Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 173: Religion und moderne Gesellschaft

Von der Aufklärung eines religiösen Herzens

Erinnerung an frühen Glauben und spätere Lektüren,

aus: vorgänge Nr. 173 (Heft 1/2006), S. 87-96

„Lob der Aufklärung – aber…“
Ernst Fischer (1899-1972)

Farben, Düfte und Glockenklänge prägten meine Kindheit. In der Sakristei roch es immer nach Weihrauch. An den Sonntagen, wenn der Pfarrer im Hochamt und in der nachmittäglichen Andacht den Weihrauchschenker besonders ausgiebig benutzte, zogen oft Schwaden dieses Duftes durch die Sakristei. Bis heute sind die Aufenthalte in der von Weihrauch vernebelten Sakristei nicht aus meinem Geruchsgedächtnis verschwunden. Jede Sakristei einer Kirche riecht immer ein wenig nach Weihrauch. Aber die Sakristei meiner Kindheit roch immer ein wenig noch nach mehr. Die sakralen Düfte vermengten sich immer mit sehr profanen, alltäglichen Gerüchen. Es gab Tage, da glaubte man als kleiner Ministrant in einer Schnapsbude zu kellnern. Immer wenn der alte Mesner in der Sakristei anwesend war, spürte man in der Nase, wie irdisch der katholische Glaube auch sein kann. Nie kam der Mesner in die Sakristei ohne eine schon von weitem wahrnehmbare Alkoholfahne.

Eine katholische Kindheit in den 1950er und 1960er Jahren

In Südoldenburg, der niedersächsischen „Schweinebucht“ zwischen Oldenburg und Osnabrück, war es noch in den 1950er, 1960er Jahren selbstverständlich, dass (fast) jeder Junge auch Messdiener wurde. In farbenprächtigen Ornaten, mal in Rot, mal in Lila, mal in Schwarz, mal in Grün, mussten wir dem Pfarrer während des Gottesdienstes zur Seite stehen. Großartig waren die Fronleichnams und Erntedankprozessionen. Unter dem Geläut aller lokalen Kirchen sind wir durch die Stadt gezogen, vorbei an Altären, zu denen schillernde und phantasievolle Blumenteppiche führten. Die Monstranz, ein wertvolles, glitzerndes Kreuz, wurde von Pfarrern getragen, die in einer faszinierend bunten, kostbaren Brokatstola steckten. Ebenso farbenüberquellend und für mich als Kind von blendender Faszination waren auch die Umzüge aus Anlass des alljährlichen „Katholischen Sportfestes“. Die katholischen Weitspringerinnen trugen rote Röcke, die gläubigen Kugelstoßer lila Hosen und die mariengläubigen Barrenturnerinnen gelbe Hemden. Zu Weihnachten, zu Ostern und zu Pfingsten dauerte das Hochamt immer fast zwei Stunden. Der Kirchenchor sang eine Messe von Mozart, wir Messdiener schwenkten fast ununterbrochen den Weihrauchtopf, der Altarraum war mit Blumengestecken übersät. Die Messtexte wurden in einer Sprache gesprochen, die außer vom Zelebranten von keinem verstanden wurde. Es war eine fremde, alte, aber doch sehr feierliche Sprache. Mechanisch wie ein altes Uhrwerk leierten wir Messdiener das uns unsäglich lang erscheinende Stufengebet zu Beginn der Messen hinunter. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.
Nicht nur für jeden Tag, auch für fast jedes Malheur gab es einen Heiligen, der in Wechselgesängen um Beistand gebeten wurde. Santa Agata – ora pro nobis. Gegen das schmerzvolle Verschlucken einer Fischgräte half der so genannte Blasiussegen. Meine Mutter betete immer zum Heiligen Antonius, wenn ich mal eine Eintrittskarte zum Freibad verloren hatte. Im Gebetbuch waren Fürbitten für Maurer, Kaufleute und Krankenschwestern abgedruckt. Man vertraute in allen Lebenslagen auf Gott und die ganze Heilgenschar im Himmel. Der Staat war weit weg, vor allem war er grau und unfassbar. Der Himmel aber (und die Hölle) waren immer präsent. Man beschwor ihn in mächtigen Gesängen (O Heiland, reiß die Himmel auf) und er hatte seine ‚Stellvertreter‘ auf Erden. In meiner Zeit war es Johannes XXIII., ein gutmütiger, weltzugewandter Papst, den die Italiener immer il Papa buono, den guten Vater nannten. Es hat entsprechend lange gedauert, bis in Südoldenburg Versicherungsagenten in die Hand nahmen, wofür Jahrhunderte lang hier die Heiligen zuständig waren.
Als Ende der 1960er Jahre ein zarter Hauch des reformerischen Windes von den großen Städten und Universitäten in unserer Kleinstadt spürbar wurde, begannen auch wir Messdiener mit dem großen Aufräumen. Wir wollten den ganzen abgestandenen Kirchenkrempel abschaffen, wir lehnten uns gegen die Farben im Gottesdienst auf, die Blumen fanden wir zuwider, der Weihrauchschwenker wurde in die Ecke geknallt. Für all das hatten wir nur noch Hohn und Spott übrig. Es war für uns Zirkus, ein totes Ritual, Klimbim, religiöser Firlefanz. Im Mittelpunkt stand nur noch eines: das Wort. Brecht, Camillo Torres, Helder Camera, Bonhoeffer, Martin Luther King galt es zu zitieren. Und immer wieder die Fragen nach der Rolle des Klerus in den Nazi-Jahren. Für die Eltern, mehr noch für die lokalen Statthalter der römischen Kirchenhierarchie waren diese „Wortgottesdienste“ eine Provokation. Was wurde damals eingeschüchtert, geschimpft, geschrien, gezittert! Der Katholizismus als eine Konfession der Angst und Macht – in dieser Zeit spürten wir es bis in die feinste Faser unseres Seelenlebens und in die nächtlichen Träume hinein. Stammelnd und trotzig wie kleine Kinder verteidigten wir aber unsere Ideen der Erneuerung. Wir glaubten, nur mit Provokationen könnten wir die von uns als hoffnungslos rückständig und konservativ angesehenen Gemeindemitglieder an die Errungenschaften der Aufklärung – oder was wir damals dafür hielten – heranführen. Wir emanzipierten uns von diesem ganzen Plunder, von diesen muffig-stickigen Weltbildern, diesem devoten Vertrauen in Gott und die irdischen Autoritäten, diesem falschen Getue von Nächstenliebe und Herrschaftsunterwerfung, dieser angeblich so bibelgemäßen Bespitzelung unserer Lektüren, unserer Lieblingsfilme, unserer Freundschaften, unserer ersten Küsse in den Gassen abseits der Hauptstraßen oder in den hinteren Reihen des Kinos.

Zweierlei KBW: Linke Glaubens­fragen an der Universität nach 1968

Später an den Universitäten, in den Juso-Gruppen, in privaten Zirkeln lasen wir dann Marx, Marcuse, demonstrierten gegen NPD-Veranstaltungen, verteilten Flugblätter, schickten den Kapitalismus zum Teufel. Wer wie ich Anfang der 1970er Jahre in Hannover studierte und die ersten Anstrengungen verspürte, seine politischen Wegmarken in einer Tradition weit links von Katholizismus und Christdemokratie zu finden, rutschte in einen Strudel der Orientierungslosigkeit. Dort an der „Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Hannover“ waren die Studenten ihrem eigenen politischen Selbstverständnis nach links, noch weiter links, ganz weit links – oder ganz einfach hilflos verwirrt. Für mich, aus einer ländlichen Kleinstadt kommend, ohne proletarischen oder antifaschistischen Stammbaum, katholisch bis in die Zehenspitzen aufgewachsen und langjähriges Mitglied der außerparlamentarischen Messdiener-Bewegung, waren die ersten Erfahrungen in dieser kulturrevolutionären Atmosphäre der auslaufenden Studentenbewegung von 1968 Mark, Bein und Seelen erschütternd. Mit der Abkürzung KBW verband ich noch völlig selbstverständlich das Katholische Bildungswerk im Bistum Münster und nicht eine maoistische Kaderorganisation, die sich Kommunistischer Bund Westdeutschland nannte. In den Flugblättern der unübersichtlich vielen linken Gruppen wurden rund um die Uhr die Sozialdemokratie und der Reformismus entlarvt, während ich gerade erst unter Anstrengungen die Existenz von anderen Parteien außerhalb der CDU entdeckte. Reformismus hin oder her – ich musste erst einmal die SPD als eine auch für Katholiken wählbare Partei akzeptieren.
Die Namen der an dieser Fakultät lehrenden Dozenten waren für mich Schall und Rauch. Von Peter Brückner, Jürgen Seifert oder Oskar Negt hatte ich während der Schulzeit nichts gelesen oder gehört. Ich kannte Pater Leppich, aber auch schon Walter Dirks, dessen Rundfunkkommentare mich ganz langsam vom Marienwallfahrtsort Bethen in die Moderne hinführten. Die Studentenbewegung von 1968 verband ich nur mit einem Studenten, der aus Berlin an jedem Wochenende immer in unsere Kleinstadt kam, um seine Wäsche zu wechseln und am Abend in der Eisdiele mit dem Besitz von ein paar Gramm Haschisch zu prahlen.
Auf den Rat von Freunden ging ich in ein Seminar des Marxisten Oskar Negt, weil man dort etwas von jenen Theorien lernen konnte, die in der heilen provinziellen Welt – wenn überhaupt – nur als Staatszersetzend oder jugendgefährdend bekannt gewesen waren. Marx, Freud – um Gottes Willen! Allmählich dämmerte mir bei der in den Seminaren vorgeschlagen Lektüre, dass der Marxismus, für den Negt die Studenten zu gewinnen suchte, etwas ganz anderes war als jener Marxismus-Leninismus, vor dem im KBW (katholische Variante) immer gewarnt worden war und für den mich die griesgrämigen Flugblattverteiler des KBW (maoistische Variante) immer agitieren wollten. Wir arbeiteten uns mühsam und lärmend an die Moderne heran. Lernten die Errungenschaften der Aufklärung kennen, auf die wir fortan nicht mehr verzichten wollten und konnten. Marx war für mich nie eine zu verehrende Ikone, sondern einer der sprachmächtigsten Kritiker eines Systems, das die Menschen daran hinderte, nach den christlichen Geboten zu leben. Aufgewachsen in der geschlossenen Welt eines ländlichen Katholizismus, reizte mich nichts an der geschlossenen Welt dogmatischer Marxisten und „revolutionärer“ Studentensekten.
Immer entdeckte ich bei denen auch eine „hohle Stelle“, die mir in meiner Kindheit und Jugend die Sinnlichkeit der Rituale und Symbole, die Festtage und die Legenden des Katholizismus ausgefüllt haben. Mit der rücksichtslosen Kritik am Katholizismus wurde viel gewonnen – aber auch einiges verloren. Das zu begreifen – auch zu empfinden – dauerte lange. Reisen, Begegnungen, Freundschaften, Lektüreerlebnisse halfen, Verstand und Sinne für einen neuen Blick auf die katholische Kindheit zu öffnen. Fragmente dieser „neuen Aufklärung“ reihten sich mit den Jahren aneinander.

Rosenkranz und Rituale

Da schrieb mir etwa ein in allen Schriften von Marx wohl bewanderter Hochschullehrer aus seinem italienischen Feriendomizil:
„Was mir kürzlich aufgefallen ist: ich habe seit Jahrzehnten den Rosenkranz nicht mehr beten gehört. Ist das ausgestorben? Diese Form des demütigen Zusammenstehens der Frauen. Jetzt wird es wahrscheinlich zwei Klassen von Frauen geben: die einen, die so etwas nicht brauchen und die anderen, die es nicht mehr wagen, ihre vereinzelte Schwäche in kollektiven Formen auszudrücken.“
Unglaublich: Ausgerechnet das Beten des Rosenkranzes nahm ein Professor, dessen education sentimentale vom Württemberger Protestantismus und nicht vom Südoldenburger oder bayerischen Katholizismus geprägt ist und dessen Denken durch die Werke von Karl Marx und Max Weber geschärft wurde, zum Anlass einer ernsthaften Reflexion. Wenn Religion, wie man es ja als aufrechter Linker jahrelang den roten Klassikern einfach nach gebetet hat, Opium fürs Volk ist, ist dann nicht die Rosenkranzandacht der reinste Drogenumschlagplatz? Wer wie ich als Kind und Messdiener an den unendlich langweiligen Rosenkranzgebeten teilnehmen musste, ist eigentlich für die Attraktion dieser Form von Kollektivität nicht mehr so recht zu begeistern. Und ob es für die frommen Frauen Gelegenheiten selbst geschaffener Autonomie sind, kann man ebenfalls bezweifeln. Leicht würde es fallen, den anti-emanzipativen, konservativen Charakter des Rosenkranz-Betens zu entlarven. Aber darum geht es in der zitierten Stelle in dem Brief des Freundes ja auch gar nicht. Hier blickt vielmehr ein aufgeklärter, moderner Intellektueller mit Neugierde auf die in diesem traditionellen katholischen Ritual noch als Trümmer, Ruinen, Fetzen vorhandenen vor-modernen Einstellungen oder Gefühle. Nicht um sie zu konservieren oder zu reaktivieren, sondern um mit ihnen der Moderne ihre Gewinn- und Verlustrechnungen zu präsentieren.
Diese Art von Aufklärung, der es nicht um eine schnell formulierte Destruierung des Traditionellen ging, sondern um ein fragendes, neugieriges Verstehen des Alten und ein vorsichtiges Formulieren möglicher humanerer Formen von Vergesellschaftung, war mir, der ich oft sprachlos und verwirrt in die linke urbane Szene Hannovers gestolpert war, neu. Ich hatte mich ohne eine wirkliche Auseinandersetzung von der Kultur meiner Kindheit losgesagt und mich als ein linker aufgeklärter Mensch bekannt. Vieles musste ich neu und ein zweites Mal zu verstehen suchen, was mir längst als obsolet und überwunden erschien. Ich musste das Öffnen von Augen und Ohren ein zweites Mal erlernen, um „das Andere der Vernunft“ (Gernot und Hartmut Böhme) wahrzunehmen. Im Alltag, in Lektüren, auf Reisen, zum Beispiel ins tiefe Niederbayern.

Frömmigkeit heute: das Beispiel Nieder­bayern

Dengling, Sünching, Mötzing, Orte und Flecken, deren Namen schon wenige Kilometer weiter vergessen sind. Man besucht von Putten, Madonnen, Heiligenstatuen und Prunkaltären überladene Wallfahrtskirchen. Nach der ersten Sinnenverwirrung durch das barocke Gold und den nur langsam verdampfenden Weihrauchduft fällt irgendwann der Blick in abgelegenere Winkel dieser überwältigenden Sakralbauten. An den Wänden hängen dicht nebeneinander kleine bunte Bildchen mit manchmal naiv, manchmal äußerst kunstvoll gemalten Motiven. Erinnert wird hier an dramatische Lebenskrisen, in denen Heilige oder die Muttergottes geholfen hat: „Dank für die Rettung aus schwerer sozialer Not“, „Dank für den Beistand bei einer Hüftoperation“, „Dank für die Hilfe in einer Ehekrise“. Auf den Tischen unterhalb dieser kleinen Votivbilder werden Zettelchen und die beschriebenen Seiten viel benutzter Hefte sichtbar. Hier scheint es nichts zu geben, wofür man das leitende Personal der himmlischen Versicherung nicht für kostenlose und schnelle Notfallhilfe danken könnte: für den Aufstieg unserer Mannschaft in die Kreisliga Niederbayern, für einen günstigen Bausparvertrag, für ein neues „super Motorrad“, für eine endlich gefundene Freundin, für eine gelungene Entziehungskur, für das wieder gefundenen Fußballtrikot mit der Rückennummer von Jürgen Klinsmann, für die Wiederversöhnung mit der Schwiegermutter. Trotz jahrhundertelanger Aufklärung, eines gut ausgebauten Sozialstaates und eines flächendeckenden privaten Versicherungssystems blüht hier am Ende des 20. Jahrhunderts immer noch eine üppige Wundergläubigkeit. Man empfängt auch hier via Satellitenschüssel Fernsehprogramme aus aller Welt. Die Computer-Kids surfen allabendlich durchs Internet – und bedanken sich in krakeliger Schrift bei der Ortsheiligen für die Hilfe bei einer schweren Schularbeit! Liest man die Zeichen und Aufzeichnungen an diesen frommen Plätzen richtig, dann haben die Wunderhoffnungen in den letzten Jahren eher zu als abgenommen. Die für Eintragungen ausgelegten Bücher sind jedenfalls in den letzten Jahren nicht dünner geworden. Die Zeiten scheinen – jedenfalls an diesen niederbayerischen Orten – nicht gerade günstig für die Aufklärung. Man registriert eine verstörende Renaissance von Wundererwartungen aller Art.

Lektüren I: Wallfahrten und Wunder

Zum Verständnis des Wunderglaubens hat vor Jahren Rebekka Habermas eine hilfreiche historische Untersuchung vorgelegt (Habermas 1991). Ein Blick in diese Studie lohnt noch immer: Sie lenkt unseren durch eine lange Aufklärungsgeschichte geformten Blick auf die Bereiche jenseits dessen, was nach allgemeinem modernen Konsens vernünftiges Denken und Handeln heißt. Rebekka Habermas versucht auch im deutschsprachigen Raum eine forschende Neugierde für die Alltagskultur des „gemeinen Volkes“ zu wecken, die in anderen Ländern längst eine große Reputation besitzt. Dass mit dieser bei uns immer noch unkonventionellen Forschungsintention zugleich auch so fundamentale Fragen wie die nach der Ambivalenz von Moderne und Aufklärung, von Verstaatlichung und wissenschaftlichem Fortschritt aufgeworfen werden, spricht für die Aktualität dieser Studie. Rebekka Habermas gelingt es, „Wunder- und Wallfahrtsgeschichte“ jenseits katholischem Devotionalienkitsch und protestantisch-aufklärerischem Spott zu einem seriösen historischen Forschungsgegenstand zu machen.
Warum gab es Wallfahrtskirchen und wer beteiligte sich an den ersten Prozessionen? Wer förderte sie und wer bekämpfte sie? Was bewegte die Menschen, was geschah während der Prozessionen, wie wurden sie beendet? Anhand von Mirakelbüchern, Votivbildern und anderen Wallfahrtsdokumenten versucht Rebekka Habermas, die Geschichte des Wunderglaubens in Bayern aus der Perspektive der Gläubigen zu rekonstruieren. Dabei zeigt sich, dass die Prozessionen aus dem Blickwinkel der Gläubigen eine ganz eigene, existentielle Bedeutung besaßen. „Ebenso wie sie dem einzelnen die Möglichkeit zur Artikulation seiner Ängste und Trost und Hoffnung gewährten, bot die Wallfahrt und noch mehr die Prozession das außergewöhnliche Erlebnis der Communitas. In den Prozessionen und Bittgängen nämlich kehrten die Wallfahrer und Wallfahrerinnen dem Alltag den Rücken, bildeten sie eine Gemeinschaft jenseits der herkömmlichen Bande und gaben einer Phantasie Ausdruck, die jene Bilder schuf, welche auf den Hohenpeißenberger Prozessionen zu sehen waren. Aktiv gestalteten sie die Festlichkeit und verliehen Raum und Zeit eine neue Bedeutung.“
Der Kampf um Wallfahrt, religiöse Symbolik und Wunderglauben war ein Kampf um Herz und Kopf, ein Kampf zwischen Vernunft und angeblicher Unvernunft, zwischen der unkontrollierbaren Phantasie des einfachen Volkes und den Rationalitätsvorstellungen des Bürgertums. Wir wissen: Letztlich haben sich Aufklärung, Wissenschaft und mit ihnen der moderne Staat in der bürgerlichen Gesellschaft durchgesetzt. Sie bestimmen unser Alltagsleben, unser Denken und Fühlen bis in die intimsten Bereiche hinein. Auf die Errungenschaften dieses Aufklärungsprozesses können wir nicht mehr verzichten. Die Untersuchung von Rebekka Habermas erinnert aber auch an die Opfer dieses Prozesses der „Zerstörung der Sinnlichkeit“ (Alfred Lorenzer) zugunsten eines rationaleren, kalkulierbareren Lebens. Diese Studie half mir dabei, jenseits der herkömmlichen aufgeklärten touristischen Aufmerksamkeiten den Blick auf die andere Geschichte des Katholizismus – nicht nur in Bayern – zu lenken. Nicht nur Bilder und Wundererwartungen sind neu zu sehen und anders zu interpretieren, als ich es in meiner Kindheit noch getan habe. Zum Beispiel das Geläut von Kirchenglocken.

Lektüren II: Vom Verstummen der Glocken

In Zeiten von ununterbrochenem Autolärm, meterhohen Stereolautsprecherboxen, ohrenbetäubendem Flugzeuggetöse oder einem alle Kaufhäuser, Restaurants, Arztpraxen und Boutiquen überziehendem Klangteppich mit einsäuselnder Konsummusik ist es schwer, sich in eine vollkommen andere akustische Welt hineinzuversetzen. In eine Welt, in der die Stille nur durch die vielfältigen Modulationen der menschlichen Stimme, die Laute der Tiere und durch den Klang von Kirchturmglocken unterbrochen wurde. Man muss schon auf dem Lande aufgewachsen sein oder heute noch in einem kleinen Dorf leben, um überhaupt eine sinnliche Vorstellung davon zu besitzen, welche Bedeutung das Läuten von Kirchenglocken haben kann. Vielleicht ist die Studie des französischen Historikers Alain Corbin über die Sprache der Glocken (Corbin 1995) tatsächlich nur für einen Kreis von Lesern interessant, aus deren Leben der Glockenklang nicht wegzudenken ist. „Die ländlichen Glockengeläute des 19. Jahrhunderts, heute ein Klang aus einer anderen Zeit, wurden gehört und nach einem Affektsystem bewertet, das es heute nicht mehr gibt. Sie zeugten von einer anderen Beziehung zur Welt und zum Heiligen, von einer anderen Art des Menschen, sich in Zeit und Raum einzufügen.“
Diese heute verschwundenen Formen kollektiver Identitätsfindung durch das Hören der von Glocken regelmäßig übermittelten akustischen Signale hat Corbin erforscht. Im Kampf um das Glockengeläut, in der Verteidigung der Glocke als dem Symbol für eine dem weltlichen, aufgeklärten Zeitverständnis entgegengesetztes sakrale Zeitstruktur sieht Corbin den widerspruchsvollen Prozess der Modernisierung im christlich geprägten Europa verdichtet. Letztlich hat sich dieser Prozess, wenn auch nicht widerstandslos, historisch durchgesetzt. Gegen die beharrenden Emotionen einer vormodern geprägten Landbevölkerung beharrte der moderne Bürger auf sein Recht, ungestört vom „klerikalen Klangimperialismus“, seinen Geschäften nachgehen zu können. Das bürgerliche Individuum empfindet zunehmend nur noch als Lärm, was früheren Generationen noch einen sinnlichen Genus bereitete. Nur als Folklore oder akustische Stimulans in sentimentalen Stunden zum Jahresende sind Glocken heute noch erwünscht. Der Tag und das Gefühlsleben in unserer Zeit werden längst von anderen Signalen und Lärmquellen bestimmt.
Man kann die detaillierte Recherche von Corbin über die Sprache der Glocken aber auch anders interpretieren. Corbins Arbeit, so abgelegen sie auf den ersten Blick erscheint, führt mitten hinein in eine höchst aktuelle Auseinandersetzung um unseren Umgang mit Lebenszeit und Strukturierung eines fremdbestimmten Alltags. Sich zu erinnern, dass einmal andere Prioritäten und Werte den Zeitablauf des Alltags der Menschen bestimmten, ist mehr als nur Nostalgie. Wir entdecken heute vielleicht empfindsamer als noch in den Hochzeiten der Moderne, dass die „Entzauberung der Welt“, die Durchsetzung eines rationalisierten, radikal entsakralisierten Alltags auch mit Verlusten bezahlt werden musste.

Lektüren III: Vom Verschwinden des Todes

Die größte Unsicherheit erlebe ich vielleicht im Umgang der Endlichkeit und dem Tod. Gianni Vattimo, der sich unter den zeitgenössischen linken Philosophen vielleicht am intensivsten mit der Wiederkehr des Religiösen in unserer gegenwärtigen Erfahrung auseinandergesetzt hat (Vattimo 1977), „schämt“ sich nicht zu sagen, dass die Erfahrung des Todes der stärkste Anstoß gewesen ist, sich mit der wiedererwachten (eigenen) Religiosität zu beschäftigen. „Die Erfahrung des Todes geliebter Menschen, von denen ich dachte, ich würde ein viel längeres Stück Weges mit ihnen gemeinsam gehen.“ Selbstverständlich bedarf es keiner religiösen Formen und Symbole, um in würdevoller Art von nahen und geliebten Menschen Abschied zu nehmen. Aber allzu oft ist man auf den Friedhöfen oder in den Krematorien mit einer großen Sprach- und Hilflosigkeit konfrontiert, für die religiöse Gemeinschaften wenigstens einen zeremoniellen Trost schaffen können.
Vielleicht werden wir der Ambivalenz von Moderne und Aufklärung nirgendwo so deutlich gewahr wie im Umgang mit dem Sterben und dem Tod. Der Moderne verdanken wir viel, aber auf der Suche nach der Gewalt des Tode angemessene Rite de passage lässt sie uns im Stich. Entstammen nicht alle großen Todesrituale Zeiten und Kulturen, die weit vor jeder Berührung durch die moderne Welt gestanden haben? Wie unendlich reicher und würdevoller als unsere kargen, hilflosen Abschiedszeremonien sind etwa die Todeskulte untergegangener Stammesvölker, von denen uns in den Studien der Ethnologen erzählt wird. Noch habe ich den Pfarrer mit seinen Ministranten vor Augen, die zu Fuß durch die Kleinstadt zur Spendung der letzten Sakramente schritten, inmitten des täglichen Geschäftstrubels. Dann wurden Taxis gemietet und das Denken an den Sterbenden beschränkte sich auf den kleinen Kreis der Angehörigen. Der Tod verschwand hinter zugezogenen Gardinen, später hinter den Türen der Klinik. Bis vor wenigen Jahren zog jeder Beerdigungszug durch die Stadt zum Friedhof. „Der Tod eines jeden war auch ein öffentliches Ereignis, das die gesamte Gesellschaft im doppelten Sinne, wörtlich und übertragen, bewegte: nicht nur ein einzelner war dahingegangen, sondern die Gemeinschaft als ganze war getroffen und musste nun ihre Wunde heilen.“ (Philippe Aries). Während in der Philosophie und Theologie der Tod selbstverständlich zu den zentralen Themen diskursiver Verständigung gehört, haben die Historiker und Sozialwissenschaftler ihn erst relativ spät als Forschungsthema entdeckt. In der neueren Geschichtswissenschaft hat die Öffnung zur Erforschung des Alltags auch die Schichten freigelegt, die bislang den Tod überdeckten. Hier sind insbesondere die Studien von Philippe Aries über die Geschichte des Todes zu nennen, in denen er den Prozess des allmählichen Verdrängens des Todes und der Toten aus der abendländischen Zivilisation nachzeichnet. Und besonders Norbert Elias ist es zu verdanken, dass heute auch in den Sozialwissenschaften eine stärkere Beschäftigung mit der Verdrängung des Todes aus der Gesellschaft zu registrieren ist. Mit großer intellektueller Feinfühligkeit hatte sich Elias in seiner kleinen Studie über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen (Elias 1981) mit der Entkollektivierung und Tabuiserung des Sterbens in unserer Zivilisation auseinandergesetzt.
Ist es ein Zufall, dass mit Aries und Elias zwei im herrschenden Wissenschaftsbetrieb ihrer Zeit nur zögerlich akzeptierte Intellektuelle so intensiv über die „letzte Stunde, die keine Schwester mehr kennt“ (Peter Szondi) nachgedacht haben? In der Mühle des Betriebes und der Jagd nach Reputation scheint der Tod kein Thema zu sein. Außenseiter und Verdrängte spüren dieses geschäftig überspielte Schweigen vielleicht besonders schmerzhaft.

Lektüren IV: Ambiva­lenzen der Aufklärung

„Allenthalben“, so schreibt Richard van Dülmen an einer entlegenen Stelle im Anmerkungsteil seiner Studie über Religion, Magie, Aufklärung (van Dülmen 1994), „wird mittlerweile zwar von der Ambivalenz der Aufklärung gesprochen, aber es fehlt bisher jeder Ansatz einer größeren Darstellung der Aufklärung, die das Problem der Grenze und Zwiespältigkeit systematisch einbezieht und nicht blauäugig Aufklärungskritik mit Gegenaufklärung verwechselt. Gerade heute ist eine kritische Aufarbeitung der Aufklärung stärker denn je nötig.“
Es ist das Verdienst von Richard van Dülmen und der mit ähnlichen methodischen Ansätzen forschenden Historikerinnen und Historiker, meinen Blick für diese Ambivalenz von Aufklärung und Moderne geschärft zu haben. Wenn sich van Dülmen etwa ausführlich mit Formen der Volksfrömmigkeit bis hin zu magischen Glaubensriten beschäftigt, dann geht es eben nicht, wie es Kritiker dieser Forschungsrichtung innerhalb der Geschichtswissenschaft gerne unterstellen, um eine nostalgische, naive, ganz und gar unkritische Erinnerung an vormoderne Weltbilder.
Wir lernen durch diesen neuen historischen Blick vielmehr zu begreifen, wie die Menschen die Welt sahen und ihrem Leben ein Sinn gaben vor der, wie van Dülmen sagt, „Entzauberung der Welt durch die Herrschaft der rationalen Vernunft“. So gewinnt auch die Untersuchung der uns aufgeklärten Menschen heute so fremden Formen von Heiligenverehrung, Wunderglaube, Wallfahrten oder des Votivbildkultes einen neuen aufklärenden Wert.
Letztlich hat sich gegen Volksreligiosität, Magie und Aberglauben jene Aufklärung und Rationalität durchgesetzt, deren Errungenschaften wir heute zu Recht verteidigen. Zu den Schlüsselmedien der Aufklärung wurden Schule und die moderne Wissenschaft. Richard van Dülmen zeichnet diese Entwicklung von dem reformatorischen Aufbruch etwa ab Mitte des 16. Jahrhunderts über die Zeit der Gegenreformation mit ihrem teils geförderten, teils bekämpften Aufblühen von Volksreligion und Magie bis hin zur Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach. Ähnliches können wir auch in unzähligen anderen Studien über diese Zeit lesen.
Spannend und vielleicht auch provokativ wird die Arbeit von van Dülmen aber immer da, wo sie uns zögern lässt, die Aufklärung und den Prozess der Modernisierung über jeden Zweifel erhaben als einen linearen Fortschritt zu interpretieren, in dessen Verlauf alle Formen von Religiosität und Irrationalität wie reife Früchte von den Bäumen der Erkenntnis fallen.
„Jede Aufklärung“, zitiert van Dülmen einen Text aus dem Jahre 1792, „die nicht, um das wenigste zu sagen, gleichen Schritt hält mit der zeitlichen und ewigen Glückseligkeit des Menschen ist verdächtig; jede Aufklärung, die dem Menschen das nimmt, was er zu Trost, Licht, Stab und Ruhe in dem jetzigen Erziehungsstand dieses Erdenlebens braucht, oder ihm mehr geben will, als er nach seinen Geistes- und Verstandeskräften zu gebrauchen, zu benutzen und zu verwalten vermag, ist Täuschung, Betrug, Schwärmerei, Treulosigkeit am Menschen…Die Wahrheit liegt in der Mitte; wohl dem, der diesen Weg findet, Segen dem, der ihn wahr, richtig, deutlich bezeichnet.“
Sich aus dem Wurzelwerk und Gestrüpp eines vor-modernen Katholizismus zu befreien, wie ich ihn noch in der Südoldenburger Provinz der 1950er, 1960er Jahre erlebt habe, bleibt ein schwieriges Unterfangen. Wenn man den Menschen „Trost, Licht, Stab und Ruhe“ nimmt, weil sie der Aufklärung im Wege stehen, muss man ihnen auch eine sie überzeugende Alternative angeben. Doch diese zu formulieren, ist nicht so leicht wie ich mir das einmal vorgestellt habe. „Lange Zeit bin ich früh aufgestanden; um – noch vor der Schule, vor der Büroarbeit, vor den Vorlesungen der Universität – zur Messe zu gehen.“ (Vattimo 1977: 7) So wie für Gianni Vattimo gehört auch für mich dieses tägliche religiöse Ritual längst zu den tempi passati. Ein Gewinn? Ein Verlust?
 
 
Literatur  

Corbin, Alain 1995: Die Sprache der Glocken, Frankfurt/Main
van Dülmen, Richard 1994: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Band 3: Religion, Magie, Aufklärung. 16.-18. Jahrhundert, München
Elias, Norbert 1981: Über die Einsamkeit der Sterbenden, Frankfurt/Main
Habermas, Rebekka 1991: Wallfahrt und Aufruhr, Frankfurt/Main
Vattimo, Gianni 1977: Glauben-Philosophieren, Stuttgart

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