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"Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung" - aktuelle Entwick­lungen und Perspek­tiven

aus vorgänge Heft 2/2012, S.33-40

Die Frage, wie Gesellschaften nach der Überwindung verbrecherischer Regime und in der Phase des Aufbaus einer neuen Ordnung mit dem Erbe des alten Regimes umgehen sollen, ist gleichermaßen alt wie aktuell. Was soll mit den Tätern geschehen? Wie lässt sich Gerechtigkeit für die Opfer herstellen? Wie soll mit den Eliten des alten Regimes verfahren werden, und wie können die vielen, auf die eine oder andere Weise in die Verbrechen verstrickten Mitläufer und Zuschauer für den Neuaufbau gewonnen werden? Das sind nur einige der Fragen, die Transformationsgesellschaften in der Phase des Aufbaus und der Konsolidierung einer neuen Ordnung und häufig über diese Phase hinaus zentral beschäftigen.

Gesellschaften haben diese Frage nach dem adäquaten Umgang mit dem Erbe überwundener Gewalt auf unterschiedliche Weise beantwortet, was sich nicht zuletzt darin manifestiert, dass die jeweils zur Anwendung gebrachten Konzepte, Mechanismen und Instrumente des Umgang mit belasteter Vergangenheit unter verschiedenen Begriffen gebündelt wurden, die zudem häufig semantischen Verschiebungen unterlagen. In der Bundesrepublik beispielsweise waren seit den 1950er Jahren zunächst die Begriffe „Vergangenheitsbewältigung“ und „Aufarbeitung der Vergangenheit“ geläufig, die dann seit den 1980er Jahren zunehmend durch Begriffe wie „Erinnerungskultur“ oder „Vergangenheitspolitik“ abgelöst wurden. Seit der Jahrtausendwende hat sich zudem der Neologismus transitional justice zu etablieren begonnen, was als Hinweis auf die zunehmende Internationalisierung und Globalisierung des Umgangs mit Regimeverbrechen gedeutet werden kann. Solche semantischen Verschiebungen sind zudem stets ein Indikator dafür, dass eine gesellschaftspolitische Praxis selbst eine Geschichte hat. Dies trifft auch auf die Praxis des Umgangs mit belasteter Vergangenheit zu.

Mit dieser bereits vielfach erzählten Geschichte des Umgangs mit belasteter Vergangenheit möchte ich mich im Folgenden näher beschäftigen. In groben Zügen lautet diese Erzählung, dass der gängige Umgang mit Regimeverbrechen bis weit in das Zwanzigste Jahrhundert hinein das Vergessen und Verdrängen gewesen sei und dass mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein langsamer Wandel eingesetzt habe, der sich heute in der weltweiten Akzeptanz und Durchsetzung von Vergangenheitsbewältigung als universaler Norm manifestiere. Ich möchte im Folgenden einen kritischen Blick auf diese weithin akzeptierte Erzählung werfen, um die gängigen Optionen des Umgangs mit belasteter Vergangenheit und die zentralen Positionen im thematisch einschlägigen Diskurs zu identifizieren. Auf dieser Grundlage sollen des Weiteren einige der zentralen Prämissen hinterfragt werden, um schließlich auf einige aktuelle Entwicklungen, auf damit verbundene Probleme und abschließend auf die Perspektiven der Vergangenheitsbewältigung zu sprechen zu kommen.

Die Politik des Schluss­strichs

In der Debatte um den adäquaten Umgang mit Regime- und Menschenrechtsverbrechen lassen sich in einem ersten und zunächst groben Zugriff zwei wesentliche Strategien unterscheiden, die in der thematisch einschlägigen Literatur häufig als sich gegenseitig ausschließende und diametral entgegen gesetzte Wege des Umgang mit belasteter Vergangenheit beschrieben werden. Während sich die Vertreter der ersten Position für eine Politik des Schlussstrichs als angemessenem Umgang mit Regimeverbrechen aussprechen und das Beschweigen der Vergangenheit als notwendige Voraussetzung der Konsolidierung von politischen Systemen im Aufbau ansehen, sind Befürworter der zweiten Position der genau gegenteiligen Auffassung. Sie begreifen die Aufarbeitung der Vergangenheit als notwendige Ressource im Systemwechsel und sie erachten die Wiederherstellung von Vertrauen in Transformationsprozessen als unabdingbare Voraussetzung für die Etablierung von demokratischen Systemen. Es lohnt sich aus zwei Gründen, zunächst einen genaueren Blick auf die erste Position zu werfen, einerseits, weil sie in thematisch einschlägigen Diskursen nach wie vor vorgebracht und vehement vertreten wird, und andererseits, weil ein genauerer Blick auf die vorgebrachten Argumente Zweifel an der Eindeutigkeit des Plädoyers für die Politik des Schlussstrichs aufkommen lässt.

Unlängst war es der Althistoriker Christian Meier, der in einer breit rezipierten Intervention erneut eine Lanze für das Schweigen über begangene Verbrechen in Situationen des Systemwechsels gebrochen und vor den destruktiven Effekten des Aufarbeitens und Erinnerns gewarnt hat (Meier 2010). Sowohl, was die von Meier herangezogenen Fälle als auch was seine Argumente angeht, kann seine Position als durchaus typisch für die Vertreter der Politik des Schlussstrichs gelten. Beginnend mit dem Peloponnesischen Krieg (404 v. Chr.) und dem Friedensvertrag von 403/402 (v. Chr.) und weiter im Durchgang durch gut zweieinhalb Jahrtausende europäischer Geschichte zeigt Meier auf, dass die Politik des Schlussstrichs bis weit in das Zwanzigste Jahrhundert hinein die gängige und akzeptierte Strategie nach der Entrechtung von Unrechtsregimen war und dass die Tradition der oblivio als politische, rechtliche und moralische Voraussetzung gesellschaftlicher Versöhnung und Integration nach schwerwiegenden Konflikten galt. Wie auch andere Befürworter der Politik des Schlussstrichs spricht sich Meier für eine Strategie aus, die gesellschaftliche Integration gerade nicht auf dem Weg der öffentlichen Auseinandersetzung, sondern durch eine Politik des Vergessens erreichen will. Öffentlich ausgetragene Selbstverständigungsdebatten und andere Formen der Aufarbeitung werden hier daher nicht als Ressource und Chance, sondern als Risikofaktoren begriffen, die mit dazu beitragen, die nach Regimewechseln ohnehin labile bzw. erst noch zu etablierende Stabilität zu beeinträchtigen. Auf der Ebene des Rechts beinhaltet die Politik des Schlussstrichs unter anderem die Garantie der Straffreiheit oder Straferlassung für die Täter, die auf politischer Ebene mit einer fehlenden Wiedergutmachung für die Opfer und häufig mit Elitenkontinuität korrespondiert. Auf der gesellschaftlichen Ebene kommt sie wohl dem am nächsten, was Hermann Lübbe unter Bezugnahme auf die frühe Bundesrepublik als „kommunikatives Beschweigen“ bezeichnet hat. Die Akteure schließen eine Art Schweigepakt, der eine stille Integration der Täter und Mitläufer in die Gesellschaft ermöglicht. Lübbe sah diese „gewisse Stille“ als „sozialpsychologisch und politisch nötiges Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland“ (Lübbe 1989: 339). Das Schweigen sei politisch notwendig gewesen, weil durch eine allzu heftige politische Thematisierung eine Zustimmung der nationalsozialistisch indoktrinierten Mehrheit der ehemaligen Volksgenossen und nunmehr neuen Staatsbürger zur neu gegründeten Demokratie nicht hätte erreicht werden können. Es war sozialpsychologisch notwendig, weil man nur bei wieder gewonnenem Selbstbewusstsein in der Lage gewesen sei, die diskreditierte Vergangenheit zu einem späteren Zeitpunkt aufzuarbeiten.

Im Zusammenhang mit diesem und ähnlich lautenden Plädoyers für eine Politik des Schlussstrichs sind zwei Punkte bemerkenswert: Zum einen weist Meier am Beispiel des bundesrepublikanischen Umgangs mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen selbst darauf hin, dass die Politik des Schweigens zeitlich terminiert war. Meier zeigt die Stationen des politischen, rechtlichen und öffentlichen Umgangs mit dem nationalsozialistischen Gewaltregime auf, von den Nürnberger Prozessen über die zahlreichen öffentlichen Debatten um verschiedene Aspekte des Völkermords und Vernichtungskriegs bis hin zur Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Bei allen Bemühungen um eine kritische Aufarbeitung des Geschehens und bei aller Thematisierung habe es allerdings auch eine Phase des Schweigens gegeben, die Meier zwischen 1949, dem Jahr der Gründung der Bundesrepublik, und 1958, dem Jahr des Ulmer Einsatzgruppenprozesses, ansiedelt. Hier, in dieser „Zwischenzeit“ und danach erst allmählich auslaufend, sei „das nach Katastrophen Normale [geschehen]: Man verdrängte und strebte nach Amnestie, nach Vergessen: Und hatte damit für eine lange Weile auch guten Erfolg“ (Meier 2010: 50). Und dieses Vergessen wiederum sei die Voraussetzung dafür gewesen, „dass die Arbeit an der NS-Vergangenheit in den folgenden Jahren zwar immer noch unendlich mühsam, aber letztlich erfolgreich [habe] vorgenommen werden können“ (ebd.: 68). An diesem Beispiel lässt sich sehr gut zeigen, dass selbst vehemente Befürworter der Politik des Schlussstrichs einräumen, dass diese zeitlich terminiert sein kann und dass darauf Phasen der intensiven Auseinandersetzung folgen können und dies de facto häufig auch tun. Das Plädoyer für das Vergessen verliert dadurch an Eindeutigkeit, Absolutheit und auch an Schärfe.

Zum anderen lassen sich aus Meiers Analyse interessante Hinweise hinsichtlich der sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern einer Politik des Schlussstrichs häufig in Anschlag gebrachten Dichotomie zwischen Erinnern und Aufarbeiten auf der einen und Vergessen und Verschweigen auf der anderen Seite entnehmen. Ein genauerer Blick auf die von Meier behandelten Fälle lässt nämlich deutlich werden, dass die Politik des Schlussstrichs selbst in scheinbar eindeutigen Fällen wie dem Vertrag von 403/402 (v. Chr.) so ungebrochen gar nicht war. Es ist zwar richtig, dass im Zentrum des zwischen den zurückgekehrten Demokraten und den entmachteten Tyrannen geschlossenen Vertrages die Vereinbarung stand, „nicht an das Schlimme zu erinnern“ (ebd.: 17). Entscheidend ist aber, dass der Vertrag Ausnahmen vorsah von dieser Regel. Zwar waren für weite Teile der Bevölkerung Amnestien vorgesehen, jedoch waren Anklagen gegen diejenigen zulässig, die mit eigener Hand getötet hatten. Ausgenommen von der Amnestie waren des Weiteren vier Personengruppen: erstens die Tyrannen selbst, zweitens diejenigen, die ihnen in der kurzen Übergangsphase vor der Wiederherstellung der Demokratie nachfolgten, drittens der Personenkreis, der dafür verantwortlich war, das die Befehle der Tyrannen ausgeführt worden waren, sowie schließlich, viertens, die Archonten von Piräus, die den Hafen im Auftrag der Oligarchie verwaltet hatten (ebd.: 20f.; Elster 2005: 27). Bereits auf der Ebene des Rechts lässt sich also erkennen, dass die in Athen ausgehandelte Strategie nicht im ausnahmslosen Schweigen und Vergessen bestand, sondern durchaus Maßnahmen vorsah, mit denen die Haupt-schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Flankiert wurden diese Maßnahmen allerdings von der gleichzeitigen Amnestierung der weniger Belasteten und der Mitläufer.

Neben diesen rechtlichen Maßnahmen scheint es auch politisch-gesellschaftliche Strategien gegeben zu haben, die gewichtige Ausnahmen vom Schweigeverbot vorsahen. Die Hauptschuldigen waren, wie bereits angeführt, von der Amnestie ausgenommen, aber es stand ihnen ein Weg offen, der ihnen Straffreiheit ermöglichen konnte. Dies scheint sich ähnlich gestaltet zu haben wie die Verfahren, die heute im Rahmen von Wahrheitskommissionen praktiziert werden. Wenn die Hauptschuldigen Rechenschaft ablegten – vermutlich musste das öffentlich geschehen -, konnten sie von der Anklage verschont bleiben (Meier 2010: 21). Ein weiterer Hinweis, dass die Politik des Schlussstrichs keine absolute Strategie darstellte, findet sich in den so genannten Dokimasie-Verfahren, in deren Rahmen die potentielle Verstrickung designierter Amtsträger oder Ratsmänner in die Tyrannenherrschaft untersucht wurde (ebd.: 24). Darüber hinaus finden sich im Vertrag Klauseln, in denen Restitutionsfragen geregelt werden – bewegliche Güter sollten nicht rückerstattet werden, unbewegliches Eigentum wie beispielsweise Land oder Häuser jedoch sehr wohl (Clark Loening 1987: 51f.). Auch scheint es öffentliche Reden gegeben zu haben, in denen die Tyrannei ausführlich erörtert wurde. Die Reden des Lysias, eines in Athen lebenden Fremden, in denen die Gewaltherrschaft der Tyrannen öffentlich thematisiert und kritisiert wurde, sind hier ein Beispiel (Elster 2005: 31ff.).

Bereits diese wenigen Hinweise deuten darauf hin, dass es sich im Fall des Vertrags zwischen Demokraten und Tyrannen nicht um eine eindeutige Politik des Schlussstrichs handelte, sondern um den Versuch, Emotionen zu kanalisieren und Rachegefühle in eine geregelte Form des Umgangs mit Gewaltverbrechen zu leiten, mit dem Ziel, einen durch Hass angestachelten Bürgerkrieg zu vermeiden. Meier selbst räumt ein, dass „das Verbot des Erinnerns […] nicht fugendicht durchzuhalten gewesen sein“ dürfte und es „wahrscheinlich ohnehin falsch [sei] sich vorzustellen, dass solche Verbote ein für allemal ,galten“ (Meier 2010: 24) – ohne daraus jedoch auf der Ebene seiner Thesen erkennbare Konsequenzen zu ziehen.

Dieses Beispiel lässt deutlich werden, dass die aus prominenten Fällen der Übergangsjustiz abgeleiteten Plädoyers für eine Politik des Schlussstrichs auf den zweiten Blick nicht standhalten. Vielmehr erweisen sich die Strategien des Schweigens und des Thematisierens auch in scheinbar eindeutigen Fällen als sich nicht gegenseitig ausschließende, sondern als vielfach aufeinander bezogene, ineinander verschränkte und in unterschiedlichen Variationen auftretende Handlungsoptionen des Umgangs mit Regime- und Menschenrechtsverbrechen. Von daher lässt sich hier zunächst die These formulieren, dass das Schweigen und das Thematisieren im Kontext des Umgangs mit belasteter Vergangenheit in jeweils spezifischen und unterschiedlich gewichteten Kombinationen auftreten.

Die Aufar­b­ei­tung von Menschen­rechts- und Regime­ver­bre­chen

Für die verschiedenen Facetten des Umgangs mit Regime- und Menschenrechtsverbrechen nach Kriegen und Diktaturen haben sich im bundesrepublikanischen Diskurs seit den 1950er Jahren die Begriffe Aufarbeitung der Vergangenheit, Vergangenheitsbewältigung oder auch Erinnerungspolitik etabliert. Wenn von Aufarbeitung oder Vergangenheitsbewältigung die Rede war, war „über Jahrzehnte hinweg sofort klar, dass man sich damit auf Deutschland bzw. die Bundesrepublik bezog. Bundesrepublik und Vergangenheitsbewältigung – das gehörte untrennbar zusammen“ (König 1998: 371). Inzwischen haben sich diese Begriffe weit von ihrem Entstehungskontext entfernt. Auch hat sich das Verständnis der Handlungen und Prozesse, die diesen Semantiken zugeordnet werden, stark erweitert. Zielte die Forderung nach Aufarbeitung in der Bundesrepublik der 1950er Jahre auf individuelle Selbstreflexion und persönliche Gewissensprüfung im Zusammenhang mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes (Überblick bei Schwelling 2009), wurde dieser zunächst mit Fragen von Schuld, Buße und Reue assoziierte Begriff seit den 1980er Jahren auf Felder jenseits der sozialpsychologischen Ebene ausgedehnt. So unterschied beispielsweise Helmut König fünf Aufgaben, die im Rahmen von Prozessen der Aufarbeitung von Vergangenheit zu bewältigen seien: „l. Verbot der belasteten Organisationen; 2. Bestrafung der Täter; 3. Disqualifizierung belasteter Personen; 4. Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer; 5. Öffentliche Aufarbeitung der Vergangenheit“ (König 1998: 379). Für diese Vielzahl an Prozessen hat sich in der internationalen Debatte seit den 1990er Jahren der Begriff der transitional justice etabliert, wobei sich auch hier eine Begriffserweiterung beobachten lässt. Während damit zunächst die im engeren Sinne rechtlichen Maßnahmen im Umgang mit Regime- und Menschenrechtsverbrechen bezeichnet wurden, werden unter diesen Begriff inzwischen auch verschiedenste Formen der Erinnerung und des Gedenkens an Verbrechen und deren Opfer, öffentlich oder von offizieller Seite vorgebrachte Entschuldigungen oder außergerichtliche Formen der Konfliktbewältigung subsumiert, so dass transitional justice heute als Sammelbegriff für sämtliche Maßnahmen, Instrumente und Konzepte des Umgangs mit belasteter Vergangenheit gebräuchlich ist. Die rasante Etablierung dieses Paradigmas ist unter anderem auf die Aktivitäten von verschiedenen internationalen Nichtregierungsorganisationen(1) zurückzuführen, deren globale Ausstrahlung auch dazu geführt hat, dass Maßnahmen und Instrumente der Vergangenheitsbewältigung inzwischen in verschiedenen Variationen in vielen Teilen der Welt praktiziert werden und zum Teil auch unabhängig von Phasen der Systemtransformation zum Einsatz kommen.

Was die verschiedenen Instrumente des Umgangs mit Regime- und Menschenrechtsverbrechen angeht, haben sich einige grundlegende Differenzierungen etabliert. Zentral ist die Unterscheidung zwischen vergeltender und wiederherstellender Gerechtigkeit (retributive und restorative justice), wobei die erstgenannte Form insbesondere in nationalen und internationalen Gerichtsverfahren und Tribunalen praktiziert wird. Als populäres Instrument der zweitgenannten Strategie haben sich außergerichtliche Verfahren, insbesondere Wahrheitskommissionen etabliert. Während bei strafrechtlichen Prozessen die Bestrafung der Täter im Vordergrund steht, wird mit Wahrheitskommissionen häufig das Ziel der gesellschaftlichen Aussöhnung zwischen den verschiedenen, am Konflikt beteiligten Parteien verfolgt.

Neben dieser seit Längerem etablierten Unterscheidung zwischen vergeltender und wiederherstellender Gerechtigkeit wurden inzwischen weitere Begriffe eingeführt, die sich deutlich an den Neologismus transitional justice anlehnen, obwohl damit nicht immer rechtliche Fragen berührt werden. So findet sich beispielsweise der Vorschlag, mit reparative justice eine dritte Kategorie einzuführen (Minow 1998). Zusammengefasst werden sollen unter diesem Begriff Instrumente und Maßnahmen, mit denen Unrecht „repariert“ oder wiedergutgemacht werden soll, wie beispielsweise Entschuldigungen oder Restitutionen. Auch finden sich Vorschläge, „traditionelle“ Formen der Konfliktlösung unter den Begriff der traditional justice zusammenzufassen. Damit sind Versuche gemeint, Prozesse der Aufarbeitung jeweils an lokal vorhandenen Ansätzen der Konfliktlösung auszurichten. Zwei prominente Beispiele hierfür sind mato oput in Norduganda (Meier 2011) und Gacaca in Ruanda (Hankel 2011). Es handelt sich dabei um Rituale der Wiederherstellung von sozialen Beziehungen nach Konflikten, die über eine lange lokale Tradition verfügen.

Dass diese neueren Vorschläge bereits auf der semantischen Ebene Anschluss an den Begriff der transitional justice suchen, ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Einerseits ist damit nämlich zum Teil eine nicht auf den ersten Blick deutlich werdende Kritik an der Praxis und am Diskurs der transitional justice verbunden, die zusehends als „hegemonialisierend“ und der liberalen Tradition verhaftet (Buckley-Zistel 2011: 19) wahrgenommen werden. So wird kritisiert, dass es sich dabei um ein „Konstrukt“ handelt, „das vor allem von sogenannten westlichen Vorstellungen und Entwicklungen geprägt wurde“ (Buckley-Zistel/Oettler 2011: 35). Dieses Konstrukt sei nicht nur „staatszentriert und auf die Nation fokussiert“, sondern auch von westlichen „Verantwortungs-, Transparenz- und Rechenschaftsdiskursen“ und „rationalistischen und technokratischen Ansätzen“ beeinflusst (ebd.: 34). Vor diesem Hintergrund lassen sich Ansätze der traditional justice auch als Gegenpol und Alternativen zu Konzepten und Praktiken der transitional justice verstehen, die als primär von westlichen Vorstellungen geprägte Konzepte wahrgenommen werden. Die Tatsache aber, dass selbst Kritiker der transitional justice mit ihren als Alternativen zu verstehenden Konzepten die semantische Anknüpfung an den Begriff suchen, verdeutlicht andererseits, wie mächtig dieses Konstrukt und die mit ihm verbundenen Praktiken inzwischen geworden sind. Es scheint, als hätte sich inzwischen ein von internationalen Nichtregierungsorganisationen und Experten getragenes globales Regime der transitional justice etabliert, dass ein durch westliche Maßstäbe geprägtes Konzept der kritischen Aufarbeitung von Vergangenheit weltweit propagiert und umsetzt.

Vergleicht man diese seit einiger Zeit zunehmend geäußerten, kritischen Stimmen mit den eingangs skizzierten Positionen der Vertreter einer Politik des Schlussstrichs, lässt sich eine wichtige Differenz der beiden Positionen festhalten. Während die Vertreter der letztgenannten Position grundsätzliche Einwände gegen das Projekt des kritischen Umgangs mit belasteter Vergangenheit formulieren, zielt die erstgenannte Kritik in eine andere Richtung. Hier geht es darum, die Annahme der universellen Gültigkeit der westlich geprägten Konzepte und Praktiken der transitional justice zu dekonstruieren mit dem Ziel, den darin eingeschriebenen kulturellen Code sichtbar zu machen. Damit verbunden ist das Plädoyer, im Rahmen der Aufarbeitung von belasteter Vergangenheit weniger auf vermeintliche Passepartouts zurückzugreifen, sondern die jeweiligen kulturellen Ressourcen und historischen Traditionen der Konfliktbewältigung stärker in Rechnung zu stellen.

Die Zukunft der Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung

Welche weiterführenden Hinweise lassen sich aus diesem zugegebenermaßen nur skizzenhaften Durchgang durch die Geschichte des Umgangs mit belasteter Vergangenheit entnehmen? Zum einen wurde deutlich, dass die im thematisch einschlägigen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs immer noch dominante, dichotome Gegenüberstellung der Politik des Schlussstrichs auf der einen und der Politik der Aufarbeitung auf der anderen Seite unproduktiv ist, weil sie die Praxis des Umgangs mit belasteter Vergangenheit verfehlt. Denn ein genauerer Blick auf die vielfältige Praxis des Umgangs mit Regimeverbrechen zeigt, dass die jeweiligen Strategien stets beides enthalten: Elemente des Schweigens und der Politik des Schlussstrichs wie auch Elemente des auf verschiedenen Ebenen angesiedelten Aufarbeitens und der kritischen Reflexion. Von daher sollten Ziel und Aufgabe der zukünftigen Beschäftigung mit Fällen des Umgangs mit Regimeverbrechen weniger darin bestehen, diese nur scheinbare Dichotomie zwischen der Politik des Schlussstrichs und der Politik der Aufarbeitung stets erneut zu zementieren. Vielmehr sollte es darum gehen, genauer auszuloten, in welchen Kombinationen das Schweigen und das Thematisieren im Kontext des Umgangs mit Menschenrechts- und Regimeverbrechen jeweils auftreten, welche Faktoren dafür jeweils ausschlaggebend sind und wie sich diese Prozesse im zeitlichen Verlauf auch über die Situation des Systemwechsels und die Phase der Transformation hinaus jeweils gestalten.

Zum anderen hat die skizzenhafte Rekapitulation der neueren Kritik an den Instrumenten der transitional justice deutlich werden lassen, dass der globale Erfolg dieser Strategie gleichermaßen zu ihrem Problem geworden ist. Hier wird es in Zukunft darum gehen müssen, die Suche nach jeweiligen Strategien des Umgangs mit Menschenrechts- und Regimeverbrechen weniger von vermeintlich universalen und allgemeingültigen Antworten leiten zu lassen, ’sondern stattdessen die jeweiligen Kontextbedingungen stärker in Rechnung zu stellen. Hier sind die konkreten Machtverhältnisse in der Situation des politischen Umbruchs ebenso zu beachten wie das Ausmaß der begangenen Verbrechen oder die lokalen Traditionen der Konfliktbewältigung, die als Ressource im Prozess der Aufarbeitung dienen können. Und hier schließt sich auch ein weites, bisher kaum bearbeitetes Feld für die Forschung an, die zwar eine inzwischen nahezu unüberschaubare Anzahl an Einzelfallstudien bearbeitet, aber noch wenig vergleichende Analysen und Erkenntnisse über die Frage der Wirksamkeit der verschiedenen Instrumente und Maßnahmen des Umgangs mit belasteter Vergangenheit vorgelegt hat.

(1) U. a. das International Center for Transitional Justice (ICTJ), das Institute for Peace and Reconciliation (IJR) und das International Institute for Democracy and Electoral Assistance (IDEA).

Literatur

Buckley-Zistel, Susanne 2011: Einleitung: Nach Krieg, Gewalt und Repression, in: Dies./Kater, Thomas (Hg.): Nach Krieg, Gewalt und Repression. Vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit, Baden-Baden, S. 7-20.

Buckley-Zistel, Susanne/Oettler, Anika 2011: Was bedeutet: Transitional Justice, in: Buckley-Zistel, Susanne/Kater, Thomas (Hg.): Nach Krieg, Gewalt und Repression. Vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit, Baden-Baden, S. 21-37.

Clark Loening, Thomas 1987: The Reconciliation Agreement of 403/402 B.C. in Athens. Its Content and Application, Stuttgart.

Elster, Jon 2005: Die Akten schließen. Nach dem Ende der Diktaturen, Frankfurt a. M.

König, Helmut 1998: Von der Diktatur zur Demokratie oder Was ist Vergangenheitsbewältigung, in: Ders. et al. (Hg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden, S. 371 – 392.

Hankel, Gerd 2011: Die Gacaca-Justiz in Ruanda – ein kritischer Überblick, in: Buckley-Zistel, Susanne/Kater, Thomas (Hg.): Nach Krieg, Gewalt und Repression. Vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit, Baden-Baden, S. 167-183.

Lübbe, Hermann 1989: Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart; in: Ders.: Die Aufdringlichkeit der Geschichte, Graz-Wien-Köln, S. 334-350.

Meier, Barbara 2011: Mato oput – Karriere eines Rituals zur sozialen Rekonstruktion in Norduganda, in: Buckley-Zistel, Susanne/Kater, Thomas (Hg.): Nach Krieg, Gewalt und Repression. Vom schwierigen Umgang mit der Vergangenheit, Baden-Baden, S. 185-203.

Meier, Christian 2010: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München.

Minow, Martha 1998: Between Vengeance and Forgiveness: Facing History after Genocide and Mass Violence, Boston, MA.

Schwelling, Birgit 2009: Aufarbeitung der Vergangenheit und politische Kultur. Zur Bedeutung und zum Zusammenhang zweier Konzepte, in: Gerhard, Volker et al. (Hg.): Politisches Denken. Jahrbuch 2009, Berlin, S. 45-62.

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