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Der attackierte Rechts­s­taat: Bürger­rechte und „Innere Sicherheit" nach dem 11. September

Terrorismus ist ein Verbrechen. Es ist durch nichts zu rechtfertigen. Was immer die Motive der Täter sind: Sie erzeugen Hass und Gewalt. Terrorismus ist ein Angriff auf die Gewaltlosigkeit und damit auf eine der wesentlichsten Grundlagen der modernen Zivilisation. Terroristen sind die apokalyptischen Reiter der Diktatoren. Allerdings: Über die Ursachen der Anschläge vom 11. September in New York und Washington ist damit nichts gesagt.

Die besondere Erschütterung der Öffentlichkeit beruhte nicht nur auf der unerhörten Fernsehnähe des Vorgangs. Beim Terrorismus der RAF war es das Infragestellen der Gesellschaft durch Täter aus ihrer eigenen Mitte, das zu Debatten und politischen Reaktionen weit über die Bekämpfung der bewaffneten „Kommandos“ hinaus führte; später dann romantisierend zum „Deutschen Herbst“ verklärt. Der 11. September war jedoch von einer ganz anderen Qualität: Entscheidend war die Erschütterung des politischen Weltbilds des Westens, das bisher ohne die geringsten Zweifel und ganz selbstverständlich von der Überlegenheit und Anziehungskraft des american way of life, der westlichen Zivilisation, der segensreichen Kraft des individuellen Gewinnstrebens und des unersättlichen Strebens nach materiellem Wohlstand ausging. In den bisher so selbstsicheren Vereinigten Staaten mag zudem das Gefühl der persönlichen Bedrohung in den Wochen und Monaten danach eine besondere Rolle gespielt haben. Da grenzte die naheliegende Frage an Ketzerei, ob es wirklich richtig ist, dass sich die Amerikaner in aller Welt zum Maßstab des Glücks, zu Weltenrichtern und Weltpolizisten zugleich aufspielen wie weiland die Römer im dritten nachchristlichen Jahrhundert (vgl. Peter Bender in vorgänge 156: 100ff.).

Könnte es sein, dass der Erfolg der einen Seite der anderen als Bedrohung und Demütigung erscheint — und umgekehrt? Handelt es sich bei den Attentätern um wenige fehlgeleitete Fanatiker, oder zeigen sie uns bisher verborgen gebliebene Veränderungen im Lebensgefühl der Bevölkerung der 56 islamisch geprägten Staaten, die Mitglieder der Vereinten Nationen sind?

Die bequeme Antwort auf den Terro­ris­mus: der starke Staat

Von allgemeinen Phrasen abgesehen ist die wesentliche Frage unbeantwortet geblieben:

Was trieb die Terroristen eigentlich an? Was war ihr Angriffsziel? Wollten sie Freiheit und Demokratie zerstören? Warum wählten sie dann ausgerechnet das Pentagon und das World Trade Center als Ziel? Sie kannten die Symbole der westlichen Welt und wussten, dass beide Gebäude keine steinernen Synonyme für Freiheit und Demokratie waren. War es Hass auf den staatlich geschützten Privatkapitalismus der westlichen Welt? Betrachteten sie ihn samt der satellitengestützten privaten Schmuddelsender als zerstörerisch für ihre eigenen kulturellen Traditionen? Ging es um die US-amerikanische wirtschaftliche und politische Hegemonie? Ging es um die Nahost-Politik der Vereinigten Staaten und ihre Zusammenarbeit mit den mittelalterlichen Feudalstaaten der zersplitterten arabischen Welt? All diese Fragen sind nicht einmal ernsthaft analysiert worden. Das Ausbleiben dieser Diskussion in der politischen Öffentlichkeit weckt den Verdacht, dass sie zu durchaus unerwünschten Überlegungen und Fragen führen könnte.

So ist es nicht verwunderlich, dass sich seither die politischen Anstrengungen auf militärische und polizeiliche Maßnahmen konzentrieren. Handlungskraft soll demonstriert werden — „action!“ heißt die Parole. Je verschwommener die Bedrohung ist, desto bedrohlicher kann sie dargestellt werden. Je weniger der „normale“ Bürger befürchtet, von einer Maßnahme des „wehrhaften Staates“ selbst getroffen zu werden, desto leichter ist er bereit, Entscheidungen hinzunehmen, die er sonst mit Empörung ablehnen würde.
In den Vereinigten Staaten verhaftete man etwa 1.500 Ausländer und Personen arabischer Herkunft ohne richterliche Entscheidung, ohne anwaltlichen Beistand und ohne klare Rechtsgrundlage. Es wurden Militärgerichte eingerichtet, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandeln und die Todesstrafe verhängen können, gegen die es außer der Begnadigung durch den Präsidenten keine Rechtsmittel gibt. Man erklärte den Krieg gegen den Terror, ohne den Gefangenen den Schutz der Genfer Konvention einzuräumen (vgl. den Beitrag von Katharina Rürup in diesem Heft). In Großbritannien erhielt der Innenminister die Vollmacht, verdächtige Ausländer auf unbegrenzte Zeit einzusperren. Die Einführung von Personalausweisen oder einer polizeilichen Meldepflicht lehnte man dagegen mit der Begründung ab, dass man ich durch Terroristen nicht dazu verleiten lassen werde, so weit von der klassischen Rechtstradition des Landes abzuweichen. Davon wären freilich nicht nur verdächtige Ausländer, sondern jedermann betroffen gewesen. All dies sind nicht gerade überzeugende Beispiele für eine selbstbewusste Verteidigung der Freiheiten und Grundwerte der westlichen Welt.

Der lange Weg in den Präven­ti­ons­s­taat

In Deutschland traf die Ausrufung des Krieges gegen den Terror auf einen lang vorbereiteten Boden. Überwiegend konservative Politiker betrieben schon lange den schleichenden Wandel zum Präventionsstaat, in dem die Polizei vorbeugend handeln, also im Grunde nach Möglichkeit vor dem Täter am Tatort sein müsse. Sie freuten sich über den angeblichen Paradigmenwechsel zum „wehrhaften Staat“ wie Numismatiker über die Neuprägung eines Dukaten. Das in jedem Wahlkampf beschworene „Recht auf Sicherheit“ wurde ein Universalinstrument zur Einschränkung von Grundrechten. Privatheit wurde vom Datenschutz zum Täterschutz umdefiniert und die polizeiliche Kriminalitätsstatistik zum jährlichen Kriegsbericht der Innenminister, mit dessen Veröffentlichung sie nur dann zögerten, wenn die Zahlen besser wurden. „Katastrophen sind die Stunde der Exekutive“, „Vorbeugen ist besser als heilen“ — so lauten die immer gleichen rhetorischen Figuren der Innenpolitiker. Vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung wurde zum Gebot der Stunde, damit die Bundesrepublik nicht zum „Ruheraum“ der geradezu liebevoll ausgemalten Organisierten Kriminalität werde.

Präventionsstaat bedeutet konkret: Polizeirechte existieren schon im Vorfeld strafbarer Handlungen und ohne konkreten äußeren Anlass. Das heißt: Verdatung von Personen, die zwar noch nichts getan haben, denen die Polizei das aber bei Würdigung ihrer Gesamtpersönlichkeit durchaus zutraut. Das heißt: Strafbarkeit von Absichten und bedeutet Ermittlungsmethoden, die sich an der Effektivität der Strafverfolgung und nicht etwa an der Unschuldsvermutung orientieren.

In den letzten zwanzig Jahren haben wir eine innenpolitische Aufrüstung ohne Beispiel erlebt. Sicherheit wurde zum absoluten Rechtsgut, die Strafverfolgung zum Kampf gegen Kriminalität, die Ölzeugjacke zur passiven Bewaffnung, die Wanze zum harmlosen „Abhören des nichtöffentlich gesprochenen Wortes mit technischen Mitteln ohne Wissen des Betroffenen“, oder etwas schlichter zur „Überwachung von Gangsterwohnungen“. Die Aufzählung der Instrumente ist beeindruckend: Vermummungsverbot und passive Bewaffnung; Rasterfahndung und Beobachtende Fahndung; INPOL, NADIS und EURODAC, REMO und LIMO -Dateien rechts- oder linksmotivierter Gewalttäter; polizeiliche Ingewahrsamnahme — eine Art Vorbeugehaft, die in Sachsen-Anhalt bis zur Dauer eines Jahres zulässig werden soll —; der maschinenlesbare Ausweis, der nun auch verschlüsselte Daten enthalten soll; verdeckte Ermittler, deren Identität auch in der Hauptverhandlung nicht offenbart wird; die Einziehung des gesamten Vermögens als „Vermögensstrafe“ — nun vom Bundesverfassungsgericht vorerst gestoppt —; das Beschleunigte Verfahren mit Hauptverhandlungssicherungshaft bis zu einer Woche; erleichterte U-Haft ohne Flucht- und Verdunklungsgefahr; der mehrfach veränderte Kronzeuge; die Kundenkontrolle durch Banken und ihre Anzeigepflicht beim Verdacht auf Geldwäsche, entsprechende Anzeigepflicht auch der Anwälte zu Lasten eines verdächtigen Mandanten; Bargelddeklarierung an der Grenze bei Androhung seiner Einziehung; elektronisches Belauschen von Gesprächen in einer Wohnung bei einfachem Tatverdacht; Telefonkontrolle bei 80 Verdachtskomplexen und ggf. das Abhören ganzer Unternehmen, Kontrolle aller Auslandsgespräche und Telekommunikationen durch den BND nach Stichworten; Verdachtsdateien und Erfassung von Zeugen, Hinweisgebern, Kontakt- und Begleitpersonen; vorsorgliche Speicherung von Tätern und u.U. auch von freigesprochenen Angeklagten in einer DNA — Datei; Schleierfahndung, also Kontrollen ohne äußeren Anlass; Ausreiseverbote auf Verdacht ohne vorherige Benachrichtigung des Betroffenen; Ausweisungen auf Verdachtsbasis; EUROPOL ohne staatsanwaltschaftliche Kontrolle und bei praktischer Immunität auch für im Dienst begangene Straftaten; die Verpflichtung von Netzbetreibern, Verbindungsdaten einschließlich der Bankverbindungen anzugeben; nachträgliche Sicherungsverwahrung — die Aufzählung könnte fortgesetzt werden.

Eine Erfolgskontrolle all dieser Maßnahmen gibt es nicht — oder wurde jedenfalls nicht veröffentlicht. Der damalige Bundesinnenminister teilte dem Bundestag schon 1995 mit, die Länder hielten dies für zu arbeitsaufwendig. In Wirklichkeit glaubten die Länder, dass eine solche Kontrolle auch rechtspolitisch unerwünschte Konsequenzen haben könne: wenn nämlich ein Erfolgsnachweis nicht gelänge. So entschlossen sie sich, der „Rechtstatsachensammelstelle“ beim Bundeskriminalamt nur solche Fälle zu melden, aus denen sie weitere rechtspolitische Forderungen herleiten könnten. Beim Lauschangriff unterließen sie es wohlweislich, die Fragen zu beantworten, die dieser gestellt hatte, um den vom Bundestag geforderten rechts- und kriminalpolitischen Ergebnisbericht liefern zu können.

Nach dem 11. September: Sicherheit versus Rechtsstaat

Das ist die Grundlage, auf der die Sicherheitspakete Schily Ⅰ und Schily II aufbauen konnten. Alle Restposten der ministeriellen Schreibtischschubladen sind für beide Pakete verwendet worden: weitgehende Informationsrechte der Nachrichtendienste auch über Personen, die keiner Straftat oder sicherheitsrelevanter Tatbestände verdächtig sind; Aufweichung der Trennung von „Diensten“ und Polizei; Einführung von Sicherheitsprüfungen der Mitarbeiter in sog. sicherheitsempfindlichen Einrichtungen (Rundfunk- und Fernsehanstalten, Krankenhäuser, Versorgungseinrichtungen, chemischen Fabriken); Mitteilungspflichten der Ausländerämter an den Verfassungsschutz schon bei der bloßen Möglichkeit, dass eine Information für diesen von Interesse sein könnte; Verdachtsausweisung auf Grund rechtlich kaum abgrenzbarer Sachverhalte; Fingerabdrücke bei Visa-Anträgen und Sicherheitsüberprüfung der deutschen Einlader; Aufnahme verschlüsselter Fingerabdrücke oder anderer biometrischer und sonstiger verschlüsselter Daten in Personalausweisen und Pässen.

Die Fähigkeit der CDU/CSU, weitere Eingriffe in rechtsstaatliche Positionen zu fordern, setzt einen unerschrockenen Erfindungswillen voraus. Die Union fordert die Ausdehnung des Kronzeugeneinsatzes, die Verwendung der Bundeswehr im Inland, gemeinsame Dateien aller Nachrichtendienste mit dem Bundeskriminalamt, die Aufhebung des Verfassungsgebotes ihrer Trennung — also eine Polizei befreit von den lästigen Begrenzungen durch die Polizeigesetze —, anlasslose Kontrollen überall. Dabei störe das Grundgesetz? Dann müsse man es eben ändern.

„Man verteidigt die Freiheit nicht mit deren Einschrän­kung“

Werden wir dadurch sicherer? Der Ruf nach dem starken Mann, dem Retter in der Not, bleibt nie ungehört. Er meldet sich meistens schon, bevor er gerufen wird. Der Überwachungsstaat ist immer dann nicht fern, wenn die Freiheit als Gefahr erscheint, vor der man bei der Sicherheit Zuflucht nehmen müsse. Wollen wir das wirklich? Die Bewahrung der Grundrechte und eines Kernbereichs der Privatheit liegt nicht nur im elementaren Interesse des Einzelnen, sondern sie ist ein unverzichtbarer Teil unserer Rechtsordnung. Denn es gibt keine gesellschaftliche Freiheit ohne die Freiheit des Einzelnen. Wir müssen uns entscheiden, auf welchem Fundament der Staat und die Rechtsordnung beruhen sollen: auf Überwachung, auf Kontrollen und wohlmeinender Entmündigung oder auf der Anerkennung seiner Rechtsordnung durch den Bürger als richtig und gerecht und auf der Bereitschaft des letzteren, Verantwortung zu übernehmen. Wir werden nur standhalten, wenn wir unbeirrt die Grundlagen einer freien, offenen und toleranten Rechtsordnung bewahren.

Es bleibt ein offenkundiger politischer Fehler, den Terrorismus allein mit militärischen, kriegsähnlichen Methoden zu bekämpfen, ohne eine zweite, gleichsam zivile Front zu eröffnen. Dauerhaften Erfolg werden wir nur dann haben, wenn wir uns darum bemühen, die Ursachen des Terrorismus, seine religiösen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Ursachen zu verstehen und für sie eine politische Lösung zu finden. Das heißt nicht, den Terror zu rechtfertigen oder gar zu entschuldigen. Aber es ist notwendig, sich nicht nur um seine Symptome, sondern auch um seine Wurzeln zu kümmern und daraus Konsequenzen zu ziehen.

„Man bekämpft“, heißt es in einem Aufruf der HUMANISTISCHEN UNION, „die Feinde des Rechtsstaats nicht mit dessen Abbau und man verteidigt die Freiheit nicht mit deren Einschränkung.“ Der Erstunterzeichner dieses Aufrufs war Otto Schily. Das war 1978. Richtig ist es auch heute noch.

 

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