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Die verfas­sungs­wid­rige Alimen­tie­rung der Kirchen durch den Staat

aus: vorgänge Nr. 194, Heft 2/2011, S. 69-76

Die Frage der Staatsleistungen an die Kirchen und ihrer Ablösung nach Art. 140 GG (in Verbindung mit Art 137 Weimarer Reichsverfassung) hat mich seit meiner Studienzeit begleitet. Manchmal stärker, manchmal schwächer. Als ich im Wintersemester 1968/69 an der Universität in Freiburg im Breisgau mein Studium begann (Politikwissenschaft, Anglistik, Kunstgeschichte) erschien mir die damalige HSU (Humanistische Studenten-Union), die Hochschulorganisation der HU, am nächsten. Zwei ihrer zentralen Forderungen waren „Trennung von Staat und Kirche” und „Verantwortliche Sexualität”. Ob-wohl sich diese Forderungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären platzierten, hatten sie doch ein Wesentliches gemeinsam: den Anspruch, Politik und Leben im gemeinsamen Diskurs zu gestalten, ohne Metaphysik, Dogmen oder religiöse Begründungen.

Der erste große Schwung der Demokratiebewegung ergriff nicht nur die HU, sondern auch beispielsweise die damalige FDP, die im Herbst 1974 mit ihrem Thesenpapier „Freie Kirche im Freien Staat” einen Donnerschlag verursachte und in der Politik das forderte, was sich in den seit 1967 ansteigenden Kirchenaustritten mit den Gipfelpunkten 1970 und 1974 in der Bevölkerung spiegelte. Mit dem Thema „Freie Kirche im Freien Staat” hatte die damalige FDP wieder an den Grundsätzen angeknüpft, die in der Nationalversammlung 1919 von den Deutschen Demokraten und ihrem Wortführer Friedrich Naumann gefordert worden waren: Die institutionelle und finanzielle Trennung von Staat und Kirche. Der demokratische Staat brauchte keine religiöse Begründung mehr, die Zeit der Einheit von Thron und Altar war Vergangenheit und das majestätische „Wir von Gottes Gnaden” war durch die republikanische Volkssouveränität beendet worden.

Die institutionelle Trennung von Staat und Kirche erfolgte durch den Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung („Es gibt keine Staatskirche“) — auch wenn im Kompromiss des Artikels 137 Absatz 5 mit dem Körperschaftsstatus Religionsgesellschaften erster und zweiter Klasse eingeführt wurden. Als Gegenleistung zur finanziellen Trennung wurde den „erstklassigen Religionsgesellschaften” eine Eigenfinanzierung durch das Recht zur Erhebung von Kirchensteuern gewährt, damit waren sie von der staatlichen Finanzierung unabhängig geworden. Mit Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung wurde dann bestimmt, dass die letzten finanziellen Restbestände der Verflechtungen von Staat und Kirche, d. h: die staatlich Finanzierung der Staatskirchen beendet. d. h. abgelöst werden sollten: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstitel beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.”

Die Forderung nach einer Ablösung der Staatsleistungen, als eines besonders krassen Ausdrucks einer überkommenen Identität von feudalen und kirchengemeindlichen Zwecken, hat auch die HU übernommen, Sie schrieb Anfang Oktober 1975 einen Offenen Brief „an die Bundesminister des Inneren und der Finanzen, an die Mitglieder des Haushaltsausschusses des Bundestages, an die Innen-, Finanz- und Kultusminister bzw. — Senatoren der Bundesländer sowie an die Fraktionsvorsitzenden der Landtage” (…) „über die notwendige Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften.” In diesem Brief heißt es: „Sehr geehrter Herr Minister/Senator. Die derzeitige Finanzsituation des Bundes und der Länder hat verschiedene Überlegungen zur Stabilisierung der öffentlichen Haushalte ausgelöst. Bei der Durchleuchtung der Ausgaben sollte es — offiziellen Verlautbarungen zufolge — keine Tabus geben. Ansprüche sollten auf ihre Legitimation überprüft und Privilegien abgebaut werden. Umso mehr hat es uns erstaunt, dass ein nicht unwesentlicher Bereich der öffentlichen Ausgaben von den Sparüberlegungen offenbar ausgenommen worden ist: Wir meinen die Staatsleistungen an die Religionsgemeinschaften.” Damals (1975) beliefen sich diese Staatsleistungen auf umgerechnet 143 Mio. Euro, heute (2011) sind es rund 460 Mio. Euro. Ein entsprechender Brief heute hätte den gleichen Inhalt: Überall wird gespart und gekürzt, nur nicht bei den Staatsleistungen für die beiden großen Amtskirchen.

An dieser Stelle muss noch einmal ausdrücklich betont werden, dass es sich bei der Forderung nach Ablösung der Staatsleistungen nicht um eine Kritik an den Kirchen handelt, sondern um eine Forderung an die Politik, den Verfassungsbefehl von 1919 zu einer demokratischen Grundlegung unseres Staates umzusetzen. Seit dem Ende der „Einheit von Thron und Altar” braucht der Staat keine religiöse Begründung mehr (Monarchen als „Wir von Gottes Gnaden“), sondern er beruht auf der Volkssouveränität, wie sie auch im Artikel 20 GG formuliert ist: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.” Zu diesem demokratischen Grundsatz stehen die Zahlungen, die sich aus der Zeit der „Einheit von Thron und Altar” her ableiten, in deutlichem Widerspruch. Dass die Kirchen diese Zahlungen verteidigen, das ist verständlich, ob sie dabei klug beraten sind, ist eine andere Frage.

Alle Bundesländer (außer den Freien und Hansestädten Hamburg und Bremen) zahlen diese Staatsleistungen aufgrund vorgeblicher historischer Rechtstitel, was in der gegenwärtigen Diskussion jedoch ohne Belang zu sein scheint, da alle Bundesländer mittlerweile Konkordate und Staat-Kirche-Verträge vereinbart haben, in denen diese Finanzleistungen des Staates neu vereinbart wurden. Der damit einhergehende Versuch, von den unklaren und strittigen historischen Ansprüchen abzulenken, geht jedoch doppelt in eine falsche Richtung.

Ohne eine historische Ableitung gibt es überhaupt keinen Rechtsgrund für die Zahlungen. Der Artikel 138 Absatz 1 WRV mit dem Ablösebefehl wird von den maßgeblichen Vertretern des deutschen Staatskirchenrechts mittlerweile als „Bestandsgarantie” umgedeutet, im Sinne eines Gewohnheitsrechts, da dieser Verfassungsbefehl ja nun seit mittlerweile 92 Jahren nicht umgesetzt worden sei. Gerne wird auch noch der Artikel 173 der WRV angeführt, in dem tatsächlich bestimmt wird, dass die Staatsleistungen garantiert sind, solange kein Grundsätzegesetz für diese Ablösung vom Reichstag beschlossen worden sei. Dieser Artikel 173 WRV ist ausdrücklich nicht in das Grundgesetz übernommen worden. Er stand in den Schluss- und Übergangsbestimmungen der Weimarer Verfassung; das verdeutlicht, dass es sich bei dieser damaligen Garantie nur um eine Übergangslösung handelte.

Tatsächlich haben meine noch laufenden Recherchen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin (Akten des Kultusministeriums zur Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften) und im Thüringer Hauptstaatsarchiv in Weimar (Akten des Thüringisches Ministerium für Volksbildung über Reichsgesetz über die Ablösung der Staatsleistungen auf Grund der Artikel 138 und 173 der RV) unmissverständlich erwiesen, dass das Reichsministerium des Innern und auch die meisten Reichsländer diesen Verfassungsbefehl sehr ernst genommen haben. Ein Vorentwurf zum Gesetz zur Ablösung der Staatsleistungen (1921) und ein Entwurf des Gesetzes (1924) wurden ausgefertigt und jeweils mit den zuständigen Ministerien in den Reichsländern abgestimmt. Als Zeitrahmen waren zwei Jahre dafür vorgesehen, so lange betrug auch die Beschäftigungsdauer eines eigens dafür eingestellten Sachbearbeiters/Referenten. Durch die Hyperinflation wurde das Tempo erheblich verlangsamt, da die zu klärenden Fragen sich auf andere Themen verschoben. Mit der Reichstagswahl im Herbst 1923 war dann die Mitte-Links-Regierung im Reich beendet und die dann folgenden Mitte-Rechts- und Rechts Rechtsaußen-Regierungen hatten keinerlei Interesse mehr an der Umsetzung. Deutlichster Ausdruck dafür war die Erklärung des Reichsjustizministeriums von 1924 (das einzige Mal, dass ein Vertreter der Bayerischen Volkspartei in Berlin Justizminister war), dass das Bayern Konkordat nicht gegen die Reichsverfassung verstoße. Eine unzutreffende Behauptung, da im Bayern-Konkordat für den Fall einer Ablösung die Fortzahlung in bisheriger Höhe vereinbart worden war — eine Vereinbarung, die, wenn überhaupt, erst nach der Verabschiedung eines Ablösegesetzes des Reichs verfassungskonform gewesen wäre.

Und auch noch ein zweiter Gesichtspunkt verweist auf die Verfassungswidrigkeit aller finanziellen Regelungen in den seit 1919 vereinbarten Konkordaten und Staat-Kirche-Verträgen. Der Staatskirchenrechtler Michael Droege hat dargelegt, dass der Art. 138 Absatz 1 die alte Identität zwischen Feudalstaat und religionsgemeindlichen Zwecke liquidiert hat. Daher brauchen seit 1919 neue finanzielle Vereinbarungen eine säkulare Begründung aus der jetzigen demokratischen Verfassungsordnung. Haben derartige Vereinbarungen eine solche säkulare Begründung nicht, sind sie verfassungswidrig. Im Unterschied z. B. zu den Staatsverträgen mit den Jüdischen Gemeinden „Zur Erhaltung und Pflege des gemeinsamen deutsch jüdischen Kulturerbes und zur Aufrechterhaltung des jüdischen Gemeindelebens”, sind die nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossenen Verträge (außer im Freistaat Bayern) Pauschalzahlungen ohne Zweckbindung, deren Verwendung keinerlei staatlicher Kontrolle unterliegt.

Wird nach einer Begründung gefragt, so wird etwas von „Ausgleichszahlung für Enteignungen” geschrieben oder, als Kurzformel, „1803” als Jahreszahl genannt. Gemeint ist damit der Reichsdeputationshauptschluss, mit dem der mittelalterliche „Flickenteppich” zu einer moderneren Flächenstruktur u. a. dadurch hergestellt wurde, dass die letzten geistlichen Territorien aufgehoben wurden, in denen Fürstbischöfe regierten und von denen drei (Mainz, Köln und Trier) auch Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches waren. Mit dieser Entscheidung hatte sich der weltliche Adel von der religiösen Konkurrenz und Bevormundung befreit, allerdings mit einer Ausnahme. Der Fürstbischof von Mainz bekam ein neues geistliches Territorium, denn er wurde noch gebraucht: er war gleichzeitig der Reichserzkanzler und Reichsvikar, der den Kaiser salbte und krönte. Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches (1806) wurde auch er nicht mehr gebraucht und nach seinem Tod fiel auch dieses Territorium an Bayern. (Eine ausführlichere Darstellung und Widerlegung der historischen Begründungen finden sich in meinem Beitrag zu den 4. Berliner Gesprächen der Humanistischen Union über Religion und Politik, 2010.)

Dieses Programm der weiteren Säkularisierung fand dann einen Höhepunkt und gleichzeitigen Widerspruch seit 1806, als einerseits Kaiser Franz II. abdankte und das Heilige Römische Reich beendet war. In Folge dieser konstitutionellen Veränderung entstand ein ,Freiraum‘, den einige der deutschen Territorialstaaten (mehr oder weniger mit Unterstützung Napoleons) nutzten, um sich als Königreiche zu kreieren (Bayern, Sachsen, Hannover, Württemberg und auch Preußen, dessen Monarch nun nicht mehr nur König in Preußen war, sondern König von Preußen wurde). Gegenüber anderen Adelsherrschaften (Großherzöge, Herzöge, Fürsten, etc.) besteht für die traditionelle Inthronisation von Königen eine besondere Zeremonie: ihre Salbung und Krönung durch einen Bischof, die Überhöhung als „von Gottes Gnaden”. Dafür brauchte es Bischöfe und im Grundsatz der Königreiche „Alimentierung gegen Legitimation” wurden die verwaisten Bischofsstühle neu besetzt und finanziert.

Das Bayern-Konkordat von 1817 ist dafür der beste Beleg, denn einerseits konnte der König seinen Wunsch nach einer einzigen Diözese Bayern nicht umsetzen — schließlich brauchte er nur einen Bischof — und die katholische Kirche setzte die sieben Bistümer durch, andererseits hatten die Bischöfe ihm, als König, einen persönlichen Treueeid zu schwören. Es blieb allerdings auch der einzige derartige Staatsvertrag im 19. Jahrhundert. Um welche „auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln” beruhenden Staatsleistungen es sich im Einzelnen handelt, die abgelöst werden sollen, ist seit 1919 unklar. Nach katholischer Auffassung handelt es sich dabei vorrangig um die Entschädigung von Pachtersatzleistungen (und Baupflichten) der vorgeblichen Enteignungen von 1803. Für die evangelische Kirche ist es die Fortführung der Besoldung ihrer höheren Geistlichen und Kirchenbeamten als frühere Staatsbedienstete, obwohl 1919 die Staatskirche abgeschafft wurde. Auch die katholische Argumentation greift nicht, denn wenn man die 2010 an die Bistümer gezahlten Staatsleistungen von 193 Mio. Euro auf den durchschnittlichen Pachtertrag pro Hektar von 190 Euro umrechnet, wären das rund 10.200 qkm (!) Grundbesitz, der den „enteigneten” katholischen Bischöfen 1803 als persönlicher Dispositionsbesitz gehört hätte – eine mehr als unwahrscheinliche und auch niemals recherchierte oder nachgewiesene Größenordnung.

Im Zuge der paritätischen Behandlung der beiden großen Amtskirchen – bekommt die eine etwas, dann die andere auch –, bekommen nun alle Bistümer und Landeskirchen (außer in Hamburg und Bremen) diese Staatsleistungen. Im Durchschnitt aller Bundesländer werden an die beiden Kirchen pro Kopf der Bevölkerung rund 10 Euro (9,55) gezahlt. Die Bandbreite reicht dabei von 0,59 Euro im Saarland und 1,18 in Nordrhein-Westfalen bis hin zu 12,06 in Rheinland Pfalz und 12,18 in Sachsen-Anhalt.

Die so genannten rechtlichen Grundlagen stellen sich bei einem Vergleich zwischen den Bundesländern als Makulatur heraus. Wenn es korrekte rechtliche Grundlagen gäbe, müssten sie sich in den betreffenden Regionen zeigen. Als Beispiel: Nordrhein-Westfalen (komplett) und Rheinland-Pfalz (bis auf die vormals bayerische Pfalz) sind Rechtsnachfolger Preußens, also auch des Preußen-Konkordats von 1929. Insofern müssten sich also die Staatsleistungen – bezogen pro Kopf der Bevölkerung – in einer ähnlichen Größenordnung bewegen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Nordrhein-Westfalen zahlt (nach dem Saarland) pro Kopf am wenigsten (1,18) und Rheinland-Pfalz gehört in die Spitzengruppe (12,06 Euro). Betrachtet man sich jedoch die Nachkriegsregierungen in den beiden Bundesländern, werden die Unterschiede plausibel. In-sofern ist es zwar richtig, dass Staat-Kirche-Verträge u. a. über die Staatsleistungen ab-geschlossen wurden, diese Staatsleistungen haben jedoch der Höhe nach nicht – wie es zu erwarten wäre – gemeinsame rechtliche Grundlagen, sondern sind das Resultat nahe-zu beliebiger politischer Festsetzung.

Mit welcher, man kann es nicht anders bezeichnen, Brachial Mentalität und Ignoranz die Politiker und ihre kirchlichen Gesprächspartner in dieser Frage der Staatsleistungen vorgehen, das zeigt sich insbesondere in den neuen Bundesländern, in denen die Zahlungen pro Kopf der Kirchenmitglieder alle höher sind, als in den westlichen Bundesländern und sich in Sachsen-Anhalt auf bis 70,35 Euro pro evangelischem Kirchenmitglied (Bundesdurchschnitt; 11,09) und 59,52 Euro für jedes katholische Kirchenmitglied (Bundesdurchschnitt 7,75) belaufen.

Am Beispiel des Freistaates Sachsen soll kurz dargestellt werden, wie, solche Verträge zustande gekommen sind. Der erste Widerspruch zeigt sich bereits in der Landesverfassung von Sachsen, in der in Art. 109 auch der Art. 138 der Weimarer Reichsverfassung übernommen wird, nach dem die Staatsleistungen abgelöst werden sollen. In dem kurz darauf folgenden Artikel 112 der Landesverfassung steht dann lapidar: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Leistungen des Landes an die Kirchen werden gewährleistet.” Ein verfassungsrechtliches Unikum, zwei sich gegenseitig ausschließende Bestimmungen in die gleiche Verfassung zu schreiben und das auch noch sozusagen ,in Sichtweite‘ zueinander. Das könnte man noch als Schlampigkeit belächeln, denn wer hat schon den Art 138 der Weimarer Reichsverfassung zur Hand oder im Kopf, um den Widerspruch zu bemerken. Den Rechtsbruch gibt es dann aber im Vertrag des Landes Sachsen mit der evangelischen Landeskirche.

Einleitend wird erläutert, dass die Resultate „einer kirchenfeindlichen und atheistisch geprägten Politik zunächst der NS-Machthaber und dann des SED-Systems (…) tiefe Spuren hinterlassen haben. So ist heute nur noch etwa ein Drittel der Bevölkerung Mitglied in den traditionellen Volkskirchen.“ Das bedeutet eigentlich im Verwaltungsrecht den Fortfall der früheren Voraussetzungen und die Nichtigkeit der früheren Rechtslage. Eigentlich. In den Erläuterungen zur verhandelten und berechneten Summe der Staatsleistungen wird dann ohne einen Hauch von Bezug auf die tatsächliche Situation wiederum munter dargelegt, dass die Staatsleistungen nach Art 140 Grundgesetz und Art. 112 der Landesverfassung gewährleistet seien. Und da in der NS -Zeit und später in der DDR die „altrechtlichen Grundlagen” nicht beachtet worden seien, müsste nun eine Neuberechnung erfolgen, um diese zu zahlenden Staatsleistungen auf eine „neue Schuldgrundlage” zu stellen. Die Leistungen für die höheren Kirchenbeamten werden dann auf der Grundlage, dass die Kirchenbeamten seit 1873 Staatsbeamte waren, nach einem Urteil des Staatsgerichtshofes von 1932 neu (!) berechnet. Auch die Zahl der vom Staat zu bezahlenden Superintendenten wird auf den Stand von 1931 bezogen und die Kosten der Landessynode aufgrund von Gesetzen aus den Jahren 1868 und 1912. Die Versorgungsleistungen werden schließlich in einem Vergleich der Aufwendungen des Haushaltsplanes von 1922 auf das heutige Niveau berechnet. Im Konkordat wird parallel gerechnet und zusätzlich pro Kopf (im Jahr 1996) die Zahl der Katholiken in Sachsen im Jahr 1950 zugrunde gelegt.

Rolf Schwanitz, MdB der SPD aus Plauen, hat diese Mentalität nach einer Diskussion so beschrieben: „Für mich erschreckend war eine bei mehreren Diskutanten klar erkennbare Mentalität frei nach dem Motto ,Ist die Kirche im SED-Staat benachteiligt worden, so geht es jetzt halt mal andersrum‘. Dass in Deutschland der Staat nach GG weltanschaulich neutral zu sein hat, haben zu meinem Erstaunen auch gestandene CDU-Kommunalpolitiker gestern von mir zum ersten Mal gehört.” Dies ist nur ein aktuelleres Beispiel dafür, dass sich in den Jahren seit 1975 die Frage der Ablösung der Staatsleistungen im politischen Raum nicht versachlicht hat, sondern geradezu zu einer „Glaubensfrage” geworden ist.

Um dieses Defizit einer verfassungsrechtlich geforderten säkularen Demokratiebegründung nach 92 Jahren Verfassungsauftrag zu beenden, hat Johann-Albrecht Haupt, der seit rund 20 Jahren im Bundesvorstand der Humanistischen Union für das Thema Staat und Kirche zuständig ist, im Frühjahr 2011 im Namen der HU einen Gesetzentwurf vorgestellt, der die ersatzlose Beendigung dieser Staatsleistungen formuliert und die seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland gezahlten Staatsleistungen der Bundesländern als erfolgte Ablösung betrachtet. Der Gesetzentwurf formuliert, dass die Staatsleistungen ersatzlos beendet werden. Aufgrund seiner Recherchen (bei der ihn Evelin Frerk und ich unterstützt hatten) konnte er für alle Bundesländer (außer Hamburg und Bremen) detailliert auflisten, welche Beträge in welchen Bundesländern seit Gründung der Bundesrepublik gezahlt worden waren: Bis einschließlich 2010 sind es 13.892.718.000 Euro (13,9 Mrd. Euro). Und ebenso sind in der DDR diese Staatsleistungen (vorrangig an die evangelische Kirche) gezahlt worden. In den 40 Jahren des Bestehens der DDR waren es insgesamt 629 Mio. Mark der DDR.

Die Reaktionen der Kirchen und der ihnen nahe stehenden Politiker aller Parteien auf den Gesetzentwurf der HU waren erwartungsgemäß: zum einen habe man klare Verträge, die verpflichtend seien („pacta sunt servanda“) und zum anderen seien die Kirchen zur Ablösung bereit. Als einmalige Ablösesumme wurde der 24-fache Betrag der zuletzt gezahlten Jahresbeträge genannt, eine Gesamtsumme von rund 11 Milliarden Euro. Und, wie es der EKD-Ratsvorsitzende bekräftigte: „Rabatt wird nicht gegeben!”

Die kirchlichen Lobbyisten interessierten sich weder dafür, dass seit 1949 bereits rund 14 Milliarden Euro (im gezahlten Nominalwert) an die beiden Kirchen geflossen sind — das sind ja, wie es katholisch formuliert wurde, nur die rechtmäßigen Pachtersatzleistungen für die Enteignungen 1803 —, noch bemerkten sie, dass diese Forderung keine angemessene Ablösung bedeutet, sondern nur eine komplette Verlagerung des Kapitalstocks vom Staat an die Kirchen für die vollständige Weiterzahlung der bisherigen Staatsleistungen als „Ewigkeitsrente” darstellen würde.

Verfassungsrechtliche anerkannte Grundsätze, dass die Ablösung sich nur auf die Zahlungen bezieht, die beim Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung (August 1919) als Pflichtzahlungen des Staates zu bewerten und auch nur im Bezug der damaligen Höhe angemessen abzulösen sind, spielten ebenso keine Rolle.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in das gegen den Widerstand der CDU der Ablösebefehl des Artikels 138 Absatz 1 WRV übernommen worden war, hatte das Parlament damit ohne Übergangsklausel zur Verabschiedung eines geforderten Grundsätzegesetzes verpflichtet. Geht man also davon aus, dass 1950 dieses Grundsätzegesetz korrekt verabschiedet wurde und ist man sogar bereit, die Maximalforderung der Kirchen zu erfüllen, so wäre es das 24-fache des Zahlbetrags von 1950; damals hatten die Bundesländer (umgerechnet) 33 Mio. Euro an die Kirchen bezahlt Die maximale einmalige Ablösesumme hätte 1950 folglich (umgerechnet) 792 Mio. Euro betragen. Rechnet man nun die jährlichen Zahlungen seit 1950 zusammen, so ist diese Summe im Jahre 1963 bereits erreicht und überschritten (mit 805 Mio. Euro). D.h. 1963 sind die Staatsleistungen komplett — auch wenn man die Maximalforderung der Kirchen zugrunde legt— abgelöst gewesen und die seit 1964 geflossenen Gelder (13,1 Milliarden Euro) wurden rechtswidrig bezahlt. Auch wenn es jenseits der politischen Realität ist, bleibt die Frage, ob diese zu Unrecht erhaltenen 13 Mrd. Euro nicht von den Kirchen an die Bundesländer zurück zu erstatten sind.

Seit dem Sommer 2010 ist — nach rund 35 Jahren relativen Stillstands — das Thema der Ablösung der Staatsleistungen wieder im politischen Raum präsent. Der Landesrechnungshof in Schleswig-Holstein hatte erneut kritisiert, dass die Staatsleistungen des Landes aus allen Sparmaßnahmen ausgenommen blieben. Ja, es sogar den Widerspruch gäbe, dass bei sinkenden Mitgliederzahlen der Nordelbischen Kirche, die Zahlungen dennoch weiter steigen würden. Die Missbrauchsfälle sexueller und körperlicher Gewalt, durch die auch die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in Mitleidenschaft gezogen wurde, zeitigte auch den Rücktritt des Augsburger Bischofs Walter Mixa. Als bekannt wurde, dass er — aufgrund der Staatsleistungen — seine Pension aus Steuergel-dem erhält, wurden erste Stimmen laut, zumindest die Bischofsgehälter in Bayern nicht mehr vom Staat bezahlen zu lassen. Es mehren sich auch innerkirchlich Stimmen, die nicht mehr zu rechtfertigenden Staatsleistungen aus taktischen Gründen zu beenden, da die Kirchensteuereinnahmen ausreichend seien und der Betrag der Staatsleistungen (2010: 462 Mio. Euro) nur rund 5 Prozent der Einnahmen aus den Kirchensteuern betrage. Die durch sie ausgelöste politische Unruhe und der mit ihnen verbundene Ansehensverlust der Kirchen könnten durch den finanziellen Vorteil kaum aufgewogen werden.

Im Herbst 2010 hat der sich in Gründung befindliche Koordinierungsrat säkularer Organisationen (KORSO) – mit Förderung durch die Giordano-Bruno-Stiftung — eine Kampagne zur Ablösung der Staatsleistungen initiiert, zu der nun der Gesetzentwurf der Humanistischen Union den argumentativen Grundstein gelegt hat Die Politik ist nun gefordert zu handeln. Auch wenn die Erfolgsaussichten derzeit nicht großartig sind, kenne ich einzelne Stimmen aus dem Bundestag, die davon ausgehen, dass es in zehn Jahren keine Staatsleistungen mehr geben wird.

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