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Widerstand und Wider­stands­recht. Replik und Frage an Fritz Bauer

vorgängevorgänge 1-196901/1970Seite 27 - 28

aus: vorgänge 1/1969, S. 27 – 28

Fritz Bauer hat mit seiner letzten Rede am 21. Juni 1968 in München (abgedruckt in „Vorgänge” 8—9/68) eine aufrüttelnde, überaus wertvolle und gediegene Wegmarkierung gesetzt. Er stellt uns jenseits aller fragenden, um eine Antwort oft verlegenen Rechtswissenschaft den „Widerstand” als ein pädagogisches Leitbild — mehr ein pädagogisches denn ein juristisches — dar, das unser persönliches Engagement fordert. Und wenn wir nicht schon so dächten, — Bauer wäre bei uns ein brillanter Anwalt seiner Sache.
Daß nun Fritz Bauer nicht mehr unter den Lebenden weilt, ist mir besonders schmerzlich, weil ich das dringende Verlangen fühle, mich mit ihm über die Auswirkung seiner — unserer Gedanken in der politischen Gegegenwart eindringlich zu unterhalten. Ich bin restlos einer Meinung mit ihm, daß das Widerstandsrecht ein übergesetzliches Recht eines Menschen oder eines Volkes ist, — durch die Jahrtausende hin, und daß es auch heute noch unbedingte Gültigkeit hat.
Ich selber war Nationalsozialist. Bauer wußte es. Ich habe mich unter diesem Aspekt über andere Dinge mit ihm ausgesprochen. Aber im Hintergrund stand schon damals die Frage, die ich nun leider nicht mehr mit ihm selbst behandeln kann. Ich hoffe, daß ein anderer an seine Stelle tritt und die notwendige und nützliche Diskussion fortsetzt; denn so klar die Grundlinien erscheinen, — der Teufel sitzt im Detail. Und wenn wir das Problem auch nicht lösen, verkriechen sollten wir uns vor ihm nicht; das, so meine ich, würde auch Fritz Bauer sagen.
Ich war eben zwanzig Jahre alt geworden, als ich 1929 in die NSDAP eintrat. Man wird mir glauben müssen, daß ich es nicht tat, weil es Mode war, nicht tun Geld zu verdienen, und schon gar nicht, um einem Tyrannen zu huldigen. Wenn ich damals Hitler Gefolgschaft und Treue versprach (ohne äußere Formalität, nur durch meinen papierenen Beitritt zur Partei), so geschah das aus eben den Motiven, die hier von Bauer angesprochen werden und mit denen meine ganze damalige seelische Verfassung wieder vor mir aufsteht:
… Wenn unerträglich wird die Last, greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ewgen Rechte …Ich entschloß mich also zum Widerstand. Und wenn ich dabei dem Prinzip der gewählten Diktatur (nicht der usurpierten Gewalt!) meinen Tribut entrichtete, dann geschah das nicht aus grundsätzlicher Ablehnung der Demokratie, sondern aus dem Gefühl der Notwehr, wie ich denn auch aus der Schule wußte, daß dies Prinzip bereits im republikanischen Rom Geltung hatte.
Ich könnte viel berichten, um diese meine damalige Situation näher zu erläutern, jedoch würde es den Rahmen einer Erwiderung sprengen. Es genügt, eines anzuführen, und zwar die Tatsache, daß der Weimarer Staat ein Zerrbild der Demokratie allein darum sein mußte, weil er auf der mit Erpressung und Drohung bewirkten Unterschrift der deutschen Regierung unter das „Alleinschuld“Bekenntnis beruhte, einer Unterschrift, die zur permanenten Knebelung und Ausbeutung unseres Volkes führen sollte und führte. (Ich halte diesen Vorgang übrigens für das moralisch verwerflichste Geschehen seit den Hexenprozessen.) Hier, 1919, hat aber auch das deutsche Volk und seine Regierung versagt. Wie hätte die Weimarer Demokratie dagestanden, wenn sie sich in ihrer Geburtsstunde nach dem Vorbild der französischen Republik von 1870 im Widerstand bewährt hätte. „Eure Schuld und meine Tragik”, sagte Stresemann kurz vor seinem Tode (1929) einem Engländer. Aber es war nicht nur Schuld der Engländer und ihrer Mitsieger, — es war nicht minder die versäumte Pflicht. zum Widerstand, insgesamt ein furchtbares, irreparables Debakel aller verantwortlichen Demokraten jener Tage mit Wilson an der Spitze. Mir klingt es wie blutiger Hohn, wenn heute von den „golden twenties” die Rede ist. Ich habe sie nie gesehen.
Ich hatte also, wenn anders ich nicht überhaupt ohne Meinung und untätig dahinleben wollte, keine andere Wahl; denn für den Kommunismus hatte ich damals noch kein Verständnis. Ich wurde Nationalsozialist mit allen Konsequenzen. Ich war überzeugt, daß hinter der Not und dem zunehmenden Chaos eine dem Einfluß und Zugriff des demokratischen Staates entzogene internationale Machtgruppierung (das „Bank- und Börsenkapital”) die Ausbeutung der besiegten Völker plane und organisiere, — eine unsichtbare und darum besonders verabscheuenswürdige Spezies der Tyrannei! So ganz falsch war der Gedanke wohl nicht, selbst wenn Goebbels ihn als wirkungsvolle Propagandaparole handhabte. Daß Propaganda nicht unbedingt immer Wahrheit sei, war mir schon damals klar, war aber eine Sache, die nach jeder Richtung hin bedacht werden mußte. Auch menschliche Minderwertigkeiten, das wußte ich, hatte man überall in Kauf zu nehmen.
Auf jeden Fall war mein Vertrauen zur NSDAP größer als das zu den gegenläufigen Propagandaklängen. (Die Gewichte der Fakten, wie sie in jener Zeit wirkten, werden, das ist außer Zweifel, in der gegenwärtigen Presse und Literatur zugunsten der heutigen Siegermächte tendenziös verschoben.) Für mich jedenfalls als „Nazi” von 1929 und 1933 war der Fall des Widerstandes gegeben. Ich meldete meine Menschenrechte an.
Mit meiner Hilfe kam Hitler an die Macht. Ich hätte erkennen müssen, daß er ein Tyrann war, und hätte Widerstand leisten sollen? O ja, es gab Momente, wo ich nahe daran war: Die Röhm-Affäre, und die heute so genannte „Kristallnacht”. Letztere vor allem hat mich in eine erste Vertrauenskrise geführt.
Ja, „wenn eine lange Reihe von Mißbräuchen und Übergriffen die Absicht erkennen läßt, die Bürger absolutem Despotismus zu unterwerfen” (Unabhängigkeitserklärung der USA), — wenn es so gewesen wäre, — aber für mich und die überwiegende Mehrheit der Deutschen war es nicht so. Ich erinnere mich sehr lebhaft der grotesken Tatsache, wie meine Beklemmungen angesichts der „Machtüberhandnahme” im Frühling 1933 durch die erklärte Zustimmung der Kirche im Hitler-Konkordat sich lösten, trotz oder vielleicht gerade wegen meiner sonstigen traditionellen Vorurteile gegenüber dem Katholizismus. Vor allem aber meine Hemmungen bezüglich der brutalen Maßnahmen gegen die Juden wurden immer wieder beschwichtigt durch Äußerungen aus den Reihen der katholischen Kirche und der sogenannten „Bekennenden Kirche”.
Wohin ich blickte, das Positive überwog in meinen Augen. Das Negative reichte nicht zum Widerstand. Man denke: Hitler hatte das Sudetenland befreit, — durch Verhandlungen, — es fiel kein Schuß! Nicht er war der erste, der etwa „mit brutaler Waffengewalt” dem Volk dort seinen tyrannischen Willen aufzwang, ― die ersten waren vielmehr, genau zwanzig Jahre früher, im Dezember 1918, die tschechischen Regimenter gewesen, die den erklärten Volkswillen der deutschen Österreicher und das soeben pathetisch verkündete „Selbstbestimmungsrecht der Völkerh mit Militärstiefeln traten, und zwar nach Abschluß des Waffenstillstands, im Namen Wilsons, im Namen Englands, Frankreichs, Italiens und der geschändeten Demokratie. 54 unbewaffnete Demonstranten wurden damals von tschechischem Militär erschossen. „Mit Rebellen verhandeln wir nichth, erklärte man dem deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten Josef Seliger.
Und Hitlers Einmarsch 1939 in Prag? Er ging mir „auf die Nieren”. Nicht wegen vieler Toter, denn die gab es nicht, — auch nicht wegen eines dramatischen Widerstandes der Mehrheit der Bevölkerung, denn den gab es auch nicht. Mir ging es um das echte, ehrliche Selbstbestimmungsrecht der Völker. Ich beruhigte mich schließlich bei Goebbels‘ Propagandaargumenten, die genau denen entsprachen, mit denen heute die Russen in Prag und die Amerikaner in Vietnam auftreten. Immerhin ist der Unterschied frappierend, wenn man den Widerstand der Bevölkerung im Prag von damals und heute vergleicht. Aber davon schreiben die Zeitungen nicht.
Dann kam der Krieg. Nur die notwendige Beschränkung der Diskussion hindert mich, auch hierüber zu sprechen.
Und wie steht es heute mit dem Recht der Südtiroler zu Ungehorsam und Widerstand und Gewaltakten? Darf nicht auch hier Jeffersons Brief gelten, daß ,;der Baum der Freiheit mit dem Blut der Patrioten und der Tyrannen aufgefrischt werden” muß? Vertreten nicht die Widerstandskämpfer dort, wie vor 1918 die Italiener in ihrem Land, das alte „gute Recht”, das nach ihrer nicht unbegründeten Auffassung von Staats wegen mit Gesetzen planmäßig und systematisch gebeugt wird? Darüber möchte ich wohl gern alternierende Ansichten aus der HU hören. ,;Frankreich hatte seine Revolution“, schreibt Fritz Bauer. „Es bekannte sich zu den Menschenrechten. Hierzu wurde sofort das Recht auf résistance gezählt. Anders in Deutschland. Die deutschen Philosophen machten im Kielwasser des autoritären Staates dem Widerstandsrecht der Jahrtausende den Garaus.h Und dann folgt ein peinliches Zitat von Kant.
Ich will Frankreich nichts von seinem Ruhm abschneiden bezüglich der Theorie der Menschenrechte, kann aber nicht umhin, darauf hinzuweisen, daß mit der Verkündigung der Theorie des neuen Evangeliums alsbald der Kreuzzug anhob. Auch muß ich sagen, daß eben dieses revolutionäre Frankreich zugleich mit den „Menschenrechten” die Anbetung der eigenen Nation nicht nur praktizierte, sondern durch Parlamentsbeschluß zum Staatsgesetz erhob. Niemals seit Richelieu und dem Sonnenkönig hat der französische Imperialismus und Weltbeglückungswahn solche blutigen Blüten getrieben wie im Zeichen der hehren Revolution mit ihrer Theorie der Menschenrechte. Das waren — man darf es nicht übersehen — die Früchte der resistance.
„Frankreich hatte seine Revolution”, sagt Bauer, „es bekannte sich zu den Menschenrechten.” Deutschland aber, so meine ich, und zwar das Volk, nicht die Fürsten      — hatte seine Erhebung gegen die französische Vergewaltigung, die mit Gloire und Patrie die Welt für die französische Freiheit erobern wollte. Es war der Widerstand gegen die Einverleibung in jenen Staat, der noch heute den großen Empereur zu seinen bedeutendsten Männern zählt, der sich in seinen Spuren mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit an die Spitze aller imperialistischen Mächte zu setzen bemühte und auch heute nur von den noch größeren und brutaleren Vorkämpfern dieser Ideale in Washington und Moskau an weiterer Entfaltung gehindert wird. — So kann man die Dinge auch sehen.
In der Bereitwilligkeit gegenwärtiger Deutscher zur Annahme einer den elementarsten deutschen und damit europäischen Interessen widerstrebenden Geschichtsdeutung kann ich nur einen Ausdruck jener kritiklosen Unterwürfigkeitstendenzen sehen, die Bauer mit Recht tadelt. Ich jedenfalls werde unter Aufbietung meines Verstandes (sapere aude!) und meiner Lebenskraft intensiven Widerstand und Ungehorsam gegen solche Repression zeigen. Auf Grund nicht unerheblicher Sachkenntnis bin ich der Überzeugung, daß die deutsche Geschichte spätestens seit Luther mit guten Gründen als ein immer neu durch raffinierte Unterdrückung, Ausbeutung und gesetzliche Fesselung erzwungener Ungehorsam und Widerstand gegen vielfach größere und mächtigere Gewalten begriffen werden kann, gegen Nachbarn, die es stets vorzüglich verstanden, ihre Macht und Finanzinteressen mit idealen Theorien wie Christentum, Menschenrecht und Sozialismus in Gleichklang zu bringen.
Es ist doch wohl zu sehr vereinfacht, dies neue Weltbild von dem Frankreich der hehren Menschenrechte und dem Deutschland der unterwürfigen Philosophen.
Einen faden Geschmack im Munde empfindet man vollends, wenn man einen späten Schüler der hochmoralischen französischen Revolution, Robert Kennedy, „unser Recht auf die moralische Führerschaft auf diesem Planeten” verkünden hört. Dabei ist Kennedy kein romantischer Poet aus dem vorigen Jahrhundert wie Geibel, nach dessen Worten „am deutschen Wesen die Welt genesen” sollte. Wir Deutschen sind gewiß keine Engel, aber sind es „die Franzosen”, „die Amerikaner”?
Ich. bin Schleswig-Holsteiner¹ und weiß aus dem Leben meiner Vorväter, denen niemand eine Fehlprogrammierung durch den verderblichen preußischen Kommiß nachsagen kann, nur zu gut, wie sich ein wildgewordener demokratischer Nationalismus höhnisch über uns erhob, unsere Autonomie scheibchenweise planmäßig abbaute, uns eine fremde Sprache und eine fremde Fahne aufnötigte oder aufnötigen wollte und das überkommene Recht autoritär beseitigte. Meine Landsleute taten, was Bauer verlangt. Sie leisteten Widerstand, und 1848, angeregt durch die neue Revolution in Paris, erhoben sie sich gegen die. staatliche Autorität.
Was war die Antwort der nordischen Demokraten? Militär! Besetzung! Kriegsrecht! Gewalt!. Trotz vorangegangenen eigenen Rechtsbruches beriefen sie sich auf die schändlichen Prinzipien, die noch Fritz Bauer als Student an der Münchner Universität hörte und gelehrt bekam: „Der Staat ist rechtlich durch keine Schranke gebunden. Selbst brutale Gewaltakte würden, wenn sie in der Form des Gesetzes auftreten, für Gerichte, Verwaltungsbehörden, Untertanen verbindliche sein.”
„Die Deutschen”, so Bauer, „waren grundsätzlich gesetzesgläubig”. Waren es wirklich nur die Deutschen? Hier stimmt doch etwas nicht in seiner Rechnung. Denn die ersten Besatzer hier waren demokratische Dänen, nicht Österreicher und Preußen. Die ersten Heimatvertriebenen in diesem Land durch 14 traurige Jahre waren demokratische Deutsche, nicht aber Dänen. ―
Ich bin nicht von ungefähr Mitglied der Humanistischen Union, bin es nicht nur, weil sie gegen klerikale Anmaßungen und unhumane Prinzipien auftritt, — ich stehe vielmehr ganz allgemein zu ihren Grundsätzen, und zwar als Einzelner, als Mensch, als Glied meiner Familie, meines Volkes und der Menschheit. Daß ich auch die Interessen meines besiegten und durch eigene und fremde Schuld schwer geprüften Volkes vertrete, soll man mir nicht verwehren. Daß ich es tue, und daß ich es tun darf, rechne ich zu dem „übergesetzlichen Recht eines Menschen und eines Volkes”, das „außerhalb jeder Diskussion” stand und noch steht.
Eine peinliche Frage aber will mir bei aller Begeisterung für den Widerstand nicht aus dem Sinn: Wenn das Recht zum Widerstand die Mauer der Gesetze einreißt, wo ist dann Rettung vor dem Übermaß der Willkür und des Unrechts? Ob französische, ob russische, ob nationalsozialistische Revolution, — sie alle gipfelten in Tyrannei, Blutrausch und Imperialismus. — Ich bin freilich 59 Jahre alt. Die Jugend mag weniger Skrupel empfinden. Auch ich war einmal 20.

Fritz Castagne, Kiel

1) Man mißverstehe dies nicht in dem Sinne, als wollte ich alte Wunden, die heute vernarbt sind, neu aufreißen. Ich spreche hier ausschließlich von glücklicherweise überwundenen Gegensätzen.

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