Themen / Bioethik

B. Der Stil des Urteils

02. Juli 1993

aus: Ulrich Vultejus & Ursula Neumann, Im Namen des Volkes. Unfreundliche Bemerkungen zum § 218-Urteil von Karlsruhe. HU-Schriften Nr. 19, München 1993

Niemand braucht sich zu genieren, das Urteil nicht verstanden zu haben. Er kann sich als Teil der Mehrheit des Volkes fühlen, in dessen Namen das Urteil gefällt worden ist.

Die Laien mögen entschuldigend darauf hinweisen, daß sie keine Juristen und deshalb nicht verpflichtet seien, das Urteil zu verstehen. Sie werden vielleicht keck darauf hinweisen, daß sie mit Fleiß im Grundgesetz („das Grundgesetz unter dem Arm“) gelesen hätten, Aussagen zur Würde des Menschen, dem Recht auf Selbstentfaltung und auf Leben gefunden hätten, aber nichts vom Bundesstatistikgesetz, dessen Änderung nun auch verfassungswidrig sei. Sie seien, so könnten sie sagen, politisch durchaus interessiert und hätten dennoch niemals gehört, die Bundesstatistik solle zum neuen Staatsziel erklärt werden.

Die Juristen aber werden sich vehement zur Wehr setzen. Ihre Wissenschaft sei der Logik durchaus verpflichtet. Klarheit und nicht Unverständlichkeit sei ein Ziel ihres Metiers, seitdem Justinian in Ostrom das Römische Recht kodifizierte. Nur im mittelalterlichen Sachsenspiegel des Eike von Repgow finde man eine poetische Note.
Ich muß leider zugeben, daß das offensichtlich aus sehr unter-schiedlichen Federn stammende Urteil nur schwer verständlich ist. Dunkle Rede ist das Kennzeichen so manchen verehrten Textes. Ich warne aber davor, aus der schweren Verständlichkeit auf einen einfachen Sinn der Verfasser zu schließen. Sie haben es mit Meisterschaft verstanden, zu verdunkeln, daß das erste Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Schwangerschaftsabbruch aus ihrer heutigen Sicht falsch war. Ihnen ist es auch gelungen, zu verdecken, daß sie weit über die ihnen von der Verfassung gezogenen Grenze, die Verfassungsmäßigkeit beschlossener Gesetze zu prüfen, hinausgegangen sind und mit der Autorität des Gerichtes Vorgaben für ein neues Gesetz gegeben haben, die ihnen nicht zustehen. Sie können sich heimlich darüber freuen, daß ihr Urteil landauf, landab mit Eifer studiert wird, als ob die Vorgaben verbindlich seien.

Man kann das Urteil auch freundlicher sehen. Es ist das Urteil von Verlierern, die wissen, daß sie verloren haben, deren Selbstwertgefühl es ihnen jedoch unmöglich macht, sich dies einzugestehen. Das Urteil hat im Gegensatz zum vorangegangenen Urteil die Fristenlösung gebilligt, hat vor der Wirklichkeit kapitulieren müssen. Die Seele der Urteilsverfasser schmerzt. So kann man Verständnis dafür entwickeln, daß die Richter jetzt versuchen, fehlende juristische Substanz durch ein schärferes Vokabular als in dem vorangegangenen zu ersetzen. So manche Wendung, die uns unerträglich erscheint, ist Ausdruck dieses Schmerzes. Jeder Richter weiß, daß die Wirklichkeit nur sehr begrenzt durch Urteile zu verändern ist. Ich verstehe sehr wohl, daß der hohe Rang der Verfassungsrichter dieser Erkenntnis hinderlich ist. Trotzdem: Weise Richter bescheiden sich in dieser Erkenntnis, die anderen schreiben wütend gegen die Wirklichkeit an. Richterliche Weisheit läßt sich nicht verordnen.
„Die Politik ist keine Wissenschaft, wie viele der Herrn Professoren sich einbilden, sie ist eben eine Kunst; sie ist ebensowenig eine Wissenschaft, wie das Bildhauen und das Malen.“ (Bismarck am 15. März 1884 im Deutschen Reichstag) (2)

An dieser Stelle fließen die Ströme der kommunizierenden Röhren des Staatsaufbaues wieder zusammen. Auch Gerichtsurteile sind eine Kunst, die Kunst des Möglichen. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil das Unmögliche versucht – und verloren.

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