Themen / Sozialpolitik

Gesund­heits­refom - ein Zwischen­ruf. Warum die Selbst­be­tei­li­gung sozial unver­träg­lich ist

30. September 2003

aus: vorgänge Nr. 163 (Heft 3/2003), S. 124/125

Das Gesundheitswesen ist in einem modernen „Sozialstaat“ bekanntermaßen eines der am schwierigsten zu beherrschenden Ressorts. Wenn man als Sozialmediziner die letzten vierzig Jahre mit all ihren Bemühungen, Reformversuchen und Fehlschlägen, die stets unter den massivsten Lobbyeinwirkungen erfolgten, Revue passieren lässt, so kann man nur noch frustriert abwinken. Keiner der verschiedenen Regierungen, die sich an einer Gesundheitsreform versucht haben, ist je ein akzeptabler Durchbruch gelungen.
Der bereits in der Vergangenheit häufig strapazierte und partiell umgesetzte Vorschlag einer Selbstbeteiligung der gesetzlich Versicherten hat nie eine Entlastung gebracht, sondern sogar eher einen Anstieg der Ausgaben für Pharmazeutik und Medizintechnik bewirkt.

Die sozialen Folgen waren aber stets erheblich. Ist denn für einen Menschen, der ohne Rücklagen von Lohnzahlung zu Lohnzahlung unter größter Einschränkung versucht, mit seinen paar Euro zu überleben, die Beitragszahlung zur Kranken-, Renten-, Unfall- und Pflegeversicherung nicht „Selbstbeteiligung“ genug? Allein schon die Rezeptgebühr ist unsozial!

Noch dazu werden den Bürgern nach wie vor für ihre Gesundheit abträgliche Angebote systematisch schmackhaft gemacht. Der Medizinprofessor Hans Schäfer schrieb schon 1976: „Überkonsum an Kalorien und Genussgiften, insbesondere das Rauchen […]sind nachweislich die verbreitetesten Ursachen unserer Krankheiten.“ Angemerkt werden muss allerdings, dass durch „Konsumverzicht“ keine Besserung der finanziellen Misere der Krankenversicherung zu erwarten ist – dann brechen nämlich erstmal die Steuereinnahmen weg. Hier muss auf einen langfristigen und nachhaltigen Bewusstseinswandel gewartet werden.

Der Sozialstaat beruht auf der solidarischen Leistungsbereitschaft aller seiner Bürger. Deshalb ist der Abbau von Sozialleistungen und der Ruf nach „Selbstbeteiligung“ der gesetzlich Versicherten kein taugliches Mittel zur Kostendämpfung. Hier möchte ich eine Idee wiederholen, die ich schon im Jahr 1983 in den vorgängen vorgestellt hatte: „Wie wäre es denn, wenn man den Gedanken der Selbstbeteiligung so nachdrücklich, wie er immer verfochten wird, auf das Verursacherprinzip anwenden würde. Wenn also der Gesetzgeber jedem Hersteller von Stoffen, die sich in irgendeiner Form umwelt- und damit auch gesundheitsschädigend auswirken können, die Auflage verordnen würde (natürlich unter angemessener Strafandrohung bei Nichtbeachtung), in seinen Etat einzuplanen bzw. von seinem Umsatz abzuführen einen gewissen auszuhandelnden Prozentsatz an Finanzvolumen, der zweckgebunden dem Gesundheitswesen zur Aufklärung, Verhütung, Behandlung und Rehabilitation zur Verfügung steht.“ (vorgänge 61, Heft 1/1983: 5) Ich bin überzeugt davon, dass unser Gesundheitswesen und der Sozialstaat mit einem Schlag saniert wären.

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