Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 186: Die Krisen hinter der Krise

Die zerrissene Mitte

Der Ort gesellschaftlichen Konfliktausgleichs ist zu einem neuen Konfliktzentrum geworden;

aus: vorgänge Nr. 186, Heft 2/2009, S. 92-96

Ein wirkmächtiges Zeitalter wohlfahrtsstaatlicher Intervention und arbeitsgesellschaftlicher Integration vergeht. Die Konturen des Neuen – die Physiognomie der prekären Arbeitswelt und die Entwicklung des projektorientierten, gewährleistenden Wohlfahrtsstaats – bleiben an manchen Stellen noch unscharf. Umso klarer und deutlicher tritt uns dafür die Erinnerung an eine Epoche sozialen Aufstiegs und beruflicher Mobilität vor Augen, die den Referenzrahmen des aktuellen staatlichen und gesellschaftlichen Wandels absteckt. Diese Epoche sorgte für die Individualisierung von Lebenswegen und öffnete neue Handlungs- und Konsumspielräume. Wegbereiter und Garant dieser Ära wohl formierter Aufsteigergesellschaften war in weiten Teilen Europas die rechtstaatlich gerahmte und korporativ gestaltete Sozialverfassung des Wohlfahrtsstaates.[1]

Hier konnte sich auf der einen Seite ein starkes soziales Bewusstsein und die Bereitschaft zu gegenseitiger Verantwortung bzw. Hilfe entfalten; auf der anderen Seite entwickelten sich auch Haltungen individualisierten Eigennutzes, Praktiken materieller Mitnahmeeffekte und Konkurrenzen beruflicher Selbstbehauptung. Die Effekte dieses Zeitalters – dieses „golden age of capitalism“ oder dieser „trente glorieuse“ – waren daher durchaus zwiespältig und bei Weitem nicht so eindeutig „golden“ oder „glorreich“, wie es manchen Betrachtern (aus der publizistischen, politischen oder auch wissenschaftlichen Wohlstandsmitte) im milden Licht einer auslaufenden Epoche erscheinen mag. Jedenfalls gilt, dass diese Verbindung von Wohlfahrtsstaat, Sozialpolitik und Erwerbsarbeit den Referenzpunkt für aktuelle Wohlstandskonflikte bildet und den Maßstab für gesellschaftliche Integration und wohlfahrtsstaatliche Steuerungsfähigkeit liefert. Ihre besondere Energie bezog diese Gesellschaft aus der Dynamik der Aufstiegsermöglichung, der produktiven (aber oft auch ressentimentgeladenen) Spannung zwischen Mobilität und Sekurität, sowie aus neuen sozialen Perspektiven für viele und der Bereitschaft zur Sorge für alle. Das sozialstrukturelle und mentale Produkt dieser Zeit war die Etablierung einer breiten und stabilen Mittelklasse. Die umfangreiche und vielgestaltige Mitte der Gesellschaft ist das Ergebnis wohlfahrtsstaatlicher Politik, aber zugleich ist der Wohlfahrtsstaat fiskalisch, demographisch, kulturell und mental auf diese starke Mittelklasse als steuerkräftige Arbeitnehmerschaft angewiesen. Wohlstand und Statussicherheit der sozialen Mitte sind ebenso staatsbedürftig wie die Leistungs- und Fürsorgesysteme des Wohlfahrtsstaates steuerbedürftig sind. Dieses Bündnis wechselseitiger Abhängigkeit steht in Frage und hat viel von seiner Funktionsfähigkeit eingebüßt. Zugleich beobachten wir, dass sich Aufgabenzuschnitt und Selbstverständnis wohlfahrtsstaatlicher Aktivitäten zu verändern beginnen. Dieser Prozess kommt in der institutionellen Fortbildung vom „sorgenden“ zum „gewährleistenden“ Staat zum Ausdruck und kann an den grundlegend veränderten Tätigkeitsfeldern der öffentlichen Dienste sowie der Wohlfahrts- und Rechtspflege gut nachvollzogen werden. Auch die Lebensformen und Mentalitäten, die Handlungsspielräume und Arbeitsweisen der Mittelklasse sind nicht mehr die alten. Prekäre Beschäftigungsformen machen sich in den Bereichen qualifizierter Fachtätigkeit breit, staatliche Ansprüche an private Vorsorgeleistungen schmälern das vorhandene Budget. In der Arbeitswelt und in den staatlichen Sorgeleistungen finden sich immer seltener Orte der Statussicherheit. Die Abstiegsangst der statusbewussten Mittelklasse ist mehr als ein Schlagwort. Das sozialstrukturelle Vokabular der „sozialen Verwundbarkeit“ und des „prekären Wohlstands“ bringt diese Entwicklungen auf den Begriff.

Prekarität und soziale Verwundbarkeit sind die Signalwörter neuer sozialer Ungleichheiten, die darauf hinweisen, dass bestimmte soziale Milieus, die in der Mitte der Gesellschaft situiert sind, unter Druck geraten sind – die Arbeitnehmerschaft der beruffachlich qualifizierten Facharbeiter und Fachangestellten im privaten wie öffentlichen Sektor. Es sind freilich nicht nur deren eigene berufliche Perspektiven brüchig geworden, auch die Weitergabe ihres sozialen Erbes steht in Frage. Statusfragen sind immer auch Generationenfragen, Abstiegssorgen immer auch Sorgen um die Zukunft des eigenen Nachwuchses. Die gesellschaftspolitische Brisanz dieser biographischen Verunsicherungen und strukturellen Gefährdungen besteht darin, dass diesen Arbeitnehmermilieus in der Entwicklungsgeschichte europäischer Wohlfahrtsstaaten zentrale arbeitsgesellschaftliche Integrations- und Kohäsionsfunktionen zukommen. Sie repräsentieren die Trägerschichten der Wohlstandsökonomie und des politischen Gemeinwesens. Sie waren Profiteure und vorwärtstreibende Kräfte staatlicher Expansion, aber im Gegenzug auch Stabilitätskerne in einer mobilen Sozialordnung.

An diesen mittleren und zentralen Orten der Gesellschaft sind ein Gutteil der Steuerkraft, das Gros der Sozialversicherungsbeiträge und auch starke Potentiale bürgerschaftlichen Engagements zu Hause. Doch die Befunde sind eindeutig: Am Beispiel zahlreicher empirischer Studien konnte in dieser Untersuchung die allmähliche Erosion des gewerkschaftlich organisierten Milieus der industriellen und handwerklichen Facharbeiterschaft nachgezeichnet werden. Dieses Milieu war über lange Jahrzehnte der Garant tarifvertraglicher Disziplin, gemeinwohlorientierter Mitbestimmung und kompromissbereiter Leistungsbereitschaft; zugleich deutet sich in den Berichten zum Wandel der öffentlichen Beschäftigung an, dass das Mittelklassemilieu öffentlicher Dienste, das loyal den normativen Haushalt der Gesellschaft pflegt und bewirtschaftet und dafür eine moderate, aber sichere Entlohnung sowie zukunftsfeste berufliche Laufbahngarantien erhält, in seiner institutionellen, rechtlichen und materiellen Existenzgrundlage bedroht ist. Wenn wir sehen, wie selbstverständlich mittlerweile der Einsatz von Leiharbeitern und befristet Beschäftigten in der Industrie geworden ist, wie konzessionsbereit sich Arbeiter und Angestellte in nahezu allen Branchen gegenüber den „Anforderungen des Marktes“ zeigen, und wie weit die Verminijobbung der öffentlichen Dienste bereits vorangeschritten ist, dann scheint die Rede von der Verunsicherung der Mittelklasse tatsächlich zu blass zu sein. Alles deutet darauf hin, dass in der Mitte der Gesellschaft nicht nur neue Spaltungen aufbrechen, sondern auch echte Verluste und neue Belastungen zu verkraften sind. Die Sorge, wenig gewinnen, aber viel verlieren zu können, ist nicht nur ein vages Gefühl der Bedrohung, sondern eine reale wirtschaftliche, berufliche und soziale Erfahrung. Arbeitnehmer, die vor Jahren noch davon ausgehen konnten, dass sie aufgrund ihrer beruflichen Fertigkeiten und professionellen Erfahrungen auf der sicheren Seite des gesellschaftlichen Wandels stehen, sehen sich nun bedroht und gefährdet, erleben Verluste und Deklassierungen.

Das gilt keineswegs an allen, aber an immer mehr Orten der Gesellschaft. Die Zentralkonflikte der gesellschaftlichen Entwicklung werden sich in Zukunft immer intensiver auch an Statusfragen und Wohlstandschancen entzünden. Der Konfliktort ist die Mitte, die Kontrahenten sind die, die ihren Wohlstand festigen bzw. vermehren können, und die, die um seinen Bestand mehr und mehr kämpfen müssen. In der Mitte der Gesellschaft ist mithin der prekäre Wohlstand der unsicher Beschäftigten vom parzellierten Wohlstand kreditbelasteter Eigenheimbesitzer und vom Scheinwohlstand derer, die auf Pump leben, zu unterscheiden.

Auf die Tatsache, dass die mittleren Lebensbedingungen und Möglichkeiten der Lebensführung ungleicher werden, weisen insbesondere die Indikatoren der Einkommensverteilung hin. Zugleich machen arbeitssoziologische Befunde klar, dass sich die mittleren Arbeitsfelder und Professionen in ihren arbeitsrechtlichen Sicherungen und tariflichen Entlohnungen stark differenzieren. Die homogenisierenden und stabilisierenden Kräfte der Sozialversicherung, des Rahmentarifvertrags und der kollektiven Daseinsvorsorge – mithin die formativen Klammern der Mittelklasse – werden schwächer und wirken normativ erschöpft. Diese Entwicklung ist nicht allein Ausdruck ökonomischer Zwangsläufigkeiten. In ihr kommen auch veränderte politische Ordnungsvorstellungen des Sozialen bzw. des gesellschaftlich Allgemeinen zum Tragen. Diese Ordnungsvorstellungen sind keineswegs nur abstrakte Gebilde des Staats- oder Verwaltungsrechts. Sie konkretisieren, ja materialisieren sich in der Gestaltung und Justierung der öffentlichen Dienste, der Wohlfahrtspflege und der sozialen wie technischen Daseinsvorsorge.

Diese Arbeitsfelder, die normative Güter bereitstellen und denen die öffentlichen Angelegenheiten anvertraut sind, unterliegen einem allmählichen, aber anhaltenden Prozess der Entwertung und Demontage. Diese Entwicklungen korrespondieren mit der Aufwertung des Privaten, das die partikularen Interessen der betriebswirtschaftlichen Rechnungslegung als universale Prinzipien gesellschaftlicher Gestaltung erscheinen lässt. Die zweifelsfreie Notwendigkeit kostenbewussten Wirtschaftens vermengt sich auf problematische Weise mit den je spezifischen Anforderungen staatlicher oder gemeinwohlorientierter Dienste. Diese Formveränderungen der wohlfahrtsstaatlichen Architektur, der Rede über das Öffentliche und die politische Selbstbehauptungsfähigkeit bleiben nicht ohne gesellschaftliche Folgen. Für die Struktur, die Lebensführung, die Erwerbsbedingungen und die Mentalität der Mittelklasse sind sie von unmittelbarer Bedeutung. Denn deren steuerliche, berufliche, familiäre und normative Leistungskraft kann nicht unabhängig von der künftigen Entwicklung des staatlichen Gefüges gedacht werden. Die Wohlstandskonflikte sind unmittelbar mit der Veränderung von Staatlichkeit verknüpft.

Sicher, im Spannungsfeld von „Minusvisionen“ und neuen Gelegenheiten in der Mitte der Gesellschaft können wir auch sehen, dass die Veränderungen von Wohlfahrtsstaat und Arbeitsgesellschaft keineswegs nur Verlierer und Absteiger hervorbringen. Die Dekonstruktionen der Arbeitswelt, die Neujustierung staatlicher Sicherung und Sorgeleistung, die Gefährdungen erreichter Statuslagen und die Entwertung bestimmter professioneller Milieus industrieller Facharbeit oder öffentlicher Dienste – das ist eine starke Entwicklungsrichtung gesellschaftlicher Veränderung. Doch selbstverständlich erschließen sich in jeder Veränderung der Strukturen, Organisationsformen und Anforderungen der Berufwelt neue berufliche und soziale Perspektiven. Exemplarisch gilt das für diejenigen, die in der wachsenden Verschränkung von öffentlichem Sektor und privatem Betrieb das Wasser der Veränderung auf ihre Mühlen lenken können. Für zahlreiche beratende, organisierende, gestaltende und therapierende Dienstleistungen öffnen sich neue Märkte und Karrieren – gerade in den Bereichen der Arbeitswelt, in denen sich der Wohlfahrtsstaat in seiner neuen Rolle der Gewährleistung, Projektierung und Vertraglichung formiert. Keine Stagnation und auch kein Zerfall des Sozialen, nirgends. Alles in allem kann keine Rede davon sein, dass die Mittelklasse grundsätzlich an Dynamik oder Veränderungsfähigkeit verliert. Schon gar nicht droht ihr Verschwinden.

Wenig spricht dafür, dass wir auf eine Gesellschaft zusteuern, die nur noch Arme und Reiche, Ausgeschlossene und Privilegierte kennt. Dennoch: Die strukturellen, die materiellen und die normativen Substanzverluste der Wohlstandsmitte sind erheblich. Die Gesellschaft beginnt sich ohne Zweifel nicht nur von ihren Randlagen der Armut und Dauerarbeitslosigkeit, sondern immer stärker auch aus ihrer Mitte heraus zu verändern. Insbesondere mit der politisch forcierten Strukturveränderung der öffentlichen Dienste droht der strukturelle und normative Kern demokratischer, auf sozialen Ausgleich, Gemeinwohl und Vorsorge bedachter Gesellschaften brüchig zu werden. Der Ort des gesellschaftlichen Konfliktausgleichs ist zu einem neuen beruflichen, materiellen und symbolischen Konfliktzentrum geworden. Ob diese Konflikte um die Neubestimmung von Wohlstandsfragen und Wohlstandsqualitäten allein destruktive Wirkungen entfalten, oder ob sie auch eine konstruktive Seite entwickeln können, ist freilich nicht von vorneherein ausgemacht. Die Möglichkeiten zur Belebung der öffentlichen Dienste, zur Anpassung sozial- und arbeitsrechtlicher Schutzkreise an veränderte soziale Bedürfnisse und zur Neubestimmung der Kommunalität gesellschaftlicher Gestaltung werden wichtige Anhaltspunkte und Maßstäbe für die Zukunft nicht nur der „Wohlstandsmitte“ sein.

Es darf dabei kein Zweifel darüber bestehen, dass bestimmte Gruppen und Milieus (nicht nur in der Mitte der Gesellschaft) künftig entsprechend ihrer Leistungsmöglichkeiten und ihrer Fähigkeit zur Selbstsicherung stärker in Anspruch genommen werden müssen. Sie sind zahlungskräftig, sie konnten von staatlichen Einrichtungen und Vorsorgesystemen profitieren und sind die Trägergruppen aktueller Veränderungen privatwirtschaftlichen wie öffentlichen Wirtschaftens. Als Gewinner sozialen Wandels bedürfen sie weit weniger staatlicher Unterstützung, als sie das selbst oft für sich reklamieren. Doch für eine wachsende Zahl von Personen und insbesondere für Familien in der Mittelklasse sind die Veränderungen in der Arbeitswelt und in der Wohlfahrtspflege immer schwieriger zu verkraften. Sie sind staatsbedürftig, sie erwarten eine Politik, die klüger, gerechter und ungleichheitssensibler ist als leere Marktrhetorik und sie lehnen ein Gesellschaftsmodell ab, das sich in seinen wirtschaftlichen Zielsetzungen und seiner politischen Programmatik von einer Gewinner-Verlierer-Mentalität leiten lässt. Wohlstandskonflikte sind nicht nur materieller Natur. Sie enthalten auch Wertmaßstäbe für die Qualität des gesellschaftlichen Zusammenlebens und für eine tragfähige sowie verantwortungsvolle wirtschaftliche, ökologische, soziale und rechtliche Ordnung, die die nächste Generation und ihre Lebensbedingungen respektiert und in ihre Überlegungen mit einbezieht. In den Wohlstandskonflikten von heute spiegeln sich die gesellschaftlichen Zukunftsfragen von morgen. Als Zukunftsfragen fordern sie die soziologische Diagnostik gegenwärtiger Konflikte heraus. Deren Quelle entspringt in der Mitte der Gesellschaft.

* Der Autor hat zu den „sozialen Fragen, die aus der Mitte kommen“ ein Buch mit dem Titel „Wohlstandskonflikte“ verfasst. Es wurde bei der Hamburger Edition verlegt.

[1] Vgl. Kaelble, Sozialgeschichte Europas, sowie die aktuellen und weiterführenden Beiträge der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, u.a. bei Rieger/Leibfried, Limits to globalization oder bei Scharpf/Schmidt, Welfare and Work in the Open Economy.

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