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Wider­sprüch­li­ches aus Straßburg

11. Oktober 2011

Martin Kutscha

Neue Urteile des EGMR zum Kruzifix in Klassenzimmern und zum „Whistleblowing“. Aus: Mitteilungen Nr. 214 (3/2011), S. 12-13

Wer über den aktuellen Schutzstandard der BürgerInnenrechte informiert sein will, darf nicht nur nach Karlsruhe schauen, sondern muss seinen Blick auch über den Rhein Richtung Straßburg lenken. Die Rechtsprechung des dort residierenden Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zum Inhalt der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) prägt nämlich auch den Grundrechtsschutz in Deutschland inzwischen maßgeblich mit. Deutliches Beispiel hierfür ist die Kehrtwendung, die das deutsche Bundesverfassungsgericht in Sachen Sicherungsverwahrung vollzogen hat: Mit seinem Urteil vom 4. Mai 2011 erklärte das höchste deutsche Gericht die gesetzlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig. Es verwarf seinen früheren Standpunkt und folgte der Rechtsprechung des EGMR, der die Sicherungsverwahrung in Deutschland mit guten Gründen für unvereinbar mit der Freiheit der Person erklärt hatte.

Nicht alles, was aus Straßburg kommt, ist allerdings ein Gewinn für die BürgerInnenrechte. Dies gilt z. B. für das Urteil der Großen Kammer des EGMR vom 18. März 2011 zu den obligaten Kruzifixen in den Schulen Italiens (Lautsi u.a. ./. Italien, Beschwerde Nr. 30814/06), das die entgegengesetzte Entscheidung einer „kleinen“ Kammer des EGMR aufhob. Worum ging es? Eine Mutter und ihre zwei schulpflichtigen Söhne hatten gegen die in den Klassenräumen aller öffentlichen Schulen auf der Grundlage eines Königlichen Erlasses angebrachten Kruzifixe geklagt. Am 3. November 2009 gab eine Kammer des EGMR der beschwerdeführenden Familie Lautsi Recht: Das Anbringen religiöser Symbole in Klassenzimmern greife in das Recht der Schüler, zu glauben oder nicht zu glauben, ein und verletze dieses Recht, weil es mit der Pflicht des Staates zur Neutralität insbesondere in der Erziehung unvereinbar sei.

Ebenso wie der berühmte Kruzifix-Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 1995, der damals zum gleichen Ergebnis gelangte, löste diese Entscheidung der EGMR-Kammer einen Sturm der Entrüstung in konservativ-klerikalen Kreisen aus, diesmal in Italien. Statt die Entscheidung anzunehmen, rief die Regierung Italiens die Große Kammer des EGMR an – mit Erfolg: Anders als die Vorinstanz vermochte die Große Kammer im Anbringen von Kruzifixen in italienischen Schulen keine Verletzung der EMRK zu erblicken.

Die Begründung ist wenig überzeugend und zum Teil widersprüchlich: Zunächst verweist die Große Kammer richtig auf die Aufgabe des Staates, „die Ausübung verschiedener Religionen, Konfessionen und Glaubensüberzeugungen neutral und unparteiisch zu gewährleisten.“ Dann muss sie aber selbst einräumen, dass das Kruzifix ein religiöses Symbol ist, also keineswegs neutralen Charakter hat. Allerdings sei das Kruzifix an der Wand, so die Kammer, „ein wesentlich passives Symbol.“

Diese Feststellung offenbart ein hohes Maß an Verdrängung und Geschichtsvergessenheit: In wie vielen Fällen diente die Darstellung des leidenden Christus, seine „Passion“ nicht als Feldzeichen, das im Krieg gegen Andersgläubige – nicht nur bei den sprichwörtlichen Kreuzzügen – vorangetragen und bei der grausamen Verbrennung von „Hexen“ und „Ketzern“ zur Bekräftigung des unerbittlichen Machtanspruchs der Kirche hochgehalten wurde? Und diesem mit so viel Gewalttätigkeit und Grausamkeit (die Inquisition rühmte sich, dass bei Folter und Menschenverbrennung ja kein Blut vergossen würde!) verbundenen Symbol soll „kein Einfluss auf Schüler“ beigemessen werden können, wie die Kammer vermeint? Da ist die Position des deutschen Bundesverfassungsgerichts, der Zwang zum „Lernen unter dem Kreuz“ sei im Hinblick auf anders- oder nichtgläubige Schüler ein Verstoß gegen deren „negative“ Glaubensfreiheit sowie gegen die Neutralitätspflicht des Staates, allemal überzeugender.

Zu hoffen ist nur, dass dem Urteil des EGMR vom 21. Juli 2011 in der Sache Heinisch ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 21965/09) nicht das gleiche Schicksal widerfährt, nämlich auf Berufung der Regierung von der Großen Kammer des EGMR aufgehoben zu werden. Hier sei kurz der Sachverhalt geschildert: Die Beschwerdeführerin Heinisch war in einem Altenpflegeheim beschäftigt, dessen Trägergesellschaft überwiegend dem Land Berlin gehörte. Frau Heinisch wies die Geschäftsleitung mehrfach auf gravierende Mängel in der Altenpflege hin, die jedoch nicht abgestellt wurden. Schließlich erstattete die Beschwerdeführerin Strafanzeige wegen Betruges, weil die geschuldeten Dienstleistungen von dem Unternehmen nicht erbracht und damit auch die Patienten gefährdet würden; das Strafverfahren wurde indessen eingestellt. Als Frau Heinisch mit Unterstützung der Gewerkschaft ver.di den Fall an die Öffentlichkeit brachte, wurde sie fristlos gekündigt. Die Klage gegen diese Kündigung wegen des „Whistleblowing“ der Altenpflegerin Heinisch hatten in allen deutschen Gerichtsinstanzen keinen Erfolg, selbst das Bundesverfassungsgericht nahm die entsprechende Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.

In seinem Kammerurteil stellte der EGMR hingegen fest, dass die Kündigung sowie die dazu ergangenen Entscheidungen der deutschen Gerichte eine Verletzung des Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) darstellten. Zwar sei, so die Kammer, die mögliche Kündigung eines Dienstverhältnisses ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist „gesetzlich vorgesehen“, weil § 626 BGB eine solche Kündigung bei Vorliegen eines „wichtigen Grundes“ erlaube. Diese Einschränkung der Meinungsfreiheit sei aber in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen. In einer solchen Gesellschaft sei das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der institutionellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen so wichtig, dass es gegenüber dem Interesse des Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteressen überwiege.

Es bleibt zu hoffen, dass diese Kammerentscheidung des EGMR rechtskräftig wird. In diesem Fall können die Arbeitsgerichte in Deutschland künftig der Loyalitätspflicht gegenüber dem Arbeitgeber nicht mehr pauschal den Vorrang gegenüber dem Recht der Beschäftigten einräumen, die Öffentlichkeit über gravierende Missstände zu informieren. Damit könnte endlich die ungute deutsche Tradition gebrochen werden, verantwortungsbewusstes „Whistleblowing“ von abhängig Beschäftigten mit dem Damoklesschwert des Arbeitsplatzverlusts zu bedrohen. Dies wäre ein wichtiger Fortschritt bei der dringend notwendigen Stärkung der Grundrechte im Arbeitsleben.

Martin Kutscha
lehrt Staatsrecht in Berlin und ist Mitglied im Beirat der HU.

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