Themen / Demokratisierung

Schreiben der Humanis­ti­schen Union an die Verhand­lungs­führer von CDU/CSU und SPD

14. November 2013

Die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union (HU) hat in einem Schreiben vom 11. November 2013 an die Verhandlungsführer der Koalitionsgespräche zwischen CDU/CSU und SPD, Friedrich und Oppermann, Forderungen zur Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Opposition für konsequenten Datenschutz sowie effektive Geheimdienstkontrolle gerichtet.

I. Die Funktionsfähigkeit parlamentarischer Opposition gewährleisten – Minderheitenrechte anpassen!

Angesichts der überwältigenden Mehrheit der Fraktionen von CDU/CSU und SPD bei der Bildung einer Großen Koalition ist die Humanistische Union besorgt um die Rechte und vor allem die Wirkungsmöglichkeiten der Opposition im 18. Deutschen Bundestag.

Einer Opposition mit einem Stimmenanteil von lediglich rund 20 Prozent stehen dem Wortlaut der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und verschiedenen Gesetzen nach bestimmte Minderheitenrechte nicht zu. Das betrifft unter anderem die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und Enquete-Kommissionen, die Durchführung öffentlicher Anhörungen in Ausschüssen und das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht, für die jeweils ein Quorum eines Viertels der Mitglieder notwendig ist. Für einen Antrag auf Einberufung des Bundestages ist sogar ein Drittel der Mitglieder erforderlich.

Zu einer vollkommenen Schieflage würde die bisherige Regelung der Redezeitverteilung im Plenum und in den Ausschüssen führen: 48 Minuten Redezeit für die Regierungsfraktionen würden nur 12 Minuten der Opposition im Rahmen der sogenannten Berliner Stunde gegenüberstehen. Der Sinn von parlamentarischen Debatten, nämlich Rede und Gegenrede, die Formulierung von Alternativen zur Regierungspolitik würde damit ad absurdum geführt.

Das Grundgesetz erkennt die besondere Bedeutung der Ausübung parlamentarischer Opposition an und enthält insoweit eine Funktionsgarantie parlamentarischer Opposition: Nach den Vorgaben des Grundgesetzes sind Bildung und Bestand der Regierung ganz wesentlich von der dauerhaften Unterstützung durch die Parlamentsmehrheit (Regierungsmehrheit) abhängig. Die Funktionen der Kontrolle von Regierung und Verwaltung, Schaffung von Öffentlichkeit und die Entwicklung inhaltlicher und personeller Alternativen müssen daher faktisch von der Opposition im Parlament wahrgenommen werden. Abgeordnete bzw. Gruppen oder Fraktionen, die die Regierung nicht stützen, benötigen daher wirkungsvolle Möglichkeiten, um diesen Aufgaben effektiv nachzukommen.

Für die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Opposition ist es schließlich von zentraler Bedeutung, einen Untersuchungsausschuss einsetzen zu können. Nicht umsonst weist das Grundgesetz in Artikel 44 dem Bundestag das Recht zu und macht die Einsetzung sogar zur Pflicht, wenn ein Viertel der Mitglieder des Bundestages dies verlangt.

An eine übergroße Große Koalition haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes bei der Festlegung von Quoren offenbar nicht gedacht. Angesichts der verfassungsimmanenten Garantie für eine effektive Opposition ist es geboten, die entsprechenden Regelungen in der Geschäftsordnung des Bundestages und in Gesetzen wie im Untersuchungsausschussgesetz (PUAG) zu Gunsten einer nicht das Viertel-Quorum erreichenden Minderheit zu ändern. Die Autonomie des Parlaments aus Artikel 40 Absatz 1 Satz 2 GG, sich eine Geschäftsordnung zu geben, und auch der Wortlaut von Artikel 44 Absatz 1 Satz 1 GG (zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses) stehen einer Anpassung nicht im Wege. Im Übrigen kennen die Verfassungen und Gesetze anderer Bundesländer vom Grundgesetz abweichende niedrigere Quoren bspw. für die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen (siehe Schleswig-Holstein: 20 Prozent).

Parlamentarische Opposition braucht Rechte und Wirkungsmöglichkeiten. Die Humanistische Union bittet die Verhandlungsführer von CDU/CSU und SPD in den Koalitionsverhandlungen zu vereinbaren, im Einvernehmen mit den Fraktionen von DIE LINKE. und Bündnis 90/Die Grünen die Minderheitenrechte im Sinne des Grundgesetzes zu stärken.

II. Kontrolle von Geheim­diensten und konse­quenter Datenschutz

1. Schaffung effektiven Rechtsschutzes bei Überwachungsmaßnahmen

In § 13 G10-Gesetz hat der Gesetzgeber den Rechtsschutz gegen Beschränkungen des Post- und Fernmeldegeheimnisses ausgeschlossen. Danach ist „gegen die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen nach den §§ 3 und 5 I 3 Nr. 1 G10-Gesetz und ihren Vollzug (…) der Rechtsweg vor der Mitteilung an den Betroffenen nicht zulässig.“ Das erfasst auch Überwachungsmaßnahmen für ausländische Dienste. An Stelle des gerichtlichen Rechtsschutzes wird das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) gemäß § 14 G10-Gesetz vom Bundesinnenministerium in Abständen von höchstens sechs Monaten „über die Durchführung“ des G10-Gesetzes unterrichtet. Außerdem entscheidet die G10-Kommission gemäß § 15 G10-Gesetz als Kontrollinstanz über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Maßnahmen. Ihre Kontrollbefugnis erstreckt sich auf die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der nach diesem Gesetz erlangten personenbezogenen Daten durch Nachrichtendienste des Bunds einschließlich der Entscheidung über die (nachträgliche) Mitteilung an Betroffene. Die Betroffenen haben dabei nicht die Verfahrensrechte wie vor unabhängigen Gerichten. Die Humanistische Union fordert, den gesetzlichen Ausschluss des gerichtlichen Rechtsschutzes wieder zu beseitigen. Der notwendigen Geheimhaltung kann im Rahmen der einschlägigen prozessrechtlichen Vorschriften über den Ausschluss der Öffentlichkeit und über die Einschränkung der Pflicht zur Vorlage der Akten (§ 99 VwGO) Rechnung getragen werden.

2. Verbes­se­rung der parla­men­ta­ri­schen Kontroll­rechte

Die heutige Praxis der parlamentarischen Kontrolle hat sich als ineffektiv erwiesen, wie auch die Aufarbeitung der Vorgänge um den „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) bereits gezeigt hat. Die strafrechtlich bewehrte Geheimhaltungspflicht hindert die Mitglieder der parlamentarischen Kontrollgremien in weitem Maße, die Regierung öffentlich zu kritisieren. Die Humanistische Union fordert, die Beschränkungen (§ 10 II, III PKGrG) zu modifizieren und bereits ein Minderheitenquorum zu öffentlichen Stellungnahmen zu berechtigen. Mitglieder der Kontrollgremien müssen effektive Arbeitsmöglichkeiten erhalten; Angehörige der Nachrichtendienste müssen sich an die Gremien wenden können. Die Mitglieder der Kontrollgremien sollten außerdem von ihrer Schweigepflicht im Falle von Verstößen gegen das Grundgesetz, die Strafgesetze oder gegen von Deutschland abgeschlossene völkerrechtliche Abkommen kraft Gesetzes entbunden werden. Vorbild für eine solche Regelung könnte die 1951 geschaffene Vorschrift des § 100 III StGB zum Schutz von Bundestagsabgeordneten vor Strafverfolgung wegen Landesverrat bei im Bundestag oder seinen Ausschüssen erfolgter Erwähnung oder Enthüllung von illegalen Staatsgeheimnissen sein, die im Rahmen der Notstandsgesetzgebung 1968 leider wieder beseitigt worden ist:
„Ein Abgeordneter des Bundestages, der nach gewissenhafter Prüfung der Sach- und Rechtslage und nach sorgfältiger Abwägung der widerstreitenden Interessen sich für verpflichtet hält, einen Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung des Bundes oder eines Landes im Bundestag oder in einem seiner Ausschüsse zu rügen, und dadurch ein Staatsgeheimnis öffentlich bekanntmacht, handelt nicht rechtswidrig, wenn er mit der Rüge beabsichtigt, einen Bruch des Grundgesetzes oder der Verfassung eines Landes abzuwehren.“

3. Abschluss eines Daten­schutz­ab­kom­mens mit den USA

Der Schutz der persönlichen Daten europäischer Bürgerinnen und Bürger in den Vereinigten Staaten ist nicht ausreichend; das „Safe-Harbor“-Abkommen hat sich in der Praxis als ineffektiv erwiesen. Gleichzeitig werden US-amerikanischen Behörden umfassende Datenbestände zur Verfügung gestellt. Die Humanistische Union fordert, ein effektives Abkommen zu schaffen, durch das Art. 17 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, Art. 8 EMRK, der unter anderem das Privatleben schützt und auch den Datenschutz umfasst, und Art. 8 EUGRCharta sowie entsprechende Schutzrechte im US-Recht wirksamer als bisher gewährleistet werden. Es bedarf normenklarer Regelungen zur Datensicherheit, zur Begrenzung der Datenverwendung, zur Transparenz und zum Rechtsschutz. Sofern ein Betroffener vor Durchführung einer Maßnahme keine Gelegenheit hatte, sich vor den Gerichten gegen die Verwendung seiner Telekommunikationsverkehrsdaten zur Wehr zu setzen, ist ihm eine gerichtliche Kontrolle nachträglich zu eröffnen.

4. Beendigung der Ausspähung auch in Europa und Deutschland

Nicht nur amerikanische, sondern auch deutsche Behörden und Behörden unserer europäischen Partnerstaaten spähen, Medienberichten zufolge, die Bevölkerung aus. Die Humanistische Union fordert die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Überwachung der Bevölkerung durch deutsche Behörden sofort zu beenden und auf europäischer Ebene auf dessen Beendigung durch Partnerstaaten hinzuwirken. Bei massiven Verstößen soll ein EU-Vertragsverletzungsverfahren erwogen werden.

5. Effektives Daten­schutz­recht in der Europä­i­schen Union und in Deutschland

In den europäischen Institutionen wird mit der EU-Datenschutz-Grundverordnung gerade das künftige Datenschutzrecht für die Europäische Union verhandelt. Diese Verhandlungen sind einem starken Lobby-Druck ausgesetzt; die Verordnung droht, in wesentlichen Punkten hinter dem notwendigen Schutz der Persönlichkeitsrechte zurück zu bleiben, so zum Beispiel durch eine weite Auslegung „berechtigter Interessen“ oder unzureichende Beschränkung von Profiling. Die Humanistische Union fordert die Bundesregierung auf, sich für ein starkes Datenschutzrecht in Europa einzusetzen. Unternehmen, die unter Verletzung geltenden Rechts Daten an Nachrichtendienste und weitere Behörden weitergeben, sind mit empfindlichen Strafen zu belegen, die sich am Umsatz orientieren.

6. Stopp weiterer Maßnahmen zur Ausspähung der Bevölkerung

Bestürzende Nachrichten erreichen uns aus dem bisherigen Verlauf der Koalitionsverhandlungen: Medienberichten zufolge soll die Vorratsdatenspeicherung wieder eingeführt werden, die die anlass- und verdachtslose Speicherung von Verbindungsdaten aller Menschen in Deutschland vorschreibt. Weitere Maßnahmen werden offenbar diskutiert: So wurde offenbar die Abkehr vor der bisher vorgeschriebenen strikten Zweckbindung von Daten aus dem Mautsystem Toll Collect und das Abgreifen von Kommunikationsdaten an Netzknotenpunkten durch deutsche Behörden ins Spiel gebracht. Die Humanistische Union fordert, auf weitere Maßnahmen zur Ausspähung der Bevölkerung zu verzichten. Notwendige Überwachungsmaßnahmen müssen sich am Schutz der Privatsphäre orientieren und nicht am gerade noch verfassungsrechtlich erlaubten.

7. Effektiver Schutz von Whist­leblo­wern

Durch die Informationen von Edward Snowden wurde die Ausspähung der Bevölkerung – bis hin zur Bundeskanzlerin – in der Öffentlichkeit bekannt. Vertraulichkeit im diplomatischen Verkehr sind zwischen Staaten und im innerstaatlichen Regierungshandeln essentiell. Doch illegales, unlauteres oder skandalöses Verhalten kann nicht hingenommen werden und verdient keinen Schutz. Whistleblower leisten der Öffentlichkeit einen großen Dienst – nur durch sie ist es häufig möglich, solche Handlungen in Behörden und auch Unternehmen aufzuklären und für eine wirksame Durchsetzung des Rechts zu sorgen. Die Humanistische Union fordert, die Kriminalisierung von Whistleblowern zu stoppen, und auch bei befreundeten Staaten auf effektiven Rechtsschutz für Whistleblower hinzuwirken. Solange dies nicht gewährleistet ist, muss Whistleblowern, die vor Verfolgung und Repressalien Schutz suchen, Asyl gewährt werden. Sie sind – wie im aktuellen Fall von Edward Snowden – gegebenenfalls in Zeugenschutzprogramme aufzunehmen und vor Auslieferung zu schützen.

8. Aufklärung des Spähs­kan­dals und Information der Bevölkerung

Mit großer Sorge verfolgt die deutsche Bevölkerung die Diskussionen über die Überwachung, die in erster Linie durch Edward Snowden, aber beispielsweise auch durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Professor Dr. Josef Foschepoth an die Öffentlichkeit gekommen sind. Hier fehlt es an Aufklärung. Die Humanistische Union fordert, die Öffentlichkeit umfassend über die bis heute ergriffenen Maßnahmen aufzuklären. Sollte dabei gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen worden sein, sind die daran Beteiligten zur Verantwortung zu ziehen.

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