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Die verschwun­denen Bomben des Saddam Hussein

Eine Analyse der anglo-amerikanischen Kriegsbegründungspropaganda

aus: Vorgänge Nr. 167 ( Heft 3/2004) , S.65-77

Alle Demokratien sind mit dem Widerspruch konfrontiert, dass ihr handelndes Personal zwar normativ der Wahrhaftigkeit verpflichtet ist, Täuschungen, der instrumentelle Einsatz von Informationen sowie kleine und größere Lügen in der politischen Tagesauseinandersetzung aber als durchaus legitim gelten. Dies ist besonders dann der Fall, wenn politische Konflikte militärisch ausgetragen werden. Schon zur Sicherheit der eigenen Soldaten kann und darf eine Regierung nicht alles sagen, was sie über laufende Einsätze weiß. Auch gelten bestimmte Kriegslisten als völkerrechtlich legitim, die Täuschung des Gegners über die eigenen Absichten und Aktionen ist immanenter Bestandteil der Kriegführung und wird seit Jahrtausenden von allen Kriegsparteien angewandt. Anders sieht es freilich aus, wenn Lügen nicht strategisch zur Führung eines Krieges eingesetzt werden, sondern wenn die Begründung der Notwendigkeit eines Krieges durch Lügen erfolgt. Adressat der Lügen ist dann nicht der Gegner (der ja weiß, dass die andere Seite die Unwahrheit sagt), sondern neutrale Dritte (etwa die Weltöffentlichkeit) sowie die Bevölkerung des eigenen Landes. Greift eine Regierung bei ihrer Kriegsbegründungspropaganda auf Lügen zurück, untergräbt sie den demokratischen Diskurs und verhindert die freie Meinungsbildung über Krieg und Frieden, also über das wichtigste Thema, über das in Demokratien entschieden werden kann. Im Folgenden soll am Beispiel des Irak-Kriegs skizziert werden, wie es innerhalb von demokratischen Regierungen dazu kommen konnte, dass diese bei der Begründung eines Krieges mit massiven Lügen operiert haben, und welche Folgen eine solche Irreführung der demokratischen Öffentlichkeit nach sich zieht.

Anatomie einer Lüge

Der Irak-Krieg 2003 ist von der Kriegskoalition mit drei Begründungen geführt worden: Saddam Hussein habe nach wie vor verbotene Massenvernichtungswaffen, er unterstütze den islamistischen Terrorismus und er unterdrücke sein Volk. Das letzte Argument
war und ist zwar das überzeugendste, spielte jedoch bei der Rechtfertigung des Krieges nur eine untergeordnete Rolle. Zur zentralen Kriegsbegründung wurden – zumindest bis zu Paul Wolfowitz bizarrer Erklärung im Juni 2003, man habe sich auf den Kriegsgrund Massenvernichtungswaffen vor allem aus „bürokratischen Gründen” geeinigt‘ – die A-, B- und C-Waffen des Regimes. Der britische Premier Tony Blair etwa sagte im Herbst 2002: „Das zentrale Problem sind die Massenvernichtungswaffen. Damit liegen die Dinge ganz einfach: Der Irak muss es zulassen, diese Kapazitäten unschädlich zu machen. Diese Forderung muss Saddam Hussein erfüllen.” (Der Tagesspiegel v. 19.9.2002) Ähnlich äußerten sich auch Präsident George W. Bush und andere führende US-Politiker immer wieder, bis die „Weigerung” des irakischen Regimes, seine Massenvernichtungswaffen zu verschrotten, am 20. März 2003 zum Beginn des Krieges führte. Dieser war zwar dahingehend erfolgreich, dass der Irak militärisch rasch besiegt wurde, doch im Hinblick auf die ursprüngliche Kriegsbegründung war das Ende der Kampfhandlungen ein Desaster: Es wurde immer deutlicher, dass es im Irak offenbar keine Massenvernichtungswaffen gab. Über ein Jahr nach dem offiziellen Kriegsende sind Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen immer noch unauffindbar. Man kann mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit behaupten, dass es zumindest seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre im Irak keine A-,B- oder C-Waffen mehr gab, die eine Bedrohung darstellten. Das aber bedeutet: Die amerikanische und die britische Regierung haben zur Begründung des Kriegs ihre Bevölkerungen und die Weltöffentlichkeit in massivem Ausmaß belogen. Es sind vor allem sechs Lügen, welche den Regierungen dazu dienten, ihre militärische Intervention zu legitimieren:

  1. Die A-Waffen-Lüge: Führende US-Politiker behaupteten immer wieder, Saddam sei kurz davor, Atombomben einsetzen zu können. „Wir wissen mit absoluter Sicherheit, dass er sein Vertriebsnetz nutzt, um das Equipment zu erwerben, dass er zur Anreicherung von Uran braucht, um damit eine Nuklearbombe zu bauen”, sagte etwa Vizepräsident Cheney in der NBC-Sendung „Meet the Press” am 8. September 2002 (Ciricione/Mathews/Perkovich 2004: 21).2 Beweise hierfür hat weder die Iraq Survey Group der Koalitionsstreitkräfte noch das Iraq Action Team der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien gefunden. Es gilt mittlerweile als wahrscheinlich, dass Saddam sein Atomprogramm nach der Niederlage im ersten Golfkrieg tatsächlich eingestellt hat.

  2. Die 45-Minuten-Lüge: Die britische Regierung veröffentlichte am 24. September 2002 ihr Irak-Dossier, das vom Joint Intelligence Committee, dem Lenkungsgremium der britischen Geheimdienste, erstellt worden und mit einem Vorwort von Tony Blair versehen war. Dieses enthielt an prominenten Stellen gleich viermal die Behauptung, der Irak könne binnen 45 Minuten Raketen mit Massenvernichtungswaffen startklar machen. Die Tatsache, dass es sich dabei um allenfalls lokal einsetzbare Waffen mit regulären Gefechtsköpfen handelte, die weder für Israel noch für die britischen Truppen auf Zypern oder gar für Großbritannien selbst eine Gefahr dar-stellten, wurde nicht deutlich gemacht, obwohl dies der britischen Regierung bekannt war. Stattdessen wurde die Behauptung auch von der US-Administration aufgegriffen. Zwar wurde im Irak nach Kriegsende tatsächlich neuere Raketentechnik gefunden, von denen einige Systeme auch die dem Irak 1991 von den UN zugebilligten 150-Kilometer Reichweite überschreiten konnten, doch handelte es sich eindeutig um lokale Gefechtseinrichtungen, nicht um Mittel- oder Langstreckenraketen mit Massenvernichtungswaffen. Die von Tony Blair verantwortete Informationspolitik im Hinblick auf die 45-Minuten-Behauptung wurde später vom Geheimdienst-Ausschuss des britischen Parlaments als „irreführend” und „nicht hilfreich für das Verständnis des Problems” bezeichnet (Vgl.: The Guardian v. 12. 9. 2003; Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.9.2003)

  3. Die Niger-Story: US-Präsident George W. Bush behauptete in seiner Rede zur Lage der Nation am 28. Januar 2003: „Die britische Regierung hat herausgefunden, dass Saddam Hussein jüngst größere Mengen Uran aus Afrika kaufen wollte.” (Ciricione/Mathews/Perkovich 2004: 24) Dokumente darüber waren über dubiose Wege an die CIA gelangt und wurden fortan propagandistisch extensiv genutzt. Dem Weißen Haus lagen aber schon Wochen vor Bushs Rede Informationen vor, welche die Niger-Story definitiv widerlegten, darunter ein Bericht des Ex-Botschafters Joseph Wilson, der vor Ort die Geschichte untersucht hatte und sie dementierte (Ju-‚ disJAckerman 2003: o. S.), Wilsons Bericht hat auf jeden Fall das Büro des Vizepräsidenten Cheney erreicht, ist dort aber offensichtlich nie weitergeleitet oder bearbeitet worden. Im März erklärte auch Mohamed El Baradei, der Generaldirektor der Internatiönalen Atomenergie-Behörde in Wien die zugrunde liegenden Dokumente für gefälscht. Die Niger-Story fand sich trotzdem in zahlreichen Veröffentlichungen der Regierung. Für Wilson warf das die Frage auf: „Wenn die Regierung fundamentale Fakten zur Rechtfertigung eines Krieges falsch darstellt, worüber lügt sie dann noch?” (Die Zeit Nr. 29 v. 10.7.2003, S. 6)

  4. Die C-Waffen-Lüge: Außenminister Colin Powell sagte am 8. September 2002 in Fox News Sunday: „Es kann keinen Zweifel geben, dass er [Saddam] ein chemisches Waffenarsenal hat.” (Ciricione/Mathews/Perkovich 2004: 29). Vor dem UN-Sicherheitsrat sagte Powell: „Unsere konservative Schätzung ist, dass der Irak heute ein Lager zwischen 100 und 500 Tonnen von chemischen Waffen hat. […] Selbst mit 100 Tonnen Kampfstoffen könnte Saddam Hussein Massentötungen auf mehr als 100 Quadratmeilen Territorium anrichten, eine Fläche, beinahe fünfmal so groß wie Manhattan.” (ebd.: 29). Aufgefunden wurden nach Kriegsende nur Reste von Saddams 1980er-Jahre C-Waffen-Programm, Indizien für eine Wiederaufnahme der Programme nach 1991 konnten nicht gefunden werden.
     Die Bio-Waffen-Lüge: Powell behauptete in seiner Rede vor dem UN-Sicherheitsrat am 5. Februar 2003, dass kein Zweifel daran bestehe, „dass Saddam Hussein biologische Waffen hat und die Möglichkeit besitzt, schnell viel mehr herzustellen: Meine Kollegen, jedes Statement, das ich heute mache, ist belegt durch Quellen, solide Quellen.” (Der Spiegel Nr. 25/2003, S. 136) Präsident Bush sagte auf der Nations General Assembly am 12. September 2002: „Gerade jetzt baut und verbessert der
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  5. Irak Einrichtungen, die für die Produktion von Biowaffen genutzt werden.“ (Ciricione/Mathews/Perkovich 2004: 33) Und Tony Blair ging davon aus, dass der Irak über 10.000 Liter Anthrax und 80 Tonnen Senfgas verfüge (Der Spiegel Nr. 25/2003, S. 135). Gefunden hat die Iraq Survey Group nichts. Die beiden Anfang Mai 2003 nahe der Stadt Mossul entdeckten LKWs wurden vorschnell als Teil der irakischen Milzbrand-Produktion ausgegeben. Das Pentagon erklärte damals: „Koalitionsstreitkräfte haben eine mobile irakische Biowaffen-Produktionseinrichtung gefunden.” Anfang August sagten dann Ingenieure des Pentagon-Geheimdienstes der New York Times, es handele sich bei den LKWs nicht um Anthrax-Küchen, sondern um Wasserstofftanks für Wetterballons (Die Zeit Nr. 35 v. 21.8.2003, S. 4). Das hatten die Iraker im UN-Sicherheitsrat auch schon behauptet, aber niemand hatte ihnen geglaubt. Der US-Außenminister wusste offensichtlich schon im Februar um die wackligen Beine, auf denen seine Behauptungen basierten. Als er das Material für die Präsentation das erste Mal sichtete, nannte der erfahrene Militär es schlichtweg „Bullshit”. Im UN-Sicherheitsrat bestand Powell dann darauf, dass CIA-Chef George Tenet direkt hinter ihm saß, um symbolisch Teile der Verantwortung zu über-nehmen (Judis/Ackermann 2003: o. S.).

  6. Die Al-Quaida-Lüge: Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice sagte am 25. September 2002 im Sender PBS: „Es gibt klare Kontakte zwischen Al Quaida und Irak. […] Es gibt Aussagen, die beweisen, dass einige dieser Kontakte sehr wichtige sind und es eine eindeutige Beziehung gibt.” (Ciricione/Mathews/Perkovich 2004: 44). Der damalige Pentagon-Berater Richard Perle behauptete, der irakische Geheimdienstler Ahmad al-Ani habe im April 2001 in Prag Mohammed Atta getroffen, einen der Attentäter vom 11. September (Stern Nr. 30/2003, S. 54). Beweise für eine Zusammenarbeit von AI-Quaida und dem Irak wurden nie aufgefunden, wenn es im Saddam-Regime auch vage Überlegungen zur Instrumentalisierung des islamischen Terrorismus gab. Nach Überzeugung aller Irak-Experten hätte Saddam islamischen Terrorgruppen aber nie Massenvernichtungswaffen überlassen. Das Prager Treffen zwischen Atta und al-Ani wurde schon in einer vertraulichen Note Vaclav Havels an die USA im Herbst 2002 dementiert. Im Juli 2003 wurde al-Ani im Irak festgenommen und bestreitet seitdem ebenfalls, dass ein derartiges Treffen je stattgefunden habe.

All diese Lügen sind mittlerweile offiziell und regierungsamtlich. Schon der britische Hutton-Report vom 7. Juli 2003 und der Butler-Report vom 14. Juli 2004 stellen schwere Mängel in der Art und Weise fest, wie die britische Regierung das Problem Irak öffentlich dargestellt hat. Im Butler-Report, obwohl dieser sichtlich um eine Reinwaschung Tony Blairs bemüht ist, heißt es: „Die Entscheidung der Regierung im Frühjahr 2002, dass eine härtere Gangart (stronger action) (wenn auch nicht notwendigerweise als militärische Handlung) gegen den Irak notwendig sein würde, um die Entwaffnung des Iraks zu beschleunigen, basierte nicht auf irgendwelchen neuen Entwicklungen in dem geheimdienstlichen Bild vom Irak. […] Es gab keine geheimdienstlichen Erkenntnisse, die zu der Schlussfolgerung Anlass gegeben hätten, dass der Irak ein dringlicheres Problem sei als die Aktivitäten einiger anderer Staaten.” (Butler-Report 2003: 150) Die deutlichste Sprache hat allerdings der jüngste US-Bericht der Senatskommission über die Geheimdienste vom 7. Juli 2004 angeschlagen. Dort heißt es: „Die meisten der zentralen Urteile, die in dem Bericht ,Iraks fortgesetztes Programm für Massenvernichtungswaffen‘ des von der Intelligence Community vorgelegten National Intelligence Estimate (NIE) [das zentrale Dokument, auf das sich die US-Führer beriefen, T.B.] übertrieben die vorhandenen Geheimdiensterkenntnisse und waren von den Fakten nicht gedeckt. Eine Serie von Fehlern, vor allem im Bereich des analytischen Handwerks, führten zu einer Fehldarstellung der Geheimdiensterkenntnisse.” (Select Committee 2004: o. S.) Weiter heißt es: „Die Haupturteile des NIE, vor allem, dass Irak ,chemische und biologische Waffen hat‘, ,unbemannte Raketen entwickle‘, ,wahrscheinlich plane, biologische Waffen weiterzugeben‘ und dass ,alle Schlüsselaspekte – Forschung und Entwicklung, Produktion und Waffenfähigmachung – von Iraks offensiven biologischen Waffen aktiv und wahrscheinlich weiter entwickelt seien, als sie es vor dem Golfkrieg waren‘, übertrieben die zugrunde liegenden Geheimdienstberichte, die dem Komitee zur Verfügung standen.” (ebd.)

Haben die Geheim­dienste versagt?

Bemerkenswert an dem Report der amerikanischen Senatskommission ist nicht nur, mit welcher Schonungslosigkeit die Lügen und fundamentalen Fehleinschätzungen der US-Administration im Hinblick auf das irakische Waffenpotenzial dort analysiert werden, sondern auch, wie eindeutig dort die vermeintlich Verantwortlichen benannt werden. Dies scheint allerdings primär politisch induziert, denn der Report wälzt Schuld von der Regierung ab, indem die Geheimdienste für die Lügen haftbar gemacht werden. Sowohl die britische wie die US-Regierung haben sich — nachdem überdeutlich geworden ist, mit welchen unwahren Behauptungen sie ihren Krieg promotet haben — darauf verlegt, ihre Geheimdienste zu Sündenböcken zu machen, die nun für die falschen Aussagen gerade stehen müssen. Im US-Senatsbericht heißt es: „Die Unfähigkeit der Intelligence Community, die vorhandenen Erkenntnisse im NIE akkurat zu analysieren und zu beschreiben, war das Resultat einer Kombination von systemischen Schwächen, primär handwerklich-analytischer Art, ergänzt durch einen Mangel an Informationsaustausch, schlechtes Management und inadäquate Informationsbeschaffung. Das Komitee hat keinen Beweis dafür gefunden, dass die Fehldarstellungen der Intelligence Community über Iraks Massenvernichtungswaffen auf politischen Druck zurückzuführen war.” (ebd.)

Damit liegt die politisch eingeschlagene Lesart klar auf dem Tisch: Die Geheimdienste, allen voran die CIA, sind daran schuld, dass Bush, Blair, Powell und Rice im guten Glauben die Unwahrheit gesagt und die ganze Welt belogen haben. Die Politiker selbst sind zu Opfern unkorrekter und verantwortungsloser Zuarbeit geworden und haben deswegen einen an sich ,richtigen` Krieg aus den falschen Gründen geführt. Für diese Form der Rechtfertigung spricht der amerikanische Bericht der Senatskommission, für sie spricht der britische Butler-Report (auch wenn sich Lord Butler anlässlich von dessen Präsentation sichtlich bemühte, den Vorsitzenden des Joint Intelligence Committee, John Scarlett, in Schutz zu nehmen) und für sie sprechen auch die im Gefolge des politischen Drucks gefallenen Entscheidungen: CIA-Chef George Tenet kündigte am 2. Juni 2004 seinen Rücktritt an, einen Tag später folgte ihm sein Chefermittler James Pavitt (Der Tagesspiegel v. 7.7.2004).

Die bekannten Fakten sprechen jedoch gegen die Darstellung vom Versagen der Dienste. Denn es waren vor allem die Geheimdienste, die in der Frage des irakischen Massenvernichtungswaffenpotenzials eine verhältnismäßig skeptische, auf jeden Fall aber neutrale und objektive Position eingenommen haben. Aus verschiedenen Quellen und Rekonstruktionen wird deutlich, dass die Einschätzung der CIA im Hinblick auf den Irak eher zurückhaltend war. So hat Ex-CIA-Chef George Tenet mehrmals und zu-letzt am 5. Februar 2004 drauf beharrt, dass die Agency den Irak niemals als unmittelbare politische Bedrohung eingeschätzt habe (ebd.). Auch die Irak-Al-Quaida-Connection wurde von ihr stets zurückgewiesen. Und im CIA-Bericht über weltweite Waffentechnologie-Proliferation vom Januar 2002 wird die nukleare Bedrohung durch den Irak als nicht gravierend angesehen. Dort heißt es nur: „Wir glauben, dass der Irak wahrscheinlich damit fortgefahren hat, auf einem niedrigen Level die theoretische Forschung und Entwicklung seines Nuklearprogramms zu betreiben.” (Judis/Ackerman 2003: o. S.) Nachgewiesen ist dagegen der Druck, den die Regierung etwa durch mehrere Besuche von Vizepräsident Cheney in Langley auf die CIA ausgeübt hat (vgl. ebd.). George Tenet war nach dem 11. September 2001 aufgrund des Versagens der CIA politisch angeschlagen und leicht unter Druck zu setzen. Die Neokonservativen haben diese Schwäche genutzt, um eigene Analyse-Einheiten neben der CIA zu etablieren, die dann politisch erwünschte und maßgeschneiderte Analysen lieferten. Vor allem im Pentagon entstanden alternative Geheimdienste, mit deren Berichten die CIA konfrontiert und so unter Druck gesetzt wurde (Die Zeit Nr. 45 v. 30.10.2003). Unter diesem Einfluss begann auch die CIA, den Irak mehr und mehr als Gefahr einzustufen und nolens volens Belege für dessen Waffenprogramm zu liefern. Diese zweifelhaften Erkenntnisse fallen jetzt auf die Agency zurück. Die Zeitschrift The New Republic spekulierte schon im Juni 2003 darüber, dass Tenet wohl den Sündenbock für Bush abgeben müsse (Judis/Ackerman 2003: o. S.). Genauso ist es gekommen, wenn auch aus der Agency heraus gegen diese doppelte Instrumentalisierung heftig Widerstand geleistet wurde. Eine Gruppe von CIA-Veteranen schrieb an Bush: „Auch in der Vergangenheit hat es Fälle gegeben, in denen Erkenntnisse der Geheimdienste aus politischen Gründen verdreht wurden. Doch nie zuvor hat es derartig systematische Verzerrungen gegeben, um unsere gewählten Vertreter dahin zu bringen, einen Krieg zu autorisieren.” (Der Spiegel Nr. 25/2003, 5.138)

Einen vergleichbaren Vorgang gab es in Großbritannien. Dort tobte monatelang eine hitzig geführte Diskussion darüber, ob und inwieweit das Irak-Dossier des Joint Intelligence Committees von Blairs damaligem Kommunikationsdirektor Alastair Campbell aufgemotzt („sexed up“) und dramatisiert worden war. Insbesondere ging es um die Frage, ob die 45-Minuten-Behauptung von Campbell in das Dossier eingefügt worden war. Tony Blair wurde zwar im Hutton genauso wie im Butler-Report von dem Vorwurf freigesprochen, auf die Gestaltung des Dossiers Einfluss genommen zu haben, und auch Campbell konnte nicht nachgewiesen werden, dass Dossier in dramatischer Weise redigiert zu haben. Doch Fragen blieben offen. So wurde das Dossier insgesamt sechsmal von Blairs Stab zur Überarbeitung an den Vorsitzenden des Joint Intelligence Committees,John Scarlett, zurückgesandt; in einer elektronischen Version des Berichts fanden sich Änderungsmarkierungen, die mit einem auf Campbell personalisierten Computer eingefügt worden waren. Campbell musste schließlich zum Ende des Jahre 2003 zurücktreten.

Ersetzt Public Relations Politik­for­mu­lie­rung?

Wenn nicht die Geheimdienste in erster Linie für die Verdrehung der Wahrheit in Sachen Irak verantwortlich waren, wer dann? Einiges spricht dafür, dass die Irak-Lügen unmittelbar in den Stäben und Schreibstuben der verantwortlichen Spitzenpolitiker entstanden sind, an jenen Schnittstellen also, die zwischen Administration und Öffentlichkeit angesiedelt sind, und wo sich ein Heer von Redenschreibern, Marketing-Experten, Meinungsforschern und Image-Beratern mit der öffentlichen Präsentation von Politik
beschäftigt. Auch die Mitarbeiter von Think Tanks und die Special Adviser von Spitzenpolitikern wie etwa Richard Perle gehören zu dieser Gruppe von Leuten. Die Spin-Doctors (zum Begriff vgl. Kocks 1998; Esser 2000; Esser/Reinemann 2000; Tenscher 2000; ZfK 2000) arbeiten innerhalb des politischen Systems, doch ihr Denken orientiert sich an der Logik des Mediensystems und des Publikums. Sie interessieren sich nicht für die Formulierung von Gesetzen oder für komplexe Zusammenhänge (oder dies nur insoweit, wie es für die anschließende Verdichtung dieser Komplexität zu einer griffigen Formel nötig ist), sondern für die Inszenierung der Politik auf der großen Bühne und im grellen Scheinwerferlicht. Ihre Aufgabe ist es, für Entscheidungen die richtigen Kommunikationslinien zu finden und sie öffentlich zustimmungsfähig zu machen. Da dies in der Medien- und Stimmungsdemokratie eine erfolgskritische Bedingung für Politik ist, haben diese Berater (die es schon immer oder zumindest sehr lange gegeben hat) in den vergangenen Jahren enorm an Einfluss gewonnen. Ihre Sternstunde erleben sie stets in Krisen- oder Ausnahmezuständen, wenn unter großem Druck in knapper Zeit für eine brisante Entscheidung ein möglichst hohes Maß an Zustimmung generiert wer-den muss. Da Kriege in Demokratien nicht nur prinzipiell begründungspflichtig sind, sondern die Hürde für die Entscheidung zum Krieg auch sehr hoch liegt, ist die strategische Entwicklung und Implementierung einer Kriegsbegründung für Kommunikationsberater eine der schwierigsten Aufgaben. Noch schwieriger wird diese, wenn die Vorgaben der verantwortlichen Politiker diffus sind. Im Fall Irak war der Wille der US-Administration, den Irak anzugreifen, eindeutig vorhanden, eine plausible Begründung dafür aber nicht in Sicht. George W. Bushs bester Verbündeter Tony Blair erwog anfänglich, den geplanten Krieg ganz unter das Zeichen eines Regimewechsels im Irak zu stellen, bis ihn Beamte darauf hinwiesen, dass das Ziel einer Entmachtung Saddam Hussein „als solches keine Basis im internationalen Recht hätte, und dass jede offensive militärische Aktion gegen den Irak nur gerechtfertigt werden könne, wenn der Irak seine Abrüstungsverpflichtungen gemäß der UN-Sicherheitsrats-Resolution 687 oder eine neuer Resolution verletze” (Butler-Report 2004: 151). Die Massenvernichtungswaffen wurden so zum Stellvertreter-Argument, denn hier gab es eine klare rechtliche Handhabe, die aus vorangegangenen UNO-Resolutionen resultierte; sie waren der einfachste und medial wie rechtlich logischste Ausgangspunkt, um eine übergreifende Begründung für den Krieg zu finden. Aus diesem Ansatzpunkt nun eine konsistente Argumentationskette zu machen, war der Auftrag der Spin-Doctors.

Der subtile Einfluss bzw. die Langzeitwirkung des Spin-Doctoring besteht einerseits darin, dass auch gewählte Politiker ihr Handwerk mehr und mehr als primär kommunikativ betrachten. Public Relations wird so zum Zentral-Paradigma politischen Handelns. Andererseits bestimmt jenes Bild von Politik, das unter Marketing-Gesichtspunkten entworfen wird, auch mehr und mehr das Realitätsbild der politisch Verantwortlichen. Denn letztlich regieren die erwünschten und künstlich geschaffenen Images, Argumentationszusammenhänge und Sachzwänge die Realität, sie werden wahr dadurch, dass sie in den Kreislauf der öffentlichen Kommunikation gepumpt werden, fortan Bestandteil des Diskurses sind und irgendwann als „Fakten” selbst zu ihren Urhebern zurückfließen. Der Widerspruch zwischen den zurückhaltenden Geheimdiensterkenntnissen und den öffentlich verlautbarten dramatischen Szenarien im Fall Irak wird dann auf Seiten der Handelnden kognitiv dadurch aufgelöst, dass man der dramatischen Variante glaubt, weil dieses ja die öffentliche, in allen Medien verbreitete, ist. Im nächsten Schritt entscheidet dann der amerikanische Präsident (der in hohem Maße abhängig davon ist, welche Informationen ihm seine Berater vorlegen) über einen Feldzug auf der Grundlage einer medialen und öffentlichen Diskussion, die seine Berater vorher choreografiert und inszeniert haben, während der militärische Erfolg der Kampagne durch die politische Führung anhand einer Berichterstattung evaluiert wird, deren Rahmenbedingungen man vorher detailliert ausgearbeitet und zu den eigenen Gunsten definiert hat. An dieser Form von Entscheidungsbildung ist alles virtuell und beinahe jede Induktion von außen in das Bild, das sich die Akteure von der Realität machen, verweist doch nur wieder auf eine Manipulation der Realität, welche die Handelnden zuvor selber vorgenommen haben. Im Hintergrund vernimmt man dabei das Grundrauschen eines Tausende von Kilometern entfernt real ausgetragenen Krieges. Vor der Täuschung der Weltöffentlichkeit steht hier also zunächst die Selbsttäuschung der Handelnden (Hannah Arendt). Der Wunsch nach einer kohärenten Geschichte, nach einer moralisch wertvollen Mission, nach einer gut verkäuflichen Aktion präformiert das, was die Entscheider in der Welt sehen und wie sie diese wahrnehmen, um sie anschließend nach ihren Vorstellungen umzugestalten.

Das Grundproblem dieser Form von Realitätskonstruktion besteht in einem Zusammentreffen von eigentlich klar getrennten Bereichen in einzelnen Handlungsrollen: Normativ sollte die Politik das Primat haben, während Krieg und Kommunikation ihre Hilfsmittel sein können. Wenn aber die Kommunikationsaussichten im Hinblick auf ein bestimmtes Ereignis die ihm gegenüber eingeschlagene Politik determinieren, wird auch Krieg schnell zu einer Angelegenheit, die man aus Image-Gründen betreibt. Kriege und bewaffnete Interventionen werden mittlerweile von vorneherein als Public-Relations-Ereignisse geplant, Fragen ihrer dramaturgischen Inszenierung erlangen damit beinahe die selbe Bedeutung, wie die politisch-militärische Planung selbst.[3] Hannah Arendt hat diesen Sachverhalt schon vor über dreißig Jahren in ihrem Essay Die Lüge in der Politik im Hinblick auf Vietnam zusammengefasst, als sie urteilte, man habe den Krieg geführt, „um auf ein Publikum Eindruck zu machen”, wobei man unter „über militärische Fragen unter ,politischen und Public-Relations-Gesichtspunkten‘ entschied (wobei ,politisch` die Aussicht auf die nächste Präsidentenwahl und ,Public Relations‘ das Image der USA in der Welt bedeuten); in Betracht gezogen wurden nicht die wirklichen Risiken, sondern nur ,geeignete Reklametechniken” (Arendt 1972: 20f.; vgl. Arendts Essay in Auszügen in diesem Heft).

Streifzug durch die schöne neue Werbewelt

Wie sehen diese geeigneten ,Reklametechniken` in den USA oder Großbritannien heute aus? Im Prinzip muss man sich die Politikformulierung in bestimmten Zirkeln der Macht zunehmend so vorstellen wie Kreativ-Workshops in Werbeagenturen: Politiker, Diplomaten, Militärs und PR-Experten sitzen zusammen, um die Konturen eines Krisenszenarios und seine Kommunikationslinien festzulegen. Man feilt an PR-Konzepten und Begriffen, bis das richtige wording, eine zündende Botschaft in griffigen Worten, gefunden ist (vgl. etwa Woodward 2002: 49ff.) Das Problem dabei ist, dass der gewünschte Kommunikationseffekt oft Einfluss auf die selektierten Inhalte hat. Aus der Sicht von PR-Beratern besteht zwischen der Aussage „Der Irak kann lokale  Raketen-Waffensysteme besitzen, die u.U. binnen weniger als einer Stunde auf dem Gefechtsfeld einsetzbar sind” und der Aussage „Der Irak kann binnen 45 Minuten Massenvernichtungswaffen startklar haben” nur ein gradueller Unterschied: Der erste Satz ist bürokratisch und langwierig, der zweite kommt dagegen auf den Punkt und kann in der Medienarbeit eingesetzt werden. In welchem Ausmaß dabei semantische Unterschiede verloren gehen, ist zumindest den Medienspezialisten unter Umständen gar nicht bewusst. Trifft dieser Vereinfachungsdrang der Berater auf den Willen der Politiker, ihre Botschaft hinreichend zuzuspitzen, kommt es zu einem shaping the message, das die message nachhaltig verändert – vor allem dann, wenn sich die PR-Leute mit ihren zwar ein-gängigen, aber nicht besonders faktentreuen Dramatisierungsregeln gegenüber den Fachleuten durchsetzen. Nicht mehr der Sachverhalt bestimmt dann die Form der Botschaft, sondern der griffige Slogan regiert die Realität.

Deutlich wird dies am Beispiel des britischen September-Dossiers, das übrigens das erste Geheimdienst-Dossier der britischen Geschichte war, das öffentlich gemacht und für Zwecke der Public Advocacy eingesetzt wurde (Butler-Report 2004: 151). Die Hutton-Kommission rügte die Marketing-Sprache des Dossiers in ungewöhnlich klaren Worten: „Unsere Schlussfolgerung ist, dass die Sprache, die in dem September-Dossier verwendet wurde, zum Teil suggestiver war als dies in Geheimdienstdokumenten üblich ist. Wir sind der Auffassung, dass es geboten wäre, zu dem maßvollen und vorsichtigen Ton zurückzukehren, der bislang Geheimdienst-Einschätzungen auszeichnete.“ (Hutton-Report 2003: o. S.) Zumindest implizit führte die Kommission die suggestive Machart des Dossiers auf den Einfluss Campbells zurück. „Unserer Auffassung nach war es falsch, dass Alastair Campbell oder irgendwelche anderen Politikberater eine Sitzung über Geheimdienstfragen geleitet haben und wir empfehlen, dass diese Praxis beendet wird.” (ebd.) Doch an einen künftig schwindenden Einfluss der Kommunikationsberater zu glauben, wäre naiv. Der Fall Irak zeigt, dass eine auf der Grundlagen des PR-Paradigmas operierende Regierung nicht unbedingt einen guten Kriegsgrund, sondern nur eine gute Kriegsbegründung braucht. Der Rest läuft dann als routinierte Medienkampagne nach allen Regeln der Kunst ab.

Vor allem war-time-Washington leistet sich eine Fülle konkurrierender Kommunikationsbüros und Medienagenturen, die mit nichts anderem beschäftigt sind, als für die richtige Botschaft ans Volk zu sorgen. So hat die US-Administration schon in der Clinton-Ära begonnen, ihren noch aus dem Kalten Krieg herrührenden Apparat für Auslandspropaganda und internationale Kulturarbeit zu modernisieren. Ein wichtiger Schritt war dabei die Zusammenfassung der bestehenden Institutionen zu einer Organisation unter Kontrolle des Außenministeriums. Im Zuge dieses Prozesses wurde die United States Information Agency (USIA) am 1. Oktober 1999 in das Department of State integriert.4 Zur Staatssekretärin für den Bereich Public Diplomacy/Public Affairs (beides moderne Synonyme für das unbeliebte Wort Propaganda) im Außenministerium wurde im Oktober 2001 Charlotte Beers ernannt, die bis März 2003 amtierte.5 Politisch war diese bis dahin ein unbeschriebenes Blatt, in der internationalen Marketing-Szene dafür um so besser bekannt. Beers begann ihre Karriere als Produktmanagerin für Uncle Ben’s Rice. Später wurde sie Vorstandsvorsitzende der weltweit operierenden Werbeagentur J. Walter Thompson. Entsprechend prägte sie dem Public-Diplomacy-Apparat die Arbeitsweise von Werbeagenturen auf: Es geht um das Besetzen der öffentlichen Tagesordnung mit eigenen Themen und Positionen (Agenda Setting), um die Schaffung positiver Images und um die Kreation schlagkräftiger Slogans, welche dann breit kommuniziert und in Um-lauf gebracht werden müssen (vgl. Bussemer 2003).

Obwohl sich in der letzten Zeit auch innerhalb der US-Administration jene kritischen Stimmen mehren, die Zweifel am Erfolg von nach dem Muster kommerzieller Werbekampagnen gestrickten Propagandaaktionen hegen, ist der prinzipielle Glaube an die Macht der Public Relations ungebrochen hoch. Der Jahresetat allein des Außenministeriums für derartige Aktivitäten beträgt – die Rundfunkstationen eingeschlossen – zur Zeit rund 1,14 Mrd. Dollar. Die Bedeutung der Informationspolitik lässt sich auch daran ablesen, dass es unter den maßgeblichen Ministern des Bush-Kabinetts einen handfesten Streit darüber gibt, wer welchen Propagandaapparat unterhalten darf. So gründete Verteidigungsminister Donald Rumsfeld 2002 das Office of Strategic Influence, welches – und das wurde auch ganz offen so gesagt – ein Büro für internationale Zersetzungspropaganda und Desinformationspolitik sein sollte. Zwar musste das Pentagon dieses Büro nach weltweiten Protesten, vor allem von Medienvertretern, wieder schließen, doch nur kurz darauf wurde im Weißen Haus ein Office of Global Communications gegründet, das ähnliche Aufgaben wahrnimmt und zudem die gesamte Auslandspropaganda der USA koordinieren soll – womit Bush wiederum die Kompetenzen von Colin Powells neu geschaffenen Public-Diplomacy-Apparat in Frage stellte (vgl. Rötzer 2002). Was der Weltöffentlichkeit an Informationen über den Irak präsentiert wurde, geht maßgeblich auf die Tätigkeit dieser Büros zurück.

Was von den Lügen übrig blieb

Die Kriegskoalition hat von 2002 bis 2004 einen ungeheuren Aufwand auf ihre Kommunikationsstrategie in Sachen Irak verwendet und sitzt am Ende doch nur auf einem Haufen Lügen, der ihre Glaubwürdigkeit untergräbt. Die Kriegs-Kampagne geriet vor allem für die Bush-Regierung zum Bumerang, zu einem Kommunikationsdesaster. Die große Frage ist, wie eine Administration so naiv sein kann, wenn schon nicht wider besseres Wissen (obwohl dieses verfügbar gewesen wäre), so dann doch zumindest gegen erhebliche Zweifel von allen Seiten, eine Version der Realität zu verbreiten, von der mehr als wahrscheinlich sein musste, dass sie sich spätestens nach einem Sieg der Anti-Irak-Allianz als Lüge herausstellen würde. Denn letztlich wurde der gesamte hoch professionalisierte Kommunikationsapparat in den Dienst eines ziemlich atavistischen Anliegens gestellt: der Verbreitung von durchschaubaren Lügen. Dieses ungewöhnliche Zusammenspiel von ambitionierten Methoden und archaischen Zielen ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen: Tony Blair wollte von Anfang an den Regimewechsel im Irak und die Frage der Massenvernichtungswaffen war für ihn stets nur ein Hilfsmittel in der Argumentation, weshalb er ihr nur instrumentelle Beachtung schenkte. Hier greift also das Argument des „richtigen Krieges aus den falschen Gründen”. Bush dagegen mag unter dem Einfluss von Cheney, Rumsfeld und Wolfowitz wirklich geglaubt haben, dass der Irak Massenvernichtungswaffen hat. Der Präsident wurde das erste Opfer der von seinem Umfeld manipulierten Realität. Zu bedenken ist auch die relative „Kleinteiligkeit” des Lügengeflechts: die unwahren Behauptungen stammen alle aus verschiedenen Quellen und wurden zu verschiedenen Zeitpunkten von verschiedenen Akteuren vorgebracht. Sie sind also eher kumulativ entstanden, als dass sie Produkt einer groß angelegten Verschwörung sind. Eine kleine Realitätsmanipulation folgte der nächsten, bis irgendwann das Lügengebäude in seiner ganzen Größe errichtet war – und schon bald darauf unter den Augen der Weltöffentlichkeit einstürzte. Der übergreifende Zusammenhang aber besteht darin, dass sich im Vorfeld des Krieges das Denken der verantwortlichen Politiker in Public-Relations-Kategorien so stark verfestigt hatte, dass alle Beteiligten nur noch bedingt in der Lage waren, den Unterschied zwischen einem guten spin und der Wahrheit zu erkennen. Die politischen Führer umgaben sich mit Leuten, die ihnen Informationen und Positionen nur selektiv zugänglich machten, da sie ja eben den Auftrag hatten, einen Beweis für die Ausgangsprämisse „Saddam hat Massenvernichtungswaffen” zu finden. Zudem stand bei allen Handlungen die Frage im Vordergrund, welche mediale Resonanz zu erwarten sei, bevor die realen Konsequenzen der Handlung reflektiert wurden. Um noch einmal Hannah Arendt zu zitieren: „Wenn die Staatsgeheimnisse die Köpfe der Akteure selber so vernebelt haben, daß sie die Wahrheit hinter ihren Täuschungsmanövern und ihren Lügen nicht mehr erkennen oder sich an sie erinnern, dann wird das ganze Täuschungsvorhaben, wie gut auch immer seine ,Marathon-Informationskampagnen` […] und wie raffiniert ihre Reklamemethoden sein mögen, scheitern oder das Gegenteil bewirken, d.h, es wird die Leute verwirren, ohne sie zu überzeugen.” (Arendt 1972: 30) Genau diesen Punkt hat die öffentliche Debatte um die kommunikative Rechtfertigung des Irak-Kriegs erreicht. Ein Drittel der US-Bürger glaubte im Juni 2003, die Massenvernichtungswaffen Saddams seien längst gefunden worden, die Hälfte meinte allerdings, die Regierung hätte sie in die Irre geführte und am Ende wurde die Regierung offiziell vom eigenen Parlament der Lüge überführt. Das Vertrauen in die Demokratie wird damit systematisch untergraben, die Möglichkeit zu einem öffentlichen Diskurs, in dem alle Beteiligten davon ausgehen können, dass zwar strategisch und interessengeleitet kommuniziert wird, es aber eine Wahrheitsverpflichtung der Akteure gibt, ad acta gelegt. Die USA kostet das viel von ihrer internationalen Reputation und die Regierung Bush ihre Glaubwürdigkeit. Die Menschen trauen den USA mittlerweile beinahe jede Lüge zu. So hielten es 31 Prozent der unter 30jährigen Deutschen 2003 für möglich, dass die US-Regierung die Anschläge vom 11. September 2001 selbst in Auftrag gegeben hätte und nur 27 Prozent glaubten, aus den Medien die volle Wahrheit über den 11. September erfahren zu haben (Die Zeit Nr. 31 v. 24.7. 2003, S.5).

Die heilsame Wirkung der Irak-Affäre könnte in einer Immunisierung der Menschen bestehen, in der Erkenntnis dass Politik und Lüge im Medienzeitalter stets in einer engen Liaison existieren, und dass es deswegen notwendig ist, die Aussagen der Herrschenden stets kritisch zu überprüfen. Zumindest der Regierung Bush dürfte es wohl in Zukunft nicht mehr gelingen, die Weltbevölkerung mit zweifelhaften Tatsachenbehauptungen zu beeindrucken. Dafür hat sie zufiel von ihrem moralischen Kapital verspielt. Offen bleibt dagegen die Frage, was dies für die künftige Inszenierung von Krisen bedeutet. Denkbar wäre sowohl eine weitere Verfeinerung von Public-Relations-Strategien wie auch eine von Medien und Publikum erzwungene Rückkehr zum wirklichen politischen Diskurs, der den Lügen der Herrschenden klare Grenzen setzt.

[1] Wolfowitz erklärte in einem Interview mit der Zeitschrift Vanity Fair: „The truth is that for reasons that have a lot to do with the U.S. government bureaucracy we settled on the one issue that everyone could agree on which was weapons of mass destruction as the core reason.” (http://www.cbs news.com/storiesl2003/06/02/iraq/printable556471.shtml)
[2] Für jede der Behauptungen ließen sich hier vielfältige Belege in Gestalt von Zitaten führender Politiker anführen; ich beschränke mich hier aber auf je eine oder zwei aussagekräftige Quellen. Sofern die Zitate nicht deutschen Zeitungen entnommen sind, wurden sie von mir übersetzt.
[3] Larry Beinhart hat diesen Vorgang in überspitzter Form schon 1993 in seinem satirischen Roman
American Hero beschrieben. Daraus wurde 1997 der Hollywood-Film Wag the Dog.
[4] Rechtsgrundlage hierfür war der am 21. Oktober 1998 verabschiedete Foreign Affairs Reform and
Restructuring Act (Public Law 105-277).
[5] In Beers‘ Verantwortungsbereich fallen die Büros für Educational and Cultural Affairs und das International Information Program (IIP), die ehemalige USIA sowie das am State Department zuvor existierende Public Affairs Program.
[6] Umfrage des TV-Senders Fox News, zit. n. Berliner Zeitung v. 26.6.03.

Literatur

Arendt, Hannah 1972: Die Lüge in der Politik. Überlegungen zu den Pentagon-Papieren; in: Dies.: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München, S. 7-43
Bussemer, Thymian 2003: Medien als Kriegswaffe. Eine Analyse der amerikanischen Militärpropaganda im Irak-Krieg; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 53. Jg., Nr. 49-50, S. 20-28
[Butler-Report] Report of a Committee of Privy Counsellors 2004: Review of Intelligence on Weapons of Mass Destruction (HC 898); www.butlerreview.org.uk
Ciricione, JosephlMathews, Jessica T.lPerkovich, George 2004: W[eapons of] M[ass] D[estruction] in Iraq. Evidence and Implications. Hg, vom Carnegie Endowment for International Peace; www.ceip.org/files/Publications/Iraq.asp
Esser, Frank 2000: Spin Doctoring. Rüstungsspirale zwischen politischer PR und politischem Journalismus; in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 13. Jg., Heft 3, S. 17-24
Esser, Frank/Reinemann, Carsten 2000: „Mit Zuckerbrot und Peitsche”. Wie deutsche und britische Journalisten auf das News Management politischer Spin Doctors reagieren; in: Holtz-Bacha, Christina (Hg.) 2000: Wahlkampf in den Medien – Wahlkampf mit den Medien. Ein Reader zum Wahljahr 1998, Wiesbaden, S. 40-71
[Hutton-Report] House of Commons, Foreign Affairs Committee 2003: The Decision to go to War in Iraq, Ninth Report of Session 2002–03 Volume I(HC 813-I); http://www.publications.parliament. uklpa/cm2002031croselect/cmfaff/8131813.pdf
Judis, John B,IAckerman, Spencer 2003: The Selling of the Iraq War. The First Casuality; in: The New
Republic v. 30.6.2003; http://www.tnr.com/doc.mhtml?i=20030630&s=ackermanjudis063003 Kocks, Klaus 1998: Was oder worüber spinnt ein Spin Doctor?; in: Ders.: Glanz und Elend der PR,
Opladen, S. 396-405
Rötzer, Florian 2002: Das Weiße Haus will auch ein Propaganda-Büro; in: Telepolis v. 30.7.2002; www.heise.deltpldeutschlspeciaVauf/13007/1.html.
[Senatskommission] Select Committee on Intelligence of the United States Senate 2004: Report on the U.S. Intelligence Community’s Prewar Intelligence Assesments on Iraq. Ordered Reported on July 7, 2004. Washington; www.intelligence.senate.gov
Tenscher,lens 2000: Politikvermittlungsexperten. Die Schaltzentralen politischer Kommunikation; in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 13. Jg., Heft 3, S. 7-16
Woodward, Bob 2002, Bush at War, New York-London-Toronto u.a.
ZfK 2000: Stichwort: Spin Doctors und Consultants. Einflüsterer und Manipulatoren, in: Zeitschrift für Kommunikationsökologie, 2. Jg., Heft 1, S. 21 [ohne Autor]

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