dass auch die Privatisierung staatlicher Dienste ein politisch und rechtlich gerahmtes Projekt ist, in dessen Kontext beispielsweise neue staatliche Regulierungsbehörden entstehen. Und die Freunde der freien Marktwirtschaft lassen oft als erste den Ruf nach staatlicher Intervention hören, wenn die Geschäfte schlecht laufen oder die eigenen Interessen gefährdet erscheinen. Der Wohlfahrtsstaat mag mithin viele Verächter und wenige Freunde haben, aber er erweist sich in seinem institutionellen Gerüst (noch) als erstaunlich stabil. Und ohnehin gilt, dass eine moderne, technologisch komplexe, sozial differenzierte und politisch plurale Gesellschaft in höchstem Maße staatsbedürftig ist. Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft ist kein normativer Programmpunkt politischer Überzeugungen, sondern schlichtweg eine strukturelle Voraussetzung für die Funktionalitäten des zunehmend rechtlich regulierten Sozial- und Wirtschaftslebens. Niemand hat das nüchterner und präziser benannt als der konservative Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff. Wir kommen darauf zurück.

Doch wie steht es um den Wohlfahrtsstaat? Zunächst einmal können wir recht nüchtern konstatieren, dass wir es heute mit einem Modellwechsel staatlicher Ordnungsvorstellungen zu tun haben. Das Modell des gewährleistenden, Rahmen setzenden und Grundleistungen garantierenden Staates setzt sich durch. Modellwechsel hört sich freilich harmloser an als es ist. Bemerkenswert sind die starken, die sozialen Ungleichheiten verschärfenden Wirkungen und Konsequenzen dieses Prozesses. Er ist das Ergebnis des Endes des Erfolgsbündnisses von Wohlfahrtsstaat und industriell organisierter Erwerbsarbeit. Wer über die Veränderungen wohlfahrtsstaatlicher Politik spricht, dem kommen zwangsläufig nicht nur neue institutionelle Arrangements in den Blick, sondern auch neue soziale Fragen. Diese Fragen drehen sich nicht ausschließlich um Armut und Benachteiligung, sondern auch um die künftige Verteilung von Wohlstandsverlusten – positiv formuliert: um die Neubestimmung des Wohlstands. Doch der Reihe nach. Verschiedene Fragen sind im Folgenden anzusprechen und zu diskutieren. Was hat es erstens mit der Formel „Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft“ auf sich? Wie ist zweitens die neue Gegenwärtigkeit des Staates zu erklären? Wie gestalten sich zum dritten unterschiedliche Modelle moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit? Und worauf zielt schließlich die politische Gestaltung wohlfahrtsstaatlicher Politik heute?

Was hat es mit der Formel „Die Staats­be­dürf­tig­keit der Gesell­schaft“ auf sich?

Mit Hilfe der Formel der „Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft“ rechnete in den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in der industriellen Moderne durch. Das Ergebnis seiner Berechnungen war, dass die Industriegesellschaft in ihrer Entwicklungsgeschichte jede Idee des Staates verloren hat. Der „Staat der Industriegesellschaft“ (vgl. Forsthoff 1971) ist für Forsthoff nur noch eine „Erinnerung an den Staat“. Dennoch ist die moderne, industrielle Gesellschaft in ihren Stufen und Gliederungen, Lagen und Milieus, sowie in ihrer Vitalität und Aktivität staatsbedürftig wie keine Gesellschaft zuvor. Der Staat ist, so Forsthoff, in erheblichem Umfange zur Funktion der Gesellschaft geworden und daher ist das soziale und wirtschaftliche Geschehen ohne staatliche Daseinsvorsorge schlichtweg funktionsunfähig. In der Frage nach der Staatsbedürftigkeit spiegelt sich die Sorge um politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität.

Diese Sorge hat im Zeitalter zivilgesellschaftlicher Emanzipation und fortschreitender Transnationalität von Staatlichkeit neue Nahrung erhalten. Folgende, nach wie vor aktuelle Aspekte sind für Forsthoffs Analyse von hoher Bedeutung. Da ist zum einen die wirtschaftliche Umklammerung und Formung des Staates, weiterhin die wachsende soziale Empfindlichkeit des modernen Daseins und zuletzt die Daseinsvorsorge als infrastrukturelle Existenzbedingung moderner Industriegesellschaften. Alle diese Aspekte führen zu Grundfragen des Verhältnisses von Staatlichkeit und Gesellschaft. Der Staat unterwirft sich in den Augen Forsthoffs den Sachzwängen des technisch-industriellen Fortschritts. Die Industriegesellschaft gerät zum treibenden Subjekt, der Staat zum bewegten Objekt.

Doch auch wenn der moderne Staat gegenüber den Mächten der Ökonomie und Technik an Kraft eingebüßt haben mag, so verleiht der Staat als „Verwaltung des Sozialen“ in Forsthoffs Augen dem Gesellschaftsgefüge dennoch ein hohes Maß an politischer Stabilität. Zwei Faktoren sind für diese Stabilität verantwortlich: Der moderne Staat ist erstens ein Sozialleistungsstaat. Zweitens gründet sich auf dem Arbeitnehmerstatus und durch die Teilhabe am Erwerbsleben ein spezifisches Lebensgefühl der modernen Gesellschaft. Das heißt aber auch: Die Stabilität und Legitimität des Staates steht und fällt mit der sozialen und wirtschaftlichen Verteilung von Gütern und Diensten. Die Stabilität des Sozialen liegt mithin nicht im Staat als Struktur und Idee, sondern in der Technizität und Materialität der Ökonomie. Selbst wenn wir Forsthoffs Melancholie, mit der er die Preisgabe der Staatsidee an die empirischen Bedürfnisse der Gesellschaft nach Wohlstand und Wachstum betrauert, nicht teilen möchten, so erhalten wir in seiner Analyse des „Staates der Industriegesellschaft“ dennoch eine erstaunlich aktuelle Skizze der Verwobenheit von Wohlfahrtsstaatlichkeit auf der einen und technikgetriebener bzw. ökonomiezentrierter Gesellschaft auf der anderen Seite.

In den Ausführungen Forsthoffs finden wir Hinweise auf die empfindliche und tiefreichende Abhängigkeit des Wohlfahrtsstaates von den Funktionen des Ökonomischen, mithin einen Ausblick auf die Probleme, Blockaden und Fragen der Neugestaltung des Verhältnisses von Wohlfahrtsstaat und gesellschaftlichen Bedürfnissen, die die heutige politische Reformdebatte durchziehen. Die Arbeitsgesellschaft, die wir nicht mehr industrielle, sondern eher dienstleistende oder wissensbasierte nennen, bedarf im Grundsätzlichen des Staates, seines Rechtssystems und seiner wirtschaftlichen Aktivitäten, um ihre Funktionsfähigkeit abzusichern und zu gewährleisten. Umgekehrt ist der Wohlfahrtsstaat, der im Kern ein aktiver Steuerstaat ist, in substantieller Weise auf eine funktionstüchtige Ökonomie, eine steuerkräftige Erwerbbevölkerung und eine produktive Technikentwicklung angewiesen, um sich durch Leistungsfähigkeit Legitimität zu verschaffen.

In diesem Kontext wirft Forsthoff die Frage der „sozialen Empfindlichkeit des modernen Daseins“ auf. Diese Frage bietet Anschluss an aktuelle soziologische Debatten zu Fragen der „negativen Individualisierung“ bzw. der sozialen Verwundbarkeit (vgl. Castel 2000). Was aber genau bedeutet in Forsthoffs Verständnis „soziale Empfindlichkeit“? Mit der Durchsetzung der arbeitsteiligen, urbanisierten und sozial wie räumlich mobilisierten Industriegesellschaft hat die individuelle Daseinsführung eine neue Qualität gewonnen. Zeitverständnis und Raumerlebnis des Menschen haben sich grundlegend verändert. Individuelle Labilität und die Abhängigkeit des Einzelnen von externen sozialen und ökonomischen Veränderungen sind Kennzeichen der industriellen Moderne. Zugleich bietet die technische Entwicklung ein historisch unbekanntes Höchstmaß individueller Mobilitätsfähigkeit sowie persönlicher Gestaltungsoptionen im familiären bzw. beruflichen Leben. Der wachsende Wohlstand und die gesteigerte Mobilität gründen sich dabei immer weniger auf eigene Ressourcen, deren Wurzeln im vom Einzelnen (und seiner Familie) beherrschten sozialen Umfeld liegen, sondern immer mehr auf von außen durch staatliche Aktivitäten und Eingriffe zur Verfügung gestellte. Die anhaltende und für die Moderne konstitutive Spannung zwischen Entwurzelung und Freiheitsgewinn, zwischen immer wieder neu zu justierenden Ent-und Begrenzungen der Daseinsformen, fordert Aktivitäten des verwaltenden, arbeitenden und daseinsvorsorgenden Staats heraus.

Die staatliche Intervention und Gestaltung des Sozialen ist daher längst keine Frage des guten Willens paternalistischer Wohlfahrtsgewährung mehr, sondern die Voraussetzung gesellschaftlichen Funktionierens. Eine abschließende Bemerkung zur Daseinsvorsorge. Sie ist in allen rechtsstaatlich organisierten Demokratien Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum zentralen Legitimationsbaustein staatlicher Herrschaft geworden. In der Daseinsvorsorge werden Rechts- und Sozialstaat zusammengebunden, in ihr spiegelt sich der Sachverhalt, dass Rechtsstaatlichkeit in ihrer historischen Heranbildung niemals nur formal, sondern immer auch material verstanden wurde. Daseinsvorsorge hat mit der Gestaltung des sozialen Ganzen zu tun. Sie repräsentiert für Forsthoff das verwaltungsrechtliche Kernelement der Staatsbedürftigkeit. Soweit zu der Formel der Staatsbedürftigkeit. Wie ist nun die neue Gegenwärtigkeit des Staates zu erklären, der sehr lange im Schatten der linken wie neoliberalen Bürokratiekritik stand bzw. in den Konzeptionen einer Bürgergesellschaft oder in politischen Leitbildern „Dritter Wege“ kaum mehr eine Rolle spielte. Es ist kaum übertrieben, zu behaupten, dass die sozialwissenschaftliche Diskussion der vergangenen Jahrzehnte von einer gewissen Staatsvergessenheit gekennzeichnet war.

Wie ist die neue Gegen­wär­tig­keit des Staates zu erklären?

Warum also kehrt der Staat als Denkkategorie und Ordnungsvorstellung des Sozialen in die Kontroversen unserer Zeit zurück? Wahrscheinlich deswegen, weil die wirtschaftlichen, die fiskalischen, die demographischen und kulturellen bzw. sozialmoralischen Voraussetzungen des „Staates der Industriegesellschaft“, die Forsthoff noch vor Augen hatte, tatsächlich an Tragfähigkeit eingebüßt haben. Aber nicht nur die Voraussetzungen und Inhalte der Staatsbedürftigkeit sind andere geworden, auch die Bedürfnisstruktur der Gesellschaft unterliegt dem Wandel. Wirkt hier nicht ein soziologisches Gesetz?

Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft tritt immer in dem Moment besonders klar hervor, wenn das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in neuer Weise problematisch wird. Im konkreten Fall, der uns heute vor Augen steht, heißt das: wenn die Symbiose von expansiver, intervenierender, sorgender Staatlichkeit und korporativer, kollektivierter und verrechtlichter Arbeitsgesellschaft zerbricht. Dieser Bruchpunkt zwischen sorgender Staatlichkeit und korporativer Arbeitsgesellschaft scheint seit längerem erreicht, allerdings wurde er im Falle der Bundesrepublik Deutschland seit 1989 durch die Problematiken der Wiedervereinigung – die eine staatsinterventionistische Veranstaltung par excellence war – überdeckt und in seinen Folgen seit Ende der 90er Jahre zugespitzt. Aber dieser Bruchpunkt alleine reicht noch nicht aus, damit der Staat als Ordnungsprinzip und Denkkategorie des Sozialen wieder Präsenz gewinnt.

Die soziologisch entscheidende Frage ist vielmehr, für wen und an welchen Orten wird das Verhältnis von Staat und Gesellschaft problematisch? Solange sich die Folgen und die Probleme wohlfahrtsstaatlicher Reformen auf die sozialen Randlagen dauerhafter Arbeitslosigkeit, materieller Armut und kultureller Abweichung konzentrierten, war die Welt für die Mehrheitsgesellschaft noch in Ordnung. Die allgegenwärtige Hintergründigkeit, das mehr oder weniger geräuschlose Funktionieren des Wohlfahrtsstaates war für die Mehrheit der Gesellschaft unproblematisch und willkommen. Nur, von einem geräuschlosen Funktionieren des Wohlfahrtsstaates kann mittlerweile keine Rede mehr sein. Die strukturelle und fiskalische Basis des in den Nachkriegsjahrzehnten etablierten Wohlfahrtsstaates ist nicht nur in die Jahre gekommen, sie steht in Frage. Die Folge davon ist nicht etwa wohlfahrtsstaatlicher Rückzug, sondern eine Flut von gesetzgeberischen Eingriffen in Leistungshöhen, Anspruchsvoraussetzungen und Berechnungsregeln in der Arbeitswelt, der Alterssicherung oder der Gesundheitsvorsorge. Und das markant Besondere dieser politischen Ordnungsbemühungen besteht eben darin, dass nicht mehr nur die Lebensbedingungen an den Rändern der Gesellschaft unter Druck gesetzt werden, sondern dass diese Ordnungsbemühungen jetzt auch in die soziale Gegenwart und in die Zukunftsentwürfe der Mittelklassen eingreifen. Wer über die neue Gegenwärtigkeit des Staates spricht, der hat nicht ausschließlich, aber im Kern die sozialen Spannungen und Nervositäten in der arbeitnehmerischen Mitte der Gesellschaft im Blick. Die fachgeschulten Beschäftigten in den öffentlichen Diensten und in den technisch-sozialen Berufen, die industriellen Facharbeiter und die kaufmännischen Angestellten registrieren im Angesicht des politischen Reformeifers ihren Bedarf an staatlich garantierter Statussicherung und sorgender Verwaltung. In der Mitte der Gesellschaft ist zu spüren, dass der erreichte soziale Status, die erworbene berufliche Karriere und die erkämpfte materielle Sekurität eng mit Fragen der Stabilität und Instabilität von Staatlichkeit und Wohlfahrtspolitik verknüpft sind.

Vieles spricht daher dafür, dass die Schärfe und Vehemenz der Auseinandersetzung um die Neuordnung des Wohlfahrtsstaates sehr viel damit zu tun haben, dass die aktuellen Reformversuche die Interessen etablierter, aufstiegs- und wachstumsorientierter sozialer Klassen und Milieus unmittelbar berühren. Ehemalige Aufsteiger drohen zu aktuellen Absteigern zu werden. Etablierte drohen Privilegien einzubüßen. Statuskämpfe um Anrechte auf Wohlstand und um Verpflichtungen zur Wohlstandssicherung treten in den Vordergrund gesellschaftlicher Konflikte. Die Frage nach der Staatsbedürftigkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und aus der Mitte der Gesellschaft kehrt sie auf die gesellschaftspolitische Tagesordnung zurück. Die ruhigen Zeiten einer geordneten Zwei-Drittel-Gesellschaft, die ihre sozialen Verwerfungen und materiellen Deklassierungen auf ein Drittel der Gesellschaft zu konzentrieren vermochte, sind Vergangenheit.

Aktuell verlassen wir, wie es der Historiker Tony Judt formulierte, den „Sicherheitssektor“ der wohlfahrtsstaatlichen Organisation der Gesellschaft (vgl. Judt 2006). Vor diesem Hintergrund sind die Gesellschaftswissenschaften aufgefordert, die Struktur und Gestalt sowie die Prägekraft und Steuerungsfähigkeit des Staates in neuem Lichte zu betrachten. Der Modellwechsel vom „sorgenden“ zum „gewährleistenden“ Staat wird zum Thema. Dieser Modellwechsel kennt Gegner und Befürworter, Protagonisten und Aufhalter, aber auch Milieus pragmatischer Gelassenheit, die für die wichtige Stabilität sorgen, ohne die kein sozialer Wandel stattfinden würde.

In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass immer dann, wenn der Wohlfahrtsstaat nicht nur als institutionelle Ordnung oder rechtliches Arrangement, sondern als ein konkreter sozialer Prozess betrachtet wird, die Rede auf die Veränderungen des sozialen Struktur- und Ungleichheitsgefüges kommt. Im Falle des Wohlfahrtsstaates haben wir es immer mit einem besonderen gesellschaftlichen Kampfplatz zu tun. Der Wohlfahrtsstaat ist nicht nur ein abstraktes Arrangement. Er wird repräsentiert durch Amtsträger und Bedientste, er kennt Profiteure, Dulder und Verlierer. Der Staat ist ein Feld widerstreitender Mentalitäten und Interessen, sowie eine durch spezifische Praxisformen der Regierung und Verwaltung herzustellende Institution. Kurzum, wer den Staat zum Thema macht, der spricht über Konflikte. Die wohlfahrtsstaatliche Politik prägt Lebenschancen und strukturiert soziale Ungleichheit, indem sie Privilegien zuweist und entzieht, indem sie das Gefüge aus sozialen Rechten und Pflichten ordnet und justiert. Der Wohlfahrtsstaat konstruiert und konstituiert „soziale Vorzugslagen“, aber auf diese Weise auch immer „soziale Benachteiligungslagen“. Der Wohlfahrtsstaat ist der Ort der sozialen Auseinandersetzungen um die politische und rechtliche Formulierung einer – in den Worten Robert Castels – „Handicapologie“. Die politische Praxis der Handicapologie fragt: Wer verdient für welchen Tatbestand welche finanzielle und normative Aufmerksamkeit, wessen Handicaps werden als berechtigt anerkannt und welche Handicaps erweisen sich als interventionstauglich, ausgleichsbedürftig oder vielleicht auch als zumutbar?

In wohlfahrtsstaatlich formierten Demokratien gibt es zu keinem Zeitpunkt dauerhaft sozialpolitisch befriedigte und dauerhaft sozialpolitisch enttäuschte soziale Gruppen bzw. Klassen, sondern die Enttäuschungs- und Befriedigungsintensität ist zwischen und innerhalb unterschiedlicher sozialer Klassen stets variabel. Diese prekäre und konfliktreiche Balance von Befriedigung und Enttäuschung gesellschaftlicher Erwartungen geht in Sozialforschung bzw. Gesellschaftsanalyse und ihrer Suche nach Wohlfahrtsstaatstypen weitgehend unter. Hinzu kommt die irrige Ansicht, dass Wohlfahrtsstaatlichkeit und Marktgesellschaft ein Gegensatz seien.

Der Maßstab des wohlfahrtsstaatlichen Handelns ist keineswegs der Schutz der Arbeitskraft vor dem Markt. So betont Karl Polanyi in seiner klassischen Studie zur „Great Transformation“ (vgl. Polanyi 1979), dass es gerade der sich etablierende Wohlfahrtsstaat ist, der die marktfähige Arbeitskraft überhaupt erst herstellt. Die wohlfahrtsstaatliche Organisation des Sozialen zielt nicht auf Marktabschirmung, sondern umgekehrt auf Marktbefähigung. Zugleich sind wir zunehmend mit sozialpolitischen Problemen zweiter Ordnung konfrontiert. Sozialpolitik dreht sich immer weniger um die Beeinflussung konkreter Problemlagen im Sinne einer Sozialpolitik erster Ordnung, sondern sie bearbeitet die Folgen sozialpolitischer Intervention. Es scheint ein ehernes Gesetz entwickelter Wohlfahrtsstaaten zu sein, dass jede Problemlösung neue Probleme schafft und die Dringlichkeit der noch ungelösten Probleme erhöht.

Die Grenzen des Wohlfahrtsstaates liegen mithin nicht alleine in den Problemen der fiskalischen Umverteilung oder Abgabenlast, sondern auch in den Antinomien der sozialpolitischen Praxis. Diese Praxis ist in schwelende Interessenkonflikte involviert, die sich zwischen den durch sozialpolitische Verteilung entweder gestärkten oder geschwächten Gruppen abspielen. Die Entwicklungsgeschichte des modernen Wohlfahrtsstaates ist eine Geschichte der Kämpfe um den Neubau, Ausbau und Abbau wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und Sicherungssysteme, sowie eine Geschichte der Auseinandersetzungen um die „regulativen Wertmaßstäbe“ der Sozialpolitik.

Daraus ergeben sich vier Schlussfolgerungen: Erstens, es gibt keine übergeordnete, zentrale Leitfunktion des Wohlfahrtsstaates, die sich in der Dämpfung und Einhegung von Marktmechanismen erschöpfen würde. Zweitens, „Markt“ ist kein diametraler Gegensatz zu wohlfahrtsstaatlicher Politik. Markt und Staat sind vielmehr wechselseitig aufeinander angewiesene Mechanismen der Regulation und Befriedigung potentiell divergenter Interessen und Bedürfnisse. Drittens, die wohlfahrtsstaatliche Lösung der Probleme einer gesellschaftlichen Gruppe erzeugt regelhaft Probleme für andere Gruppen der Gesellschaft. Die politische Balance sozialer Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, Arbeitern und Angestellten, Aufstiegsorientierten und Abstiegsverängstigten, zwischen deklassierten und etablierten Gruppen sowie zwischen „Wohlfahrtsgenerationen“ ist und bleibt zentrale Herausforderung der wohlfahrtsstaatlichen Justierung des Sozialen. Viertens, innerhalb der wohlfahrtsstaatlichen Organisation geraten regelmäßig unterschiedliche Beschäftigten- und Expertengruppen in Konflikt miteinander. Der Wohlfahrtsstaat ist ja nicht nur Zahlstelle, er ist ja auch Beschäftigungsort. In staatlichen und bürokratischen Organisationen etablieren sich immer wieder neue Expertengruppen. Diese „neuen Experten“ sind jetzt beispielsweise als Controller, Berater oder Therapeuten darum bemüht, ihr Fachwissen gegenüber den „alten Bürokraten“ durchzusetzen. Sie engagieren sich für neue Ordnungsvorstellungen des Sozialen bzw. für eine veränderte Regulation der aktuellen und potentiellen Klientel des Wohlfahrtsstaates. Hierzu entwerfen sie Curricula, verordnen Therapien, entwickeln Projekte und Programme.

Wie gestalten sich unter­schied­liche Modelle moderner Wohlfahrts­s­taat­lich­keit?

Nach dieser Bestimmung des Wohlfahrtsstaates als Ort latenter und manifester Konflikte um Leistungen, Ansprüche, Positionen und Karrieren können nun historisch wirkmächtige und sozialstrukturell wie sozialmoralisch formative Leitbilder unterschieden werden. Sie eignen sich zur Periodisierung und Typisierung wohlfahrtsstaatlichen Wandels. Die Rede ist von der systematischen Unterscheidung zwischen „sorgender“ und „gewährleistender“ Wohlfahrtsstaatlichkeit. Was sind die Charakteristika des „sorgenden Staates“ (vgl. de Swaan 1993)? Was zeichnet dieses Modell sozialer Ordnung aus, das die Nachkriegsgesellschaften in Europa auf so grundlegende Weise prägte? Was sind die Gestaltungsprinzipien sorgender Staatlichkeit? Die staatliche Sorge und Vorsorge – als Ausdruck politischer Planung und rechtlicher Gestaltung – zielte zusammengefasst auf mehrere Felder: Auf die Minimierung sozialer Risiken und die Dämpfung sozialer und materieller Ungleichheiten durch staatliche Garantien der Statussicherung in den erwerbsbiographischen, gesundheitlichen und altersbezogenen Wechselfällen des Lebens; auf die Absicherung beruflicher Karrieren und auf die Öffnung sozialer Aufstiegsperspektiven durch schulische, betriebliche und universitäre Bildung, die von einem geradezu euphorischen Bildungsbegriff getragen wurde, der auf individuelle Emanzipation zielt, und nicht auf die betriebswirtschaftliche Passgenauigkeit von Ausbildungsgängen; auf die klare Trennung von beruflichen und privaten Arbeitswelten und damit auf die Strukturierung privater Lebenswelten und auf die Formung des familiären Zusammenlebens; auf die Organisation und den Ausbau öffentlicher Dienste als Systeme der Daseinsvorsorge, aber auch als expansive Felder der Dienstleistungsbeschäftigung. Der sorgende Wohlfahrtsstaat war immer ein dynamischer Wirtschaftsmotor und ein Ort beruflicher Mobilität. Der „sorgende Staat“ sorgte für sozialstrukturelle Beruhigung, aber auch für Mobilitätschancen und berufliche Dynamik. Die Geschichte vom „sorgenden Staat“ ist die Geschichte einer Aufsteigergesellschaft.

Der gewährleistende Wohlfahrtsstaat folgt anderen strukturellen und normativen Prinzipien, die sein „Rollenmodell“ prägen. Was sind diese Prinzipien? Die staatliche Gewährleistung bzw. Steuerung lassen sich auf die Stichworte „Kostenrechnung“, „Projekt“ und „Vertrag“ bringen. Die Gewährung von Wohlfahrtsleistungen finden heute über Benchmarkingprozesse und Kostenrechnung statt. In Zeiten knapper Kassen rücken in stärkerem Maße als zuvor Fragen betriebswirtschaftlicher Effizienz in den Vordergrund. Das bekommen die Empfänger staatlicher Leistungen zu spüren, aber auch deren Verteiler und Zuteiler, also die Mitarbeiter in den öffentlichen Diensten oder Wohlfahrtsverbänden. Befristete Arbeitsverträge, längere Arbeitszeiten bei gekürzten Bezügen, verringerte Aufstiegschancen sind zur Arbeitsrealität in weiten Bereichen der öffentlichen Dienste und der Wohlfahrtsorganisation geworden. Die Beschäftigung im öffentlichen Dienst hat in den vergangenen Jahren mithin erheblich an Attraktivität verloren. Arbeiten für den Wohlfahrtsstaat ist vielerorts prekär geworden.

Doch auch die Organisation des Wohlfahrtsgeschehens hat ihren Charakter verändert. Sie erfolgt in wachsendem Maße projektförmig. Damit verringern sich die staatlichen Aktivitäten nicht unbedingt, bzw. sie verlieren auf diese Weise nicht zwangsläufig an Qualität, aber doch an Stetigkeit, Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit. Der Wohlfahrtsstaat wird zum Projekt, ob in der Altenpflege, der Jugendfürsorge oder der Stadtteilpolitik. Schließlich befindet sich auch die Steuerung der staatlichen Wohlfahrtspflege im Umbruch. Sie erfolgt zunehmend über Vertrag bzw. über vertragsgebundene Netzwerkstrukturen. Was heißt das? Wir erkennen einerseits eine „Vertraglichung“ des behördlichen Alltags. Wenn im Job-Center die Case-Manager Eingliederungsverträge mit Arbeitslosen abschließen, dann ist das eine Form der Kontraktualisierung sozialer Leistungen und Dienste. Eingliederungsvereinbarungen sind zentrale Steuerungs- und Förderinstrumente der aktuellen Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigungsförderung. Starke Tendenzen kontraktueller Steuerung finden sich freilich nicht nur im staatlich organisierten Sozialleistungssystem, sondern in immer stärkerem Maße auch im Bereich der öffentlichen Infrastrukturen.

Worauf zielt die Gestaltung wohlfahrts­s­taat­li­cher Politik heute?

Was sind mögliche Zielpunkte politischen Handelns unter veränderten wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen? Das Denkmodell der „Staatsbedürftigkeit“ belebt einen alten Gedanken wieder neu, der wie viele antiquarische Gegenstände einen eigenen Reiz hat – den Gedanken der Regierungskunst. Regierungskunst verweist auf die Gestaltungsabsicht und die Gestaltungsfähigkeit des Öffentlichen (vgl. Vogel 2007). Die Fragen nach den Qualitäten und Zielpunkten des Regierens, nach den Subjekten und Orten der Regierung, sowie nach den Möglichkeiten und Restriktionen der Kunst des Regierens wurden systematisch aus den Gesellschafts- und Staatswissenschaften verdrängt. Auch in den aktuellen Debatten um die „Wiederkehr des Staates“ bleibt die praktische Seite der Staatlichkeit, der „arbeitende Staat“, merkwürdig unterbelichtet. Regieren und Verwalten als konkrete, von Akteuren betriebene Praxis ist kaum Gegenstand empirischer Forschung oder konzeptioneller Überlegungen. Das Geschäft der Regierung taugt offensichtlich nur noch für das Genre der politischen (Auto-)Biographie.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich in Öffentlichkeit und Wissenschaft der Begriff des Regierens heute vornehmlich auf den Sozialtypus des parlamentarischen Politikers beschränkt. Doch nicht nur Kanzlerinnen, Minister oder Staatssekretäre regieren. Regiert und verwaltet wird auch anderenorts. Verbandsvertreter, Richter, Berufsberater, Arbeitsvermittler, Jugendfürsorger, Personalräte, Familientherapeuten oder Lehrer – sie alle verwalten, steuern und regieren ihre je spezifischen Felder des Sozialen. Die Regierung und Verwaltung des Sozialen hat viele Orte und viele Gesichter. Regieren ist eine konkrete Tätigkeit bzw. praktisches soziales Handeln, das Interessen, Absichten und Ziele verfolgt. Die Frage nach der Regierungskunst ist die Frage nach einer Idee des Politischen und nach regulativen Wertmaßstäben, um das Soziale unter veränderten arbeitsgesellschaftlichen und wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen gestalten zu können. Die Reflexion einer Verwaltungs- und Regierungskunst ist die Voraussetzung für demokratische Politik.

In scharfem Kontrast hierzu steht die aktuell weit verbreitete politische Praxis, die sich nervös an Benchmarkingprozessen orientiert. Die Schwäche in der Selbstbehauptungsfähigkeit des Politischen korrespondiert mit der Aufwertung des Privaten, das die partikularen Interessen der betriebswirtschaftlichen Rechnungslegung als universale Prinzipien gesellschaftlicher Gestaltung erscheinen lässt. Die zweifelsfreie Notwendigkeit kostenbewussten Wirtschaftens vermengt sich auf problematische Weise mit den je spezifischen Anforderungen staatlicher oder gemeinwohlorientierter Dienste. Die Kriterien der Gestaltung des Sozialen, die Prinzipien öffentlicher Amtsführung, die Gewährleistung selbstbewusster Rechtsstaatlichkeit, das Wissen um die Bedeutung des gemeinen Wohls und die notwendigen Trennungslinien zwischen privaten und öffentlichen Interessen haben an Klarheit verloren. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch beschreibt diese Entwicklung unter dem Stichwort der „Postdemokratie“ (vgl. Crouch 2008). Im Mittelpunkt der Analyse von Crouch stehen der „Zusammenbruch des Selbstvertrauens des Staates und die Abwertung von Konzepten wie staatliche Autorität oder öffentlicher Dienst“ (Crouch 2008:123). In diesem Kontext steht die liberale Idee, dass die privaten Unternehmen kluge und effiziente Organisationen sind, die öffentliche Hand jedoch töricht und verschwenderisch. „Daher rührt das chronisch schwache Selbstvertrauen, unter dem die öffentlichen Institutionen auf allen Ebenen leiden (…). Um ihre Selbstachtung zu bewahren und sich ein Minimum an Legitimität zu verschaffen, versuchen sie, sich so stark wie möglich privaten Unternehmen anzugleichen z.B. durch die Einführung interner Märkte), indem sie auf das Fachwissen, auf Berater und auf die Dienste des privaten Sektors zurückgreifen und möglichst große Teile der (vormals) staatlichen Leistungen privatisieren und generell dem Urteil der Finanzmärkte aussetzen. Die Unterscheidung zwischen dem Ethos des öffentlichen Diensts und jenem der profitorientierten Wirtschaft, die im 19.Jahrhundert entstand, fällt dieser Entwicklung zwangsläufig zum Opfer“ (Crouch 2008: 127). Ist die zu Beginn unter der Formel der Staatsbedürftigkeit konstatierte neue Gegenwärtigkeit des Wohlfahrtsstaates mithin nicht nur ein letztes Aufbäumen eines politischen Willens, der auf die Regierung und Gestaltung des Öffentlichen zielt und das Gemeinwohl im Blick hat? Ist der Wohlfahrtsstaat also doch ein Auslaufmodell (vgl. Eppler 2005)? Es kommt darauf an. Denn mit welcher Art von staatlich geprägter Sozialordnung wir es künftig zu tun haben werden, entscheidet sich an konkreten Orten. In der kommunalen Verwaltung des Sozialen oder in der Gestaltung des Rechtssystems.

Die Zukunft der Wohlfahrtsstaatlichkeit bleibt eine politische Frage. Eine besondere Rolle – insbesondere mit Blick auf die Fragen der Neubestimmung der Regierungs- und Verwaltungskunst – spielen hierbei die öffentlichen Dienste, die Wohlfahrtspflege und die Bereiche der staatlich gewährten bzw. gesicherten Daseinseinsvorsorge. Die Tatsache, dass die öffentlichen Dienste in struktureller und normativer Hinsicht zentrale Arbeitsorte sind, an deren Qualität und Quantität sich maßgeblich die Möglichkeiten und Spielräume der allgemeinen Lebensführung weiter Kreise der Bevölkerung sowie die Stabilität und Mentalität des Gemeinwohls bemessen, muss stärker ins sozialwissenschaftliche und gesellschaftspolitische Bewusstsein (zurück-)gerufen werden.

Es bestehen erhebliche Zweifel, inwieweit ein öffentlicher Dienst, der sich als ein Dienstleistungsunternehmen, der aus fiskalischen und organisationspolitischen Gründen auf prekäre Arbeitsbedingungen setzt, gemeinwohlorientierte und daseinsvorsorgende Pflichten erfüllen kann. Wenn prekarisierte Mitarbeiter bei Bund, Ländern und Gemeinden mit prekären Ratssuchenden zusammentreffen, dann steht die Qualität und Nachhaltigkeit staatlicherseits erbrachter Leistungen erheblich in Frage. Können die öffentlichen Dienste unter diesen Voraussetzungen noch prägende Kräfte der Gesellschaft sein? Ermöglicht eine zunehmende Flexibilisierung und beschäftigungspolitische Verunsicherung den öffentlich Bediensteten die Etablierung und Bekräftigung eines spezifischen Amtsethos? Schafft die Verminijobbung und die Beschäftigung auf Leihbasis in der Wohlfahrtspflege die Voraussetzung für die von Ralf Dahrendorf mit dem öffentlichen Dienst in Zusammenhang gebrachten „Ligaturen“ des Sozialen? Es ist merkwürdig, wie wenig Aufmerksamkeit in den Gesellschaftswissenschaften diesen nahe liegenden Fragen geschenkt wird. Denn vieles spricht dafür, dass die Formveränderungen der öffentlichen Dienste, die Privatisierung der Daseinsvorsorge und ihrer Infrastrukturen sowie die Prekarität wohlfahrtsstaatlicher Beschäftigungsverhältnisse tief in die Substanz des sozialen Rechtsstaats und seiner (Un-)Gleichheitsordnung einschneiden.

Die Organisation der Solidarität und der Subsidiarität, der gegenseitigen Verantwortung und des hilfreichen Beistands, also die von Oswald von Nell-Breuning beschriebenen Baugesetze einer „menschlichen Gesellschaft“ (vgl. Nell-Breuning 1968), ruhen substantiell auf starken, rechtsstaatlich orientierten öffentlichen Diensten, auf allgemein zugänglichen Infrastrukturen und auf einer leistungsfähigen Daseinsvorsorge. Kurzum, die Wiedergewinnung des Politischen, die Entwicklung von Maßstäben des allgemeinen Wohls in Zeiten veränderter arbeitsweltlicher und wohlfahrtsstaatlicher Strukturen steht auf der Tagesordnung und nicht der Abschied vom Staat. Hierzu bedarf es auch einer Soziologie, die ihren Blick nicht alleine auf Strukturen und Institutionen begrenzt, sondern vermehrt auch denjenigen Aufmerksamkeit schenkt, die den „arbeitenden Staat“ repräsentieren: den Beschäftigten in den öffentlichen Diensten und in der Wohlfahrtspflege. Die neue Gegenwärtigkeit des Staates wird nur dann produktive gesellschaftspolitische Debatten in Gang setzen, wenn wir uns auch diejenigen vergegenwärtigen, die die Trägergruppen staatlicher Aktivitäten sind.

* Grundlage des Textes ist ein Vortrag, der am 16. Juni 2007 in der Evangelischen Akademie Hülsa im Rahmen der Jahrestagung „Auslaufmodell Staat? Grenzen und Möglichkeiten politischen Handelns“ der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck gehalten wurde.

Literatur

Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz.

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt am Main.

De Swaan, Abram (1993): Der sorgende Staat. Frankfurt am Main und New York.

Eppler, Erhard (2005): Auslaufmodell Staat? Frankfurt am Main.

Forsthoff, Ernst (1971): Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. München.

Judt, Tony (2006): Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. München.

Nell-Breuning, Oswald von (1968): Die Baugesetze der Gesellschaft. Freiburg i.Br.

Polanyi, Karl (1979): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt am Main.

Vogel, Berthold (2007): Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft. Hamburg.

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