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Ein Urteil, das § 217 StGB ad absurdum führt

17. Mai 2018

Rosemarie Will

in: vorgänge Nr. 221/222 (1-2/2018), S. 149-152

Am 8. November 2017 sprach die 19. Große Strafkammer des Landgerichts Hamburg den Mediziner Dr. Johann Spittler vom Vorwurf der versuchten Tötung auf Verlangen durch Unterlassen aus rechtlichen Gründen frei (AZ 619 KLs 7/16, 619 KLs 7/16 -3490 Js 76/12). Der Mediziner hatte 2012 – deutlich vor dem Inkrafttreten des Verbots der Suizidbeihilfe (§217 StGB) – zwei sterbewillige Frauen im Auftrag des Vereins Sterbehilfe Deutschland begutachtet, die Freiverantwortlichkeit ihres Suizidwunsches bestätigt und schließlich deren Freitod beigewohnt. Welchen Stellenwert diese Entscheidung trotz der mittlerweile geänderten Rechtslage dennoch hat, erläutert Rosemarie Will in der folgenden Urteilsbesprechung.

Bei unserem Kampf gegen die Einführung von § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe unter Strafe stellt, haben wir stets betont, dass ein rechtmäßiges Handeln, das dem Gebrauch grundrechtlicher Freiheiten entspricht, nicht allein deshalb vom Gesetzgeber verboten werden darf, weil es organisiert und wiederholt durchgeführt wird. [1] In unseren Stellungnahmen [2] zu den anhängigen Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB haben wir dies detailliert ausgeführt.

Der § 217 StGB stellt nicht etwa die Geschäftemacherei bei der Suizidassistenz unter Strafe sondern die organisierte, wiederholte und damit professionelle Suizidassistenz. Er zielt auf Sterbehilfevereine, deren Tätigkeit vor allem verboten werden soll. Der wichtigste deutsche Sterbehilfeverein (Sterbehilfe Deutschland e.V.) musste deshalb nach Inkrafttreten von § 217 StGB seine Tätigkeit einstellen bzw. in die Schweiz verlagern.

Angesichts dessen kam der Anklage gegen den langjährigen Gutachter des Vereins, Dr. Johann Spittler, grundlegende Bedeutung zu. Spittler hat als approbierter Facharzt für Neurologie und Psychiatrie seit 2003 regelmäßig neurologische und psychiatrische Gutachten über die Urteils-und Einsichtsfähigkeit von Suizidwilligen erstellt, die von der Sterbehilfeorganisation für die Begleitung eines Suizids vorausgesetzt werden. [3] So geschehen auch im Fall der 85-jährigen G.W. und der 81-jährigen I.M. Die Staatsanwaltschaft warf Spittler nach dem begleiteten Suizid vor:

Der Angeklagte habe zu Unrecht und ohne Tatsachenbezug – mithin „falsch“  – in neurologischen und psychiatrischen Gutachten deren jeweiligen Sterbeentschluss als frei von Mängeln und „wohlerwogen“ diagnostiziert, obwohl keine vollständige Aufklärung und Beratung über Lebensalternativen erfolgt sei. Er und Dr. K. hätten den Irrtum der Frauen ausgenutzt und sie durch die Bereitstellung der tödlichen Medikamente getötet, um in Deutschland einen Präzedenzfall zu schaffen.“ (Rdnr. 5)

Spittler wurde zunächst 2014 wegen gemeinschaftlichen Totschlags in mittelbarer Täterschaft in zwei tateinheitlichen Fällen zusammen mit dem Vereinsvorsitzenden  Dr. Roger Kusch angeklagt. Das Hamburger Landgericht ließ zunächst diese Anklage nicht zur Hauptverhandlung zu. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin wurde jedoch das Hauptverfahren gegen Spittler wegen versuchter Tötung auf Verlangen durch Unterlassen sowie wegen unerlaubter Überlassung von Betäubungsmitteln eröffnet. Am 8.11.2017 erfolgte der Freispruch. Das Gericht kam zu der Überzeugung, dass beide Frauen bei ihrem Suizid objektiv wie subjektiv die alleinige Tatherrschaft über ihren Tod hatten. Daher schieden Totschlag in mittelbarer Täterschaft, Tötung auf Verlangen, Tötung auf Verlangen durch Unterlassen, versuchte Tötung auf Verlangen durch Unterlassen und unterlassene Hilfeleistung als Strafgründe aus, und der Angeklagte war frei zu sprechen. Dabei trat das Gericht auch der seit Jahrzehnten geführten Diskussion über eine Garantenstellung von Ärzten bei der Suizidbegleitung und einer Erfolgsabwendungspflicht entgegen. Spittler hatte trotz dieser Diskussion den Mut, nach Einnahme des tödlichen Medikaments bei den Suizidentinnen zu bleiben; sie hatten ihn darum gebeten. Er hat sie – wie sie es wollten – sterben lassen, und erst dann den Vorfall gemeldet.

Über diesen Freispruch informierte die FAZ Folgetag auf Seite 1 ihrer Ausgabe, und kommentierte diesen Freispruch sofort als Rückschritt für die Bemühungen, die organisierte Sterbehilfe zu illegalisieren.

Was bedeutet diese Entschei­dung für die bürger­recht­li­chen Bemühungen um Libera­li­sie­rung und Legali­sie­rung von Sterbe­hilfe?

* Die Anklageerhebung gegen Kusch und Spittler erfolgte im Kontext des Gesetzgebungsprozesses zu § 217 StGB; zum Zeitpunkt des Freispruches im November 2017 war der § 217 StGB bereits ein Jahr in Kraft; dagegen waren in Karlsruhe bereits eine Reihe von Rechtssatzverfassungsbeschwerden erhoben worden. Das Urteil des Landgerichtes verdeutlicht paradigmatisch die Legalität des Handelns von Sterbehilfe Deutschland e.V. vor dem Inkrafttreten von § 217 StGB. Insofern zeigt das Urteil das Gegenteil dessen, was die Staatsanwaltschaft angeklagt hat: Sterbehilfe Deutschland ist kein Präzedenzfall zur Illegalität und Gefährlichkeit von Sterbehilfevereinen, sondern ein Beispiel ihrer Legalität. Die Arbeit dieses Vereins war im Gesetzgebungsverfahren einer der am meisten bemühte Gründe für die Notwendigkeit eines Verbots der organisierten Suizidbeihilfe. Das wiederholt vorgetragene Argument, dass seit der Gründung bzw. dem Tätigwerden des Vereins kein Anstieg der Suizide feststellbar sei, wurde von der Mehrheit des Bundestags ignoriert. Insofern bleibt zu hoffen, dass im verfassungsgerichtlichen Verfahren nun eine kritische Überprüfung der tragenden Gründe des Gesetzgebers von § 217 StGB stattfindet.

* Das Urteil wertet nicht nur die Unterstützung des freiverantwortlichen Doppelsuizids als legales Handeln der beteiligten Organisation und des Arztes, sondern es zeigt auch, dass es gute Gründe für eine professionelle ärztliche Hilfe bei der Suizidbegleitung gibt. Von daher ist es ein Plädoyer gegen die Strafbarkeit organisierter Suizidassistenz, wie sie § 217 StGB vorsieht. Es macht klar, dass die Straffreiheit naher Angehöriger bei der Suizidassistenz im Einzelfall nicht ausreicht, um angemessene Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Der Einwand, dass organisierte Suizidassistenz – anders als die Hilfestellung naher Angehöriger – von Eigeninteressen geprägt sein kann (die eine abstrakte Gefährdung heraufbeschwören), widerlegt das Urteil für den untersuchten Fall. Die Hamburger Richter zeigten, dass der begleitende Arzt sehr viel neutraler mit den Suizidwünschen umgehen kann, als es nahe Angehörige regelmäßig tun.

* Das Urteil belegt zudem, wie wichtig eine ärztliche Suizidbegleitung ist. Dabei geht es um die Begutachtung der Freiverantwortlichkeit des Suizidwunsches, aber auch um das Aufzeigen von medizinischen Handlungsalternativen und die Beratung für die richtige Medikamentierung. Im verhandelten Fallgab es kein standesrechtliches Verbot der ärztlichen Hilfe zur Selbsttötung. Spittler gehört der Ärztekammer Westfalen-Lippe an, die in ihrer Berufsordnung das in der Musterordnung verankerte Verbot der Hilfe zur Selbsttötung durch Ärzte nicht übernommen hat. In der Berufsordnung von Westfalen-Lippe heißt es lediglich, Ärzte „sollen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“. Im übrigen lässt das Gericht offen, ob standesrechtliche Normen Einfluss auf die Strafbarkeit haben können.

* Das Urteil bemüht sich zudem um eine Klarstellung, dass der Arzt den Suizidenten beim unmittelbaren Sterbevorgang begleiten (also anwesend sein) darf, ohne ihn dann sofort wieder retten zu müssen. Dazu führt es eine mehr als überfällige Auseinandersetzung mit den Entscheidungen des Bundesgerichtshofes im Fall „Wittig“ (Urteil v. 4.7.1984 – 3 StR 96/84 = BGHSt 32, 367 ff.).

Ob das Urteil des Hamburger Landgerichts die demnächst anstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit von § 217 StGB beeinflusst, bleibt abzuwarten. Jedenfalls wird sich das Bundesverfassungsgericht mit diesem Urteil auseinandersetzen müssen, wenn es seinerseits überzeugen will.

Dem freigesprochenen Dr. Johann Spittler ist hier nicht nur zu seinem Freispruch zu gratulieren, sondern es ist ihm für seinen Mut und seine Beharrlichkeit zu danken. Er hat nicht nur Hilfe in der existentiellen Situation des Sterbens, sondern über viele Jahre Bürgerrechtsarbeit im besten Sinne geleistet.

ROSEMARIE WILL   Jahrgang 1949, hatte bis 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Rechtstheorie inne. Von 1993 bis 1995 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht im Dezernat von Prof. Dr. Grimm, ab 1996 für zehn Jahre Richterin am Landesverfassungsgericht Brandenburg. Rosemarie Will war von 2005 bis 2013 Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, in deren Bundesvorstand sie derzeit für bioethische Fragen zuständig ist. Sie ist Mitherausgeberin der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ und hat zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen des Rechtsstaats und des Grundrechteschutzes vorzuweisen.

Anmerkungen:

1 S. Rosemarie Will: Das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe, eine verfassungswidrige Grundrechtseinschränkung, in: Müller-Heidelberg u.a. (Hrsg.), Grundrechte-Report 2016. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Frankfurt/M. 2016, S. 48ff.; „Suizidbeihilfe – bald nur noch beschränkt?“, Schwerpunkt in vorgänge Nr. 209/210 (September 2015), darin v.a. die Beiträge von Fateh-Moghadam, Fischer, Hilgendorf, Sotiriadis und Will.

2 Rosemarie Will: Stellungnahme zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, auszugsweise in: vorgänge Nr. 215 (3/2016), S. 109 ff.

3 Zum Verfahren der Suizidbegleitung durch Sterbehilfe Deutschland vgl. die Dokumentation in vorgänge Nr. 209/210, S. 195ff.

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