Themen / Rechtspolitik

Grundgesetz und Straf­vollzug

01. April 2019

Ein Vergleichsversuch an Hand von Beispielen

aus: vorgänge Heft 6/1969, S. 211-215

Am 23. Mai 1969 jährte sich zum zwanzigsten Mal das Inkrafttreten unseres Grundgesetzes. Dieses Jubiläum gab Anlaß zu zahlreichen Betrachtungen in Rundfunk und Presse und zu einer feierlichen Rede des Bundeskanzlers im Fernsehen. Hier, an Hand von belegbaren Beispielen, die Frage: funktioniert dieses Grundgesetz, das uns Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit garantiert, auch, wenn es eine kleine Minderheit betrifft, eine Minderheit, die in der direkten Obhut des Staates steht: die Inhaftierten? Hört das Grundgesetz vor dem Gefängnistor auf? Und wenn es sich zeigen würde, daß dies der Fall ist, ist dann diese Verletzung des Grundgesetzes nicht verhängnisvoller und schwerwiegender und im Grunde genau so strafbar wie die Gesetzesübertretung des Diebes und des Betrügers? Stiehlt der Staat dem Dieb ein Stück Menschenwürde – betrügt er den Betrüger um ein Grundrecht?

Der Gefangene ist als Folge seiner Tat und des Urteilsspruches laut geltendem Strafgesetz – nehmen wir an zu recht — zu einem Freiheitsentzug verurteilt worden. Die Frage, die so lange und immer eindringlicher erhoben werden muß, bis sie beantwortet wird, lautet: Bestehen innerhalb dieses Freiheitsentzuges die jedem Bürger gesetzlich garantierten Grundrechte weiter?

Informationsfreiheit

Ich zitiere aus dem Brief eines Gefangenen in Amberg/ Oberpfalz vom 3. Juni 1968:[1]
„Wenn ich mich heute mit einer erneuten Bitte an Sie wende, so seien Sie bitte nicht böse, aber irgendein Herr des Bayer. Staatsministeriums der Justiz hat wieder einmal eine Anordnung erlassen, die Ungerechtigkeit, Intoleranz, Unfähigkeit und eine völlig veraltete Lebensanschauung deutlich an den Tag legt.
Zur Sachlage: Seit Januar 68 bin ich mit Erlaubnis der Anstaltsleitung Abonnent der Zeitschrift ,Eltern
vom Kindler u. Schiermeyer Verlag München. Weil nun besagter Herr ,Eltern‘ als Illustrierte gekennzeichnet hat, wandern sämtliche Exemplare ab Juni 68 in meine persönlichen Effekten, obwohl ich für 1 Jahr im Voraus dafür bezahlt habe. Da ich den genauen Anordnungstext nicht kenne, kann ich nur Vermutungen aussprechen. Vermutungen, welche sich mir nach Gesprächen mit einem Herrn der Anstaltsleitung und dem Herrn Oberlehrer aufdrängten. Angeblich wäre die Zeitschrift für Gefangene sittlichkeitsgefährdend.
(…) Ich bin 24, wie Sie wissen, und war schon immer bestrebt, die oft so schwierigen zwischenmenschlichen Beziehungen der Geschlechter zu vereinfachen, daß mir das meistens nicht gelungen ist, mag an meiner Jugend und Unerfahrenheit gelegen haben. Diese Erkenntnis und die Unmöglichkeit, altbewährte Verhaltensmuster zu praktizieren, das Fehlen neuer; allgemeingültiger Verhaltensmuster., Unsicherheit darüber, was denn nun zu tun, was richtig und was falsch sei und ungestilltes Bedürfnis nach wegweisender Information waren die Faktoren, die mich zum Leser der ,Eltern` gemacht haben. Aber ich glaube nicht nur mir geht das so, belasten nicht diese Umstände das Gemüt der meisten Menschen von heute, führen sie nicht zu Fehlhandlungen und Fehlreaktionen bei allen, sogar bis hin in die Angstneurosen? Liegt es nicht im Sinne der Resozialisierung, sicherzustellen, daß der Straffällige bei seiner Rückkehr in die Gesellschaft nicht nur den Willen, sondern auch die Fähigkeit besitzt, ein gesetzmäßiges und selbständiges Leben zu führen? Und das erstreckt sich doch nicht bloß darauf ,Dein und Mein` auseinander zu halten, der Bereich der Liebe ist doch da nicht ausgenommen.”

Er ist es anscheinend im deutschen Beamtendenken. Ich riet dem Mann zu einem Grundsatzprozeß und Rechtsanwalt Dr. Hans H. Heldmann stellte sich auf meine Bitte hin kostenlos zur Verfügung. Daraufhin ein weiterer Brief vom 28. 7. 68. Zitat: „Vor einigen Tagen waren verschiedene Herren vom Justizministerium im Haus, wobei beschlossen wurde, sämtliche Elternabonnements ablaufen zu lassen, die eintreffenden Exemplare jedoch an uns auszuhändigen. Aus Freude über diesen Teilerfolg (und das war mein Fehler) nahm ich dann auf Antrag der Anstaltsleitung die Forderung eines gerichtlichen Entscheides zurück.”

Weitere Beispiele zu der Nichtbeachtung des Artikel 5, Abs. 1 im Grundgesetz, der das Informationsrecht – ohne Ausnahme für Gefangene – garantiert.

Aus Norddeutschland schrieb mir ein junger Gefängnisgeistlicher, er hätte zu seiner Empörung feststellen müssen, sämtliche Artikel, die meine Arbeit für Reformen im Strafvollzug oder für Gefangene und Entlassene betrafen, seien herausgeschnitten worden, bevor man die Zeitungen an die Gefangenen auslieferte. Aus Vechta kam ein Brief von einem jungen Gefangenen, der mich bat, ihm meinen Vortrag „Von der Strafe zur Konsequenz-Maßnahme” zu senden, den ich vor der „Deutschen Kriminologischen Gesellschaft” in Frankfurt gehalten hatte. Dieser Vortrag war in der Fachzeitschrift „Kriminalistik” veröffentlicht worden. Ich erfüllte seine Bitte, aber der Artikel wurde mir vom zensie-renden Fürsorger zurückgesandt. Nicht erlaubt.

Wie das Grundrecht der Informationsfreiheit in anderen demokratischen Ländern aufgefaßt wird, zeigte mir in der gleichen Woche der Brief des Anstaltsleiters in Saxerriet in der Schweiz. Er schrieb, daß er meinen Artikel, den er ebenfalls in der „Kriminalistik” gelesen hatte und den er als „großartig” bezeichnete, nun gerne in seiner Gefängniszeitschrift „Bausteine” veröffentlichen möchte, damit ihn jeder Gefangene lesen könne! Aber in der Bundesrepublik sind anscheinend Artikel über Aufklärung, Strafrechts- und Strafvollzugs-Reformen so gefährlich wie Dynamit und deshalb dem Gefangenen strengstens zu verbieten. Die Zensurbestimmungen sind willkürlich, da es in dieser Hinsicht keine exakten Vorschriften gibt. Ein Strafvollzugs-Gesetz, das das Grundrecht aufhebt, gibt es nicht. Bewegen sich die verantwortlichen Beamten bei dieser Beschränkung des Informationsrechtes nicht „etwas außerhalb der Legalität”?

Die deutsche Dienst- und Vollzugsordnung wiederum, durch die sich der Gefangene über seine Rechte und die Grenzen der Rechte der Beamten orientieren könnte, wird wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Als ein Konflikt in einem Hamburger Gefängnis entstand und einem Gefangenen von der Anstaltsleitung der Einblick in die Vollzugsordnung verwehrt wurde, wandte er sich an den Eingaben-Ausschuß der Kanzlei der Bürgerschaft im Senat. Die Antwort vom 25. 6. 1968: „Der Wortlaut der Dienst-und Vollzugs-Ordnung kann den Gefangenen und Verwahrten nicht zur Verfügung gestellt werden, weil darin zahlreiche Vorschriften enthalten sind, die sich nur an die Beamten richten.” Ober diese Vorschriften wollte sich ja gerade der Gefangene informieren! Wo bleibt hier das Informationsrecht?

Doch der eklatanteste Fall, den ich in Bezug auf den Artikel 5 Abs. 1 kenne, ist folgendes Beispiel aus Celle. Ein Lebenslänglicher kämpft um ein Wiederaufnahmeverfahren. Der Wahlverteidiger lehnt ab, weil der Gefangene durch Unterbezahlung seiner Arbeit im Gefängnis nicht genügend Geld für ein Honorar hat. Das Armenrecht wird dem Mann nicht zugestanden. Der. Gefangene soll also den Antrag beim Urkundsbeamten selbst formulieren. Nun gehört das Wiederaufnahmerecht zu den schwierigsten Gebieten unserer Strafprozeß-Ordnung. Der Gefangene ist Schlosser von Beruf und hat nur Volksschulbildung. Er verlangt die Kommentare zum Strafgesetzbuch und zu der Strafprozeß-Ordnung, um überhaupt einen Antrag auf Zulassung der Wiederaufnahme korrekt ausarbeiten zu können. Abgelehnt. Daraufhin bittet er, die Bücher kaufen zu dürfen. Er will sie von seiner Rücklage zahlen, eine Rücklage, die für ihn als Lebenslänglichen sinnlos ist, wenn der Wiederaufnahmeantrag nicht durchgeht. Wieder Ablehnung. Wortlaut des Artikels 5 Abs. 1 des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht (…) sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.”

Aufrecht­er­hal­tung der Ehe

Ich zitiere aus dem Brief einer Frau, deren Mann seit 8 Jahren — zu 12 Jahren verurteilt— in der Anstalt Werl einsitzt:

„Bitte helfen Sie mir und meinem Mann, damit er Strafurlaub bekommt. Im Anfang, als mein Mann in Haft war, da glaubte ich, daß es für mich kein Problem sei, die ganze Zeit treu auf meinen Mann zu warten.Ich kann ihn aber nur alle sechs Wochen für eine Viertelstunde besuchen und selbstverständlich ist immer ein Beamter dabei. Um meinen Mann das Herz nicht noch schwerer zu machen, verbeiße ich das Weinen meistens tapfer. Ich gerate aber immer mehr in einen Strudel von Verzweiflung, Angst, Ratlosigkeit und Nervosität, daß ich immer mehr das Gefühl habe, das Leben nicht mehr ertragen zu können. In den früheren Jahren war ich nur an den Besuchstagen verdreht. Die andere zeit hatte ich mich immer in der Gewalt. Nun verfolgt mich aber das Alleinsein immer öfter, sogar bis in den Schlaf. Ich träume davon, daß mein Mann bei mir ist und daß wir zusammensein können. Aber immer ist jemand da, der das Zusammensein verhindert. Ich bin dann den ganzen Tag wie zerschlagen.“[2]

Der „Jemand” ist der Staat. Der allgewaltige Staat in der Gestalt seiner Justiz. Alle meine Bitten bei Gericht und im Ministerium, alle unsere Gesuche um Strafunterbrechung zur Rettung der bedrohten Ehe, wurden abgelehnt, ebenfalls das Gesuch auf Entlassung zur Bewährung, da der Mann bereits über zwei Drittel seiner Strafe verbüßt hat, so daß diese Möglichkeit besteht. Die Frau schrieb weiter: „Oft geht es mir auch so, daß sich meine Gedanken wie von selbst mit irgend einem anderen Mann befassen, da mir mein eigener Mann für so lange zeit unerreichbar scheint. Aber ich möchte meinen Mann nicht betrügen, weil ich mit ihm eines Tages wieder glücklich werden möchte und weil meine beiden Töchter so sehr an ihrem Vater hängen.” Artikel 6 Abs. 1 des Grundgesetzes: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.” Tun sie es wirklich im Machtbereich der staatlichen Institutionen?

Hier gebührt große Anerkennung Pfarrer Rolf Ehrfurth in Amberg, der die Möglichkeit zu einem ehelichen Intimverkehr für langjährige Inhaftierte, gestützt auf das Grundgesetz, fordert. Ihm erscheint die abweisende Haltung des Bayerischen Justizministeriums zu seiner „vor-geschlagenen Lösung zur Erhaltung bestehender Ehen” vom rechtlichen und auch sittlichen Standpunkt aus „unverständlich und auch unhaltbar”.

Menschenwürde

Ein Gefangener schickte mir die Abschrift seiner Eingabe an das Landgericht in Wuppertal vom 6. 4. 1968. Ich zitiere:

„Die Gefangenen — ich wurde mit 20 Mann eingeliefert — werden alle in einen langen Flur getrieben, wo mehrere Hocker und Fußmatten stehen. Dort müssen sie sich nackt ausziehen, die Kleidung auf dem Hocker legen und splitternackt mehrere Schritte im ausgestreckten Arm-Abstand vom Nebenmann zurücktreten. Alsdann müssen sie nackt in dem kalten Flur (der noch im Keller liegt) stehen bleiben, bis die Kleidungsstücke durchsucht sind. Dann bekommen alle den Befehl die Arme über den Kopf zu heben, anschließend abwechselnd das Bein und die Fussolen zu zeigen. Ist dies geschehen, müssen die Gefangenen die Köpfe neigen und man wühlt ihnen im Haar herum (…) Alsdann haben sich alle Gefangenen vornüber zu beugen und die Afteröffnung auseinander zu reissen, damit man ihnen so weit wie möglich im Arsch schauen kann. Wie widersinnig dies ist, zeigt dies: alle Gefangenen, die in der Strafanstalt Lüttringhausen eingeliefert wurden, kamen aus anderen Gefängnissen, alle waren Strafgefangene aus anderen Anstalten, und es wurde nie ein Neuling von draußen oder ein U-häftling eingeliefert. Da frage ich, was hätten diese Gefangenen, die aus anderen Anstalten kamen, wo sie vorher – bevor sie nach Lüttringhausen kamen – vor dem Transport ebenfalls ,gefilzt` wurden von der Kammer bei der Umkleidung und also gar nichts versteckt haben konnten, wohl noch einschmuggeln sollen oder können? Und warum war diese unwürdige Körpervisitation mit einer Afterkontrolle überhaupt notwendig – ohne Schamwand, ohne Abdeckung, ohne alles, vor den Augen der Mitgefangenen? (…) Aber das ist noch nicht alles: nachdem die Prozedur der Körpervisitation vorbei ist, können sich die Gefangenen im Keller wieder anziehen und —. gehen ein Weilchen später zur Kleiderkammer, wo sie sich ebenfalls nackt ausziehen müssen und ,gefilzt` werden bei der Umkleidung.  Warum zweimal hintereinander diesen Nudismus, diese Körpervisitation?”

Der 21jährige junge Mann, dessen Eingabe an das Gericht ich zitierte, ist in streng katholischen Heimen erzogen worden und durch diese prüde Erziehung außerordentlich scheu, will nicht mit den anderen nackt duschen – anderseits ist er sexuell fixiert, weil alles, was Sexualität, Onanie und Homosexualität betrifft, bei angedrohten Höllenstrafen und ausgeführten Prügelstrafen als schwere Sünde gegen Gott verboten wurde, so daß dieser hinein geprügelte Komplex nunmehr sein Denken und seine Gefühlswelt übermäßig beschäftigt und erregt. In allen Gefängnissen, wo er war, war es das gleiche: er wollte einfach nicht seine Genitalien und seinen After vor Mitgefangenen und Beamten zeigen.

So kam es, daß der gleiche Gefangene sich einmal weigerte, in einer Absonderungszelle, in die er zur Strafe gebracht wurde, bei der Umkleidung seine Unterhose in Gegenwart von drei Beamten und bei offener Tür auszuziehen, wenn er nicht vorher das neue Hemd anziehen konnte. Auch verlangte er für die Afterkontrolle die Hinzuziehung eines Arztes, was ihm verweigert wurde. Um das gewaltsame Hinunterziehen der Unterhose durch den Verwalter K. zu verhindern, hatte er einen Knoten in die Hose gemacht. Als man doch versuchte, mit Gewalt die Hose herunter zu reißen, kam es zu Tätlichkeiten. Wer zuerst schlug – darüber variieren die Angaben. Der Gefangene, der sehr schmächtig und unterernährt ist, rief laut um Hilfe, so daß der ganze Bau rebellisch wurde und einige Gefangene, die die klatschenden Schläge auf den nackten Körper und die Schreie hörten, laut riefen, daß man doch den Jungen in Ruhe lassen solle. Anschließend ließ man ihn dann alleine in der Absonderungszelle, zusammengeschlagen, blutend und splitternackt, weil die Unterhose total zerrissen war und man seine andere Kleidung fort genommen hatte. Mehrere Stunden hockte er wie ein Tier, frierend und nackt, auf der betonierten Pritsche in der Zelle. Dann brachte man ihn in eine andere Zeile, die unterhalb des Krankenreviers lag. Dieser Raum wurde die Totenzelle genannt. Früher warteten dört die zum Tode Verurteilten auf die Hinrichtung. Nach 1948 wurden die Gefangenen, die sich aufgehängt oder sonst vor Verzweiflung auf andere Art Selbstmord verübt hatten, dort aufbewahrt. Kein richtiges Fenster – nur ein Kellergitter. Alles feucht, kalt und dunkel, voller düsterer Erinnerungen. In dieser Gruselzelle ließ man den Jungen fast drei Tage und Nächte dahinvegetieren. Die Matratze, die er für die Nacht zum Schlafen bekam, war mit Urin und Kot beschmutzt. Sie stank so sehr, daß er es vorzog, sich direkt auf den Boden zu legen. Die Notdurft mußte er im Dunkeln verrichten und zwar in einen Kübel, der schlimmer stank und noch schmutziger war als alles andere. Anschließend bekam er 21 Tage verschärften Arrest. Und das alles, weil er sich zuerst mit Worten und dann tätlich gewehrt hatte, als man ihn mit Gewalt zwingen wollte, sich vor mehreren Personen und bei offener Tür in den After sehen zu lassen.

Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.”

Körperliche Unver­sehrt­heit

Körperliche Tortur ist verboten. Körperliche Unversehrtheit ein Grundrecht. Wie wird der „verschärfte Arrest” in den bundesrepublikanischen Gefängnissen durchgeführt?

Ich habe selbst Arresträume im Keller gesehen, wo „renitente” Gefangene gehalten wurden. Eine verschärfte Arreststrafe kann – ohne gerichtliches Urteil – schon ein Gefangener erhalten, der einem Beamten gegenüber eine beleidigende Äußerung tut. Beleidigende Äußerungen müssen wir im freien Leben immer wieder ertragen können, ohne daß deshalb nach einer mittelalterlichen Kerkerstrafe gerufen wird. In diesen – oder auch in moderneren, aber genau so kahlen – Arrestzellen, nur mit Pritsche und Kübel ausgestattet, werden also Menschen ohne Gerichtsurteil eingesperrt. Wenn bei schwereren Fällen später auch nur ein Gerichtsurteil mit Strafe erfolgt, ist es eine für meine Begriffe unzulässige, aber oft praktizierte Doppelbestrafung für die gleiche Tat.

In den Arrestzellen werden dem Gefangenen an den Hungertagen nur fünf Scheiben Brot und Malzkaffee gereicht – sogar einen kranken Gefangenen, der sonst Kostzulage hatte, fand ich in einer nordrhein-westfälischen Hungerzelle. An diesen Tagen werden bewußt Schlafstörungen herbeigeführt, indem man den Gefangenen auf der harten Pritsche ohne Matratze schlafen läßt. Jeden dritten Tag Normalkost, jeden dritten Tag eine Matratze, die oft verschmutzt von Urin und Sperma ist. Am vierten Tag wieder Hunger, wieder hartes Lager. Jede Stunde in dieser Zelle wird zur seelischen Tortur: hungrig, völlig isoliert, übermüdet, mit gereizten Nerven – keine Zigarette, die beruhigt, keine Post, kein Besuch, kein Buch (außer der Bibel, die somit später immer an die Strafe erinnert, ja, in Gedanken zur Strafe gehören wird). Viele Gefangene schildern das gleiche: die einzige Entspannung ist Onanie bis zur völligen Erschöpfung.

Meiner Ansicht nach sind bewußt herbeigeführte Schlafstörungen auf einer harten Pritsche ohne Matratze, damit am nächsten Morgen jeder Knochen weh tut und die Nerven durch die Schlaflosigkeit und den sich immer mehr komprimierenden Haß völlig überreizt sind, eine nicht nur seelische, sondern auch körperliche Tortur. Hinzu kommt, daß man ausgerechnet in dieser Situation dem Raucher auch plötzlich das Nikotin entzieht, was sogar in einer Normalsituation eine außerordentliche Nervenbelastung bedeutet. Dazu der Hunger – der raffiniert dosierte Hunger, damit der Mann weiterleben kann und die Magennerven immer wieder gereizt werden.

Was würde mit einem Normalbürger geschehen, wenn er jemanden, der sich in seiner Obhut befindet, in einen Kellerraum sperrt, ihn hungern läßt, ihm keine Matratze zum Schlafen gibt und nur jeden dritten Tag die Quälerei unterbricht, um sie am vierten Tag wieder fortzuführen? Dieser Sadist würde mit Gefängnis bestraft werden.

Was würde mit einem Menschen geschehen, der seinen Hund so behandelt? Die Nachbarn würden ihn wegen Tierquälerei anzeigen und der Tierschutzverein würde eingreifen.

Über die Verhältnisse in der Arrestzelle im Untersuchungsgefängnis in Hamburg, eine Einrichtung, die trotz Veröffentlichung der Tatsachen, die zum Tode des Häftlings Haase führten, noch heute existiert und in Gebrauch ist, zitiere ich E. Evers, der darüber berichtet:

„Die ,Glocke‘ im Sprachgebrauch der Gefängnisbehörde, ,Beruhigungszelle‘ genannt, ist ein völlig leerer, rundherum auszementierter Raum von etwa 8 qm Bodenfläche, 4.30 m Höhe und rund 29 cbm Rauminhalt. In den Fußboden eingelassen ist ein Rost aus rohen Holzbalken, 2 Meter mal 70 Zentimeter, auf dem der nackt hier eingesperrte Häftling liegen – und auch schlafen muß. (Nachts wird ihm eine derbe Wolldecke in die Zelle geworfen.) In einer Ecke des zementierten Fußbodens befindet sich ein Loch, in das der Häftling, sofern er dazu in der Lage ist, seine Notdurft verrichten kann. Es gibt keinen Wasseranschluß – weder zum Nachspülen noch zum Trinken. Ein winziges Fenster aus Glas-Steinen spendet Licht; dahinter brennt Tag und Nacht eine elektrische Glühbirne. An der Decke sieht man ein Loch für Zuluft und ein Beobachtungsfenster. Schwer gepolsterte Doppeltüren verhindern, daß irgendein Geräusch aus diesem Verließ die Ruhe der Anstalt stört: weder die Schläge der Peiniger noch die Schreie der Gepeinigten. Ärztliche Aufsicht ist laut Gefängnisbehörde gewährleistet (…) Am 29. Juni 1964 wird der Untersuchungshäftling Ernst Haase, ein in Hamburg geborener, in den USA eingebürgerter und sich auf Heimaturlaub befindlicher Tourist, offensichtlich geistesgestört und nicht mehr voll orientierungsfähig, in der sogenannten Beruhigungszelle tot aufgefunden. Sein Gesäß ist zu einem blutigen Brei zerschlagen. Der Körper war von blauen Flecken bedeckt. (…) Ernst Haase starb am Zusammenwirken von innerem Blutverlust durch die erlittenen Schläge sowie an Verlust von Blutflüssigkeit infolge Austrocknung. Das zusammen bewirkte den tödlichen Kreislaufkollaps. Die Hitze in der ,Glocke` steigt auf 40 Grad Celsius und mehr. Das entspricht einem Wüstenklima um die Mittagszeit im Schatten.“

Soweit ein Auszug. Eine ausführliche Beschreibung des Falles enthält mein Buch „Aussagen” (Langewiesche-Brandt-Verlag). Selbst habe ich in Freiburg im Keller eine Arrestzelle gesehen, die wie ein Bärenkäfig aus dicken Gittern gebaut war. Der Raum war dunkel, da vor dem Kellerfenster eine Treppe herlief, die das Tageslicht wegnahm. Einzige Einrichtung: eine harte Pritsche und ein stinkendes Klosett.

Im Klingelpützprozeß kam heraus, daß in vier Jahren nicht weniger als 121 Ermittlungsverfahren auf Grund von Beschwerden von Gefangenen von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurden. Nie gab es eine Anklage. Die Aussage des Beamten wog immer schwerer als die Aus-sage des Gefangenen. Erst der Tod eines Häftlings setzte die Untersuchungen in Gang[3].

Mögen alle diese Beispiele nur Ausnahmefälle sein im Vergleich zu der großen Zahl durchaus ordentlicher Beamter, die sich völlig korrekt benehmen – eines steht für mich fest, nachdem ich die Behandlung in den Arrestzellen miterlebt habe und das System an sich kenne: Diese Art Menschenbehandlung beim sogenannten verschärften Arrest mit Hungertagen und bewußt herbeigeführten Schlafstörungen ist ein kriminelles Delikt, das außerhalb des Strafvollzuges als solches geahndet werden müßte und würde. Innerhalb des Strafvollzuges ist sie ebenso gesetzeswidrig, da sie ohne Zweifel, durch psychische und physische Schädigung des Gefangenen, durch systematische Quälerei Tag und Nacht und die in vielen Anstalten menschenunwürdige Unterbringung, sowohl gegen Artikel 1 Abs. 1 wie gegen Artikel 2 Abs. 2 GG verstößt. Nicht nur die Menschenwürde, sondern auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit wird hier offenbar mißachtet. Ausdrücklich vermerkt das Grundgesetz: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.” Der Gefangene ist aber nach dem Strafgesetz lediglich zu einem Freiheitsentzug verurteilt. Kein deutsches Gesetz erlaubt Menschenquälerei – nach der Vollzugs-Ordnung jedoch wird sie durchgeführt. Also ist die menschenunwürdige Behandlung des Gefangenen im verschärften Arrest ein klarer Verstoß gegen das Grundgesetz und somit eine kriminelle Tat.

1 Sämtliche zitierten Briefe sind exakt abgeschrieben, ohne orthographische Verbesserungen.

2 Siehe Birgitta Wolf: „Aussagen”, Langewiesche-Brandt-Verlag, Seite 235 und 155.

3 Siehe Bericht Wüllenweber in der Anthologie „Strafvollzug in Deutschland” von D. Rollmann.

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