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Lebenslange Diskri­mi­nie­rung?

vorgängevorgänge 0303/1970Seite 82-83

Rehabilitierte Strafgefangene dürfen in Bayern nicht wählen

Aus: vorgänge Nr. 03( Heft 03/ 1973),Seite 82-83

Ein 71jähriger Rentner, aus guter Familie stammend: In seiner Jugend wurde er während der chaotischen Hungerzeit nach dem ersten Weltkrieg auf der Wanderschaft aufgegriffen und — laut durchaus glaubwürdiger Versicherung — das erste Mal unschuldig eingesperrt. Er kam ins Gefängnis Amberg, in einen Schlafsaal mit 106 Gefangenen. Unbeschreibliche hygienische und moralische Zustände in dem Saal. Wer nicht verdorben war, wurde es. Er wurde entlassen, aber von der Familie abgewiesen. Er war verbittert und ohne Halt.
Straffällig war er aus äußerer und innerer Not geworden und wurde es häufiger. Die Situation wurde nach jeder Entlassung noch schwerer. Die Türen zur Familie waren verschlossen — die Türen zu den Kneipen auf. Er hatte keine Freunde — nur Kumpane. So gab es Rückfälle, die zuletzt mit Zuchthaus bestraft wurden. (Wie ich in meinem Buch „Die vierte Kaste”, Rütten und Loening Verlag, aufzeige, kann man wegen eines Apfeldiebstahls zu einem Jahr und vier Monaten Zuchthaus verurteilt werden. Die „Zuchthäusler” und „Sicherungsverwahrte” sind in den meisten Fällen gar nicht die „gemeingefährlichen Gewaltverbrecher”, wie die Allgemeinheit sie sich vorstellt. Sie sind oft Diebe und Betrüger mit mehreren Rückfällen. Wer macht sich die Mühe und fragt: „Warum?“.)
Mit der Zuchthausstrafe war ein Ehrverlust von zehn Jahren verbunden. Er erlosch im Jahre 1939. Seit nunmehr genau dreißig Jahren lebt dieser Mann unter den schwersten Bedingungen straffrei. Er hat geheiratet und hat ein Kind. Durch Krankheit frühzeitig Rentner geworden, schonte er sich nie, nahm die schwerste und schmutzigste Arbeit an, nur um für Frau und Kind zu sorgen.
Ich habe das tapfere Kämpfen dieses Mannes gegen Versuchungen von früheren Zellenkollegen, gegen Hunger und Kälte und schlechte Unterbringung in einem Lager für Asoziale miterlebt. Ich habe die größte Hochachtung vor diesem Menschen. Solange er arbeitsfähig war, nahm er jede Stellung an. Immer wieder ging sie ihm verloren, wenn die Arbeitgeber erfuhren, daß er ein „ehemaliger Zuchthäusler” war. Seine Frau wußte von seiner Vergangenheit, hielt aber unerschütterlich zu ihm. Sein Kind sollte nichts erfahren, um dadurch nicht seelisch belastet zu werden.
Bis zum November 1958 schien es, als habe der Staat ihn als Mitbürger wieder akzeptiert. Er zahlte seine Steuer wie alle, er ging zur Wahl wie andere Mitbürger auch. Im Jahre 1958 erhielten er und seine Frau wie immer vor den Landtags- und Bezirkswahlen ihre Wahlbenachrichtigungen. Aber kurz danach kam ein Brief:

Landeshauptstadt München, 20. Nov. 1958 München Bezirksinspektion des 33. Wahlbezirkes
An Herrn X
München
Sehr geehrter Herr X
Zufolge einer mit Gesetz vom 12. November 1958 (GVBL. Nr. 26 S. 329) ergangenen Ergänzung von Art. 2 des Landeswahlgesetzes sind Sie nach unseren Unterlagen für die Landtags- und Bezirkswahl nicht stimmberechtigt.

Die Ihnen übermittelte Wahlbenachrichtigung über Ihre Stimmberechtigung wird auf Grund dieser gesetzlichen Regelung hiermit widerrufen.
Hochachtungsvoll
Unterschrift, Städt. Amtmann

Und dies 19 Jahre, nachdem der Ehrverlust erloschen war! Nach 21 Jahren straffreier Führung. Nachdem dieser Mann die Jahre seit 1939 bzw. 1945 wie jeder andere Mitbürger hatte wählen dürfen!
Diese Ergänzung zum bayerischen Wahlgesetz vom 12. 11. 1958 drückt einem Menschen, der nicht nur gesühnt hat, sondern durch sein Leben bewies, daß er genug innere Kraft besitzt, ein genau so guter Bürger wie alle nicht Vorbestraften zu werden, einen Kainsstempel auf. Er schändet aber die Gesetzgeber in Bayern mehr als den Gestempelten.
Als die Frau dieses Mannes das Schreiben las, zerriß sie ihre Wahlkarte und ging seither nicht mehr zur Wahl. Mir schrieb der Mann einen verzweifelten Brief, der über die neu eingeführte, nachträgliche, lebenslange Diskriminierung berichtete, die ihn nach 21 Jahren straffreier Führung plötzlich zum Bürger zweiter Klasse für alle Zeiten abwertete. Ich wandte mich an die Bezirksinspektion. In der Antwort stand zu lesen: „Der Verlust zur Bekleidung öffentlicher Ämter tritt zum Beispiel nach Paragraph 32 des Strafgesetzbuches auch bei Verurteilung zu Zuchthausstrafen ein, also ohne besondere Auflage.” Das Münchner Amt gelangte daher zu dem Ergebnis, daß „damit auch ein mit Zuchthaus Bestrafter weder stimmberechtigt noch wählbar ist”. Und dies bis zu seinem Lebensende!
Jeder ist gleich vor dem Recht — ein Satz, der nicht stimmt! Die bayrische Wahlpraxis bezieht sich nur auf Landtags- und Bezirkswahlen. Andere Länder der Bundesrepublik kennen diese erniedrigende Bestimmung nicht. Völlig widersinnig erscheint die Tatsache, daß der gleiche entlassene ehemalige Zuchthausgefangene, der an keiner Landtagswahl teilnehmen darf, unbehindert für die Bundestagswahlen seine Stimme abgeben kann!
Nachdem ich die Öffentlichkeit (und somit auch die Politiker) auf diesen Fall in meinem Buch ohne jegliches Resultat aufmerksam gemacht hatte, wandte ich mich am 26. 4. 1966 in einem ausführlichen Schreiben an den Vorsitzenden der Landtagsfraktion der SPD, Waldemar von Knoeringen, mit der Bitte, daß er den Vorschlag zu einer Gesetzänderung im Bayerischen Landtag anregen solle, damit die Ergänzung von Art. 2 des Bayerischen Landeswahlgesetzes vom 12. November 1958 wieder annulliert werde. Kein Resultat. Lange keine Antwort. Dann durch den Landessekretär Pohl eine Absage „aus sachlichen und zeitlichen Gründen” für die Zeit vor den Landtagswahlen 1966; dazu eine Vertröstung auf eine neue Überprüfung der Frage nach den Wahlen.
Nichts erfolgte.
Bei der Gründung der Aktionsgemeinschaft für Kriminalrecht und Strafvollzugsreform durch Rechtsanwalt Till Burger und mich in Ried am 9. 9. 1966, sprach ich über das gleiche Thema ausführlich mit dem dort anwesenden Repräsentanten der SPD, Michael Hereth. Er zeigte Interesse und Verständnis und versprach, an die Angelegenheit zu erinnern.
Wieder nichts.
Als die Aktionsgemeinschaft im Juni 1967 in der Politischen Akademie in Tutzing in Zusammenarbeit mit der Leitung der Akademie eine zweite Tagung durchführte, waren zahlreiche Landtagsmitglieder der Parteien dabei. Wieder nahm ich das Problem des diskriminierenden bayerischen Wahlgesetzes auf.
Wie ich erfahren habe, will daraufhin erfreulicherweise ein Landtagsmitglied der SPD nun tatsächlich im Landtag einen Abänderungsvorschlag in meinem Sinne vorbringen.

Hierzu schreibt Karl-Heinz Krumm, der von mir über das bayerische Wahlgesetz informiert wurde, in der Frankfurter Rundschau: „Zweierlei Recht also. Und üble Diskriminierung dazu. Mit Menschlichkeit, Recht und Demokratie hat das bayerische Landeswahlgesetz jedenfalls nichts zu tun.”

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