Themen / Demokratisierung

Direkt­de­mo­kra­ti­sche Elemente auf Bundesebene sind machbar und sinnvoll

15. September 2012

aus: vorgänge Nr. 199 (Heft 3/2012), S. 15-25

1. Versuch einer Anamnese

Wir haben eine besonders an ihren Geburtstagen hoch gelobte Verfassung, die Abstimmungen des Bundesvolkes vorsieht – es existieren aber keine. Wir haben Kollegen und Politiker, die darauf pochen, dass wir von Verfassung wegen eine „repräsentative Demokratie” haben. Das hindert aber dieselben Politiker nicht, für brisante Entscheidungen, wie – eine älteres Beispiel – die Aufnahme der Türkei in die EU oder – ein jüngeres Beispiel – ein Finanzausgleich in Europa, einen Volksentscheid im Bund zu fordern. Beides in der sicheren Erwartung, solche Politikziele damit zu verhindern. Wir haben Politiker aus dem linken Spektrum, die für und aus dem rechten Spektrum, die gegen Volksentscheide im Bund sind, obwohl beide davon ausgehen, dass Volksentscheide eher konservative Tendenzen haben.

Wir haben ehrenwerte Kollegen und Politiker, die, trotz aller gegenteiliger Erkenntnisse, das Scheitern der Weimarer Republik immer noch zumindest auch den Volksentscheiden anlasten, oder für die Abstinenz des Parlamentarischen Rates gegenüber Abstimmungen noch 1980 die politische Unreife des Volkes während der NS-Zeit verantwortlich machten. Es stört sie nicht, dass die Schöpfer der Landesverfassungen vor dem Grundgesetz, die diesen Zeiten näher standen als der Parlamentarische Rat, solche Ideen nicht hatten. Es gibt Kollegen, die der repräsentativen Demokratie alles Gute zuschreiben und bei der direkten Demokratie alles Schlechte versammelt sehen. Trotz ihrer im Übrigen durchaus gepflegten Differenzierungskunst betätigen sie sich bei diesem Thema als Schwarz-Weiß-Maler. Wir haben Gegner von Volksrechten, die gerne von „plebiszitären Elementen” in der Hoffnung sprechen, dass beim Hörer die Assoziation zu misera plebs mitschwingen möge, und wir haben Anhänger der Volksrechte, die lieber von direkter Demokratie sprechen, weil das den Charakter des Ursprünglichen nahelegt, anders als bei einer nur abgeleiteten, also indirekten Demokratie. Insgesamt ein Krankheitsbild, das mit „wirr” wohlwollend bezeichnet wäre.

II. Wie ist die Verfas­sungs­lage?

Würde sich jemand zutrauen, zu sagen, wir halten keine Wahlen mehr ab, sondern regeln die Besetzung der Organe durch Selbstergänzung, so würde man ihn, wenn man rücksichtsvoll wäre, für einen Verfassungsfeind halten, wenn man die direkte Sprache liebt, für verrückt erklären. Bei den Volksabstimmungen im Bund ist es eher umgekehrt. Wer für ihre Einführung ist, ist ein Feind der repräsentativen Demokratie und da die nach Meinung einer Reihe meiner Kollegen Verfassungsrang hat, ist er auch ein Verfassungsfeind. Erstaunlicherweise sagt aber Art. 20 Abs. 2 GG, dass die gesamte vom Volk ausgehende Staatsgewalt von diesem in zwei Formen ausgeübt wird, nämlich „durch Wahlen und Abstimmungen”. Zu Wahlen gehen wir alle vier Jahre, zu Abstimmungen ist das deutsche Volk, also das Bundesvolk, noch nie gegangen. Es kann es nach der derzeitigen Rechtslage auch nicht. Es gibt zwar ein Bundeswahlgesetz, aber eben kein Bundesabstimmungsgesetz.

Abstimmungsgegner beruhigen sich damit, dass die in Art. 20 Abs. 2 GG vorgesehenen und damit versprochenen Abstimmungen sich in den Abstimmungen bei Länderneugliederungen erschöpfen und verweisen auf die Art. 29 und 118, 118 a GG. Sie gehen dabei etwas legasthenisch vor: Abstimmungen nach Art. 29 GG sind keine des Bundesvolkes und die beiden letzten Artikel schreiben überhaupt keine Abstimmungen vor. Nicht nur nach der deutschen demokratischen Verfassungstradition sind zudem Ab-stimmungsrechte allgemeine Sachgestaltungsrechte des Volkes und keine bloße Aktivierung oder Mitbestimmung von Betroffenen. Wie bei der Wahl regelt Art. 20 Abs. 2 GG vielmehr ein Grundelement demokratischer Gestaltung des Staatswillens.

Vor diesem Hintergrund ist der Rückzug auf den „repräsentativen Charakter” unseres demokratischen Systems, dem in seiner reinen Form jedenfalls Volksabstimmungen fremd sind, höflich gesprochen ein Teilrückzug aus der Verfassung selbst. Drei Gründe mögen für dieses Verdikt genügen: Wäre „die Demokratie” des Grundgesetzes eine rein repräsentative, dann dürfte es in den Ländern keine Volksabstimmungen geben. Denn die Länder sind nach den Homogenitätsbestimmungen des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG auf den demokratischen Charakter des Grundgesetzes verpflichtet. Zum zweiten dürfte es in den politischen Parteien keine Mitgliederentscheide und nur Delegiertenversammlungen geben, denn auch sie sind nach Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG auf die „demokratischen Grundsätze” verpflichtet und das können nur die des Grundgesetzes sein. Schließlich sind die in Art. 20 Abs. 2 GG versprochenen Volksabstimmungen durch Ärt. 79 Abs. 3 GG so geschützt, dass nicht einmal Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat sie „berühren” dürfen. Sollten sie aber durch eine rabiat-exzessive restriktive Auslegung beseitigt werden dürfen?

Wir haben also seit über 60 Jahren eine verfassungsfeindliche Verfassungspraxis. Um zu klären, wie man ihr beikommen kann, bedarf es der Analyse der Gründe und Hintergründe, die zu dieser Haltung geführt haben. Es mag sich ergeben, dass die Ängste der Gegner von Volksabstimmungen ebenso übertrieben sind wie die Erwartungen der Anhänger, man sich also in den gegensätzlichen Prognosen hochschaukelt. Erst eine ruhige Abwägung der Vor- und Nachteile beider Gestaltungsideen, ihrer Risiken und

Chancen lassen eine sinnvolle Erfüllung des bisher unerfüllten Verfassungsauftrages des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG erwarten.

III. Die Konse­quenzen eines rein reprä­sen­ta­tiven Systems

Die unmittelbare Staatswillensbildung liegt in einem rein repräsentativen demokratischen System allein beim Parlament. Es hat aber in dem parlamentarischen Regierungssystem, wie es das Grundgesetz vorschreibt, in erster Linie eine Regierung zu tragen. Beides verlangt eine Konzentration der politischen Vorstellungen wie der politischen Akteure. Das leisten bei uns die politischen Parteien, die ein Monopol bei der Besetzung des Parlaments haben. Nur sie können die Wahllisten aufstellen und dominieren auch die Wahllcreiskandidaturen. Durch die Konzentrationswirkung der Sperrklausel des Wahlgesetzes werden die etablierten Parteien zudem vor Erosionsgefahren geschützt. Nach Konsolidierung des Parteiensystems waren seit 1961 über zwanzig Jahre nur drei Parteien im Parlament, wenn man die Union als eine Partei rechnet, weil sie sich im Parlament also eine solche geriert. 1983 kamen die Grünen dazu, nach der Vereinigung die Vorläufer der heutigen Linken. 2013 ist nicht ausgeschlossen, dass es mit den Piraten erstmals eine programmatisch nicht sonderlich profilierte Partei ins Parlament schafft.

Bei den Bundestagswahlen müssen die Parteien neben der Zugkraft ihres Spitzenpersonals vor allem auf die Werbewirkung ihrer politischen Grundeinstellungen vertrau-en. In der Oppositionsrolle macht die Beibehaltiing dieser Grundeinstellung in der parlamentarischen Arbeit in der Regel keine Schwierigkeit. Bei allen Parteien im Parlament können neue Fragestellungen aber einen Anpassungs- oder Korrekturbedarf auslösen. Stärkeren Korrekturzwängen sind in der Regel die Regierungsfraktionen aus-gesetzt, da sie von der täglichen Regierungsarbeit einschließlich der außenpolitischen Zwänge zu Entscheidungen gezwungen werden, auch unter Verleugnung ihrer Grundeinstellung. Zusätzlicher Korrekturbedarf ergibt sich bei Koalitionsregierungen.

Die Folge ist, dass Parteiprogramm und Wahlprogramm im Laufe der Regierungsarbeit als Richtschnur zunehmend verblassen. Die Verbindung zwischen Wähler und Gewählten wird schwächer. Die natürliche Überzeugungsleistung gegenüber den Regierungsanhängern muss zunehmend durch Propaganda ersetzt werden. Die Regierung zieht sich zu Recht auf ihren vierjährigen Auftrag zurück. Eine Diskrepanz zur Meinung des Volkes hofft sie ohne Verlust der Wiederwahlmöglichkeit aushalten zu können oder zu müssen.

Dieses knappe Bild des Funktionierens des repräsentativen Systems in dem für uns interessanten Spektrum wird regelmäßig noch mit einem gegen Volksrechte gerichteten Argument angereichert. Bei der nächsten Wahl müssten sich die Regierenden der Wahl, also der Entscheidung des Volkes auch über ihre Leistung stellen. Sie trügen also insofern, anders als die Abstimmenden bei Volksentscheiden, für ihre Entscheidungen Verantwortung und könnten zu dieser Verantwortung gezogen werden. Das Argument klingt nur beim ersten Zuhören gut. Zum einen geht es bei der Wahl primär darum, wer in der nächsten Wahlperiode regieren soll. Die Leistung in der vergangenen Wahlperiode ist dabei nur ein Argument, dass in seiner Bedeutung im Übrigen gegen Null tendieren kann, wenn nämlich die Wahlalternativen insgesamt noch schlechter eingeschätzt werden. Entscheidend gegen das Argument spricht aber, dass es beim Volksentscheid um eine einzelne Sachentscheidung geht, beim Wahlakt aber um ein sehr großes Bündel von Entscheidungen, die die Regierung getroffen oder zu denen sich die Opposition verhalten hat. Die politischen Parteien stellen sich ebenso wenig wie das abstimmende Volk wegen einer Entscheidung zur Wahl oder Abwahl.

IV. Die Charak­te­ris­tika von Volks­ent­scheiden

In demokratischen Großorganisationen wie Staaten ist der Volksentscheid weder die eigentliche noch die edlere Form, sondern nur eine andere Form demokratischer Entscheidungsfindung als wir sie in repräsentativen Systemen kennen. Sie schafft ebenso wenig eine Identität von Regierenden und Regierten wie es repräsentative Entscheidungsarten vorgeben. Sie ist wie diese eine Form von Entscheidungsfindung und damit auch Machtausübung. Lediglich der Kreis potentieller Mit-Entscheider ist erheblich größer.

Beschränken wir uns auf die stärkste Form, die durch Volksentscheid betriebene Gesetzgebung, so ist sie ein Korrektiv des Parlaments. Sie wünscht, erlassene Gesetze zu ändern oder unterlassene Gesetze wirksam werden zu lassen. Instittitiönell richtet sie sich also gegen das Parlament, politisch gegen die politischen Parteien und ihre Fraktionen im Parlament. Im Einzelfall kann es auch zu Verbindungen zur jeweiligen Opposition im Parlament kommen; darauf ist zurückzukommen.

Ein wesentliches Element des Volksentscheids ist seine Korrektivfunktion. Er trifft auf ein bestehendes Rechtssystem und will dieses regelmäßig in einem Punkt ändern. Kontinuierliche Politik ist aus zwei Gründen über Volksentscheide nicht leistbar. Während Regierung und Parlament durch ihren Apparat und die von außen nicht veränderbare Wahlperiode dafür ausgestattet sind, fehlt dem Institut Volksentscheid ein entsprechender kontinuierlicher Träger. Zudem ist das Verfahren so aufwändig, dass eine kontinuierliche Politik mit ihm nicht zu betreiben ist.

Der Volksentscheid verstößt daher nicht gegen das in Art. 63 GG angelegte parlamentarische Regierungssystem, es verstößt allerdings gegen die These einer „ausschließlichen repräsentativen Demokratie”. Sie war freilich nie Bestandteil des Grundgesetzes, aber lange Jahre Bestandteil des verfassungsjuristischen und politisch dominanten Zeitgeistes. Gleichwohl sollte man bei der Ausgestaltung direktdemokratischer Rechte im Einzelnen vernünftigerweise Rücksicht auf Wirkungsbedingungen des parlamentarischen Regierungssystems nehmen. Darauf ist bei der Behandlung von Verfahrenfragen zurückzukommen.

Hilfreich kann der Volksentscheid vor allem in Fällen sein, in denen das parlamentarische Regierungssystem konstitutionell Schwächen aufweist. Das betrifft zum einen den Bereich parlamentarischer Gesetzgebung, wenn sie in die Nähe zur konstitutionellen Befangenheit gerät. Das gilt für die Gesetzgebung in eigenen Angelegenheiten. Hier entfällt das Korrektiv der Opposition ebenso wie das einer mäßigenden Ministerialbürokratie. Der Bundestag hat sich angewöhnt, in diesen Fällen die Ministerialbürokratie nur zu niederen „Hilfsdiensten” heranzuziehen. Bei den Materien handelt es sich um Parteien-, Fraktions- Minister- und Abgeordnetengesetze ebenso wie um Wahlgesetze. Hier dominiert der scharfe Blick für das Eigeninteresse. Aus diesem Grund ist auch der Ausschluss von Steuergesetzen von der Volksgesetzgebung wenig überzeugend, weil sie von den Parlamentariern zur Privilegierung ihrer Klientel benutzt werden können und benutzt werden. Mancher Ausschlusskatalog für Volksgesetze gibt einen guten Einblick in das Eigeninteresse der Parlamentarier.

Besonders aktuell ist das Versagen der Parlamente bei der Staatsfinanzierung. Ihr Privileg, sich über Steuern Zwangseinnahmen verschaffen zu können, lassen sie wegen der politischen Kosten gerne zugunsten der eleganteren Schuldenaufnahmen ruhen, die negativ nur mit dem Zinsdienst im Etat auftauchen. Auch hier geht es also um das Eigeninteresse der politischen Klasse. Schweizer Erfahrungen zeigen, dass die Bürger in diesem Bereich seriöser denken als die Politiker.

Damit ist der Kreis möglicher Anwendungsfälle natürlich weder ausgeschöpft noch begrenzt. Die mittlerweile gemachten Erfahrungen im Landesbereich, aber auch im Kommunalbereich, zeigen eine große Vielfalt, sowohl bei den erfolgreichen als auch bei den gescheiterten Volksentscheiden. Sie zeigen außerdem ihren jeweils nur punktuellen Charakter. In keinem Fall zerstörten sie eine stabile Regierungsmehrheit; der Hamburger Schulfall traf auf eine kriselnde Koalition.

Keineswegs die unwichtigste Funktion eines möglichen Bundesvolksentscheids ist seine prophylaktische Wirkung. Die Politik wird vorsichtiger agieren und auf zweifelhafte Aktivitäten verzichten müssen. Die Annahme ist wohl nicht fern liegend, dass das Steuerprivileg für Hoteliers, das der FDP erheblich geschadet hat, erst gar nicht versucht worden wäre, durchzusetzen. Und um noch einmal auf den Hamburger Schulfall zu kommen: es genügt für eine wesentliche Änderung der Schulverfassung nicht, dass sich eine Koalition einigt, vielmehr ist gegenüber den Eltern, und zwar vorher, Überzeugungsarbeit zu leisten. Genereller gesprochen, Politik wird anspruchsvoller, wenn ein Volksentscheid drohen kann.

V. Verfas­sungs­po­li­ti­sche Vorbehalte gegen Bundes­volks­ent­scheide

Der unter dem Stichwort „Wir haben eine repräsentative Demokratie” geltend gemachte Widerstand kann zwar vor der Verfassung nicht bestehen, wie gezeigt worden ist, er ist aber oft auch nur ein Vorwand für den einfacheren und auch nahe liegenden Unwillen der Politiker: „Wir lassen uns unsere so wie so schon schwierige Arbeit nicht noch weiter erschweren.” Gleichwohl scheint in den Parteien mittlerweile ein Umdenken zu beginnen, das vom linken politischen Spektrum (ich trete für diese Nomenklatur nicht den Wahrheitsbeweis an, sondern bediene mich der geläufigen Charakterisierung) mittler-weile bis in die FDP und vor allem über die CSU auch in die Union hineinreicht. Der eigentliche Grund scheint zu sein, dass die Politik zweierlei verstanden hat. Zum einen kann der Volksentscheid, sowohl der erfolgreiche als auch der gescheiterte, für die Politik entlastend sein. Der Stuttgarter Entscheid ist dafür ein Beispiel. Zum zweiten ist das Instrument aus der Opposition nutzbar. Wenn ich mich recht erinnere, hat vor längerer Zeit die CDU in Nordrhein-Westfalen aus der Opposition heraus schon mit der Drohung eines Volksentscheids die rot-grüne Koalition zur Aufgabe einer Schulreform bewogen oder genauer gesagt „gezwungen”.

Unabhängig von dieser geänderten Einstellung bleiben aber die allgemeinen Ein-wände gegen einen Volksentscheid. Sie werden vor allem im wissenschaftlichen Bereich von den Gegnern mit Ausdauer vorgetragen. Sie sind zum Allgemeingut der Debatte geworden und haben jenen oben schon erwähnten Schwarz-Weiß-Charakter. Ihr stereotypenhafter Charakter reizt zu dem Versuch, den Spieß umzudrehen.

Die Vorwürfe lauten: 1. Volksentscheide sind demagogieanfällig, 2. könnten die Bürger nur mit Ja oder Nein stimmen, Kompromisse seien also anders als im Parlament nicht möglich, 3. seien sie für eine kompliziertere Gesetzgebung nicht tauglich, auch, weil der entsprechende Sachverstand fehle, 4. sei der Zugang organisierter Interessen anders als im Parlament nicht möglich, 5. handele es sich prinzipiell um Minderheitsgesetzgebung und 6. schließlich – erst vor kurzem als Argument aufgetaucht – sei die soziale Selektivität noch stärker als bei den Wahlen.

Das Demagogieargument hat einen Säulenheiligen. Das ist der Vertreter einer kleinen bürgerlichen Partei im Parlamentarischen Rat, die sich nach damaligem Verständnis von Volksentscheiden nichts versprechen konnte, ein großer Rhetor und späterer Bundespräsident, Theodor Heuss. Er verkniff es sich nicht, in diesem Zusammenhang das Volk mit einem gerne zitierten „cave canem” als beißwütige Menge anzusprechen. Gegen die Aufnahme der „Abstimmungen” in Art. 20 Abs. 2 GG hat er freilich nicht protestiert. Nun kann man die Gefahr demagogischer Ausnutzung selbst-verständlich nicht ausschließen. Zwei Erfahrungen machen freilich stutzen. Als der hessische Ministerpräsident eine Wahl nur mit einer äußerst aggressiven und von ihm persönlich in Szene gesetzten Ausländerschelte gewinnen zu können glaubte, ist ihm das von seinen Freunden als machiavellistische Großtat gutgeschrieben worden. Genereller gesprochen, bei den Wahlen bestimmen die Parteien das Maß der erlaubten Demagogie selbst, ohne dass jemand darum die Abschaffung der Wahlen forderte. Die zweite Argument ist: Die reichhaltige Erfahrung mit erfolgreichen wie gescheiterten Volksentscheiden auf Landes- wie auf Kommunalebene hat nach meinen Kenntnissen in keinem Fall zum Vorwurf unerträglicher Demagogie geführt. Die Demokratie scheint in unserem Land doch gefestigter zu sein, als die berufsmäßigen Kassandren bezweifeln.

Nicht ohne Komik ist der Vorwurf, die Bürger könnten nur mit Ja oder Nein stimmen. Nach § 46 Satz 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages muss der Präsident die Fragen so stellen, dass sie sich mit „Ja” oder „Nein” beantworten lassen. Das Volk ist in keiner anderen Lage als das Parlament. Bei der parlamentarischen Gesetzgebung ist das Parlament der Abstimmungskörper, beim Volksentscheid ist es das Volk. Lediglich in der Phase davor unterscheiden sich die Verfahren, und zwar zu Lasten der Volksgesetzgebung. Im Parlament entlastet die Änderungsmöglichkeit die Initianten des Gesetzentwurfs, weil ihnen die Möglichkeit des Kompromisses im Verfahren offen steht. Parlamentarische Gesetzgebung ist in vieler Hinsicht einfacher. Die Initianten eines Volksentscheids müssen ihre ganze Energie auf den Gesetzentwurf konzentrieren; er ist im Verfahren grundsätzlich nicht mehr abänderbar. Die Kompromissphase muss also beim Volksentscheid früher abgeschlossen sein. Sie gibt es selbstverständlich, weil die Initianten, wie die im Parlament, Überlegungen zu einer Abstimmungsmehrheit anstellen müssen. Anders als im Parlament stehen ihnen aber keine offenen Druckmittel wie der Fraktionszwang oder latente wie der Wunsch auf Wiederwahl zur Verfügung.

Gegen die mangelnde Tauglichkeit zu komplizierterer Gesetzgebung wegen mangelnden Sachverstandes ließe sich schon entgegnen, es reiche, wenn sich die Volksgesetzgebung bei solchen Materien zurückhalte. Außerdem zeigt die Erfahrung, dass es regelmäßig um punktuelle Eingriffe in den Rechtsstoff geht und die notwendige Überzeugungsarbeit bei einer Fülle von Menschen, die das Parlament nicht nötig hat, aus-schließt, für zu komplizierte Vorhaben eine Mehrheit zu gewinnen. Die These selbst ist aber schon wenig überzeugend. Sicherlich hat der Regierungsapparat, aber auch das Parlament selbst mit seinem wissenschaftlichen Dienst einen hohen Sachverstand, in der Zivilgesellschaft insgesamt dürfte freilich ein weitaus höherer Sachverstand zu Hause sein. Wenn die doch vielfältigen Anhörungen Sachverständiger, die das Parlament ab-hält, aber auch die nicht weniger häufigen Konsultationen, welche die Ministerialbürokratie für sinnvoll hält, nicht reine Formalübungen sind, herrscht beim Staat selbst offensichtlich diese Ansicht vor. Man braucht dazu nicht einmal auf das Beispiel zu verweisen, dass das Bundesministerium der Finanzen eine einschlägige Anwaltskanzlei benötigt, um ein schwieriges Gesetzesvorhaben im Rahmen der Euro-Krise ausarbeiten zu lassen.

Der Zugang organisierter Interessen bei der parlamentarischen Gesetzgebung, der beim Volksentscheidungsverfahren nicht garantiert, möglicherweise aber auch nicht gewünscht ist, hat durchaus ambivalente Züge. Der Einfluss auf die staatliche Gesetzgebung kann je nach vertretener Anhängerschaft und damit potenzieller Wählerschaft oder nach einer für die Parteifinanzierung interessanten finanziellen Potenz für eine faire Gesetzgebung durchaus inadäquat sein. Die sich verschärfende Debatte über Lobbyismus gegenüber Regierung und Parlament zeigt, das hier durchaus ein Problem liegt.

Von besonderem Reiz ist der Vorwurf, Volksgesetzgebung sei formal Minderheitsgesetzgebung und inhaltlich minderheitsaffin. Der erste Vorwurf vergleicht die Abstimmungsbeteiligung mit der Zahl der Abstimmungsberechtigten. Beim ersten Nach-denken lässt sich gegen diesen Vorwurf wenig ausrichten. Wenn man sich aber nicht düpieren lässt, fragt man sich, wie ist das denn eigentlich beim Parlament. Nimmt man dieselben Kriterien, fragt also nach der Relation von Wahlberechtigten und Parlamentsmehrheit, dann ist man erstaunt, dass selbst eine große Koalition, wie sie von 2005 bis 2009 regiert hat, lediglich knapp 40% der Wahlberechtigten repräsentiert, die jetzige Koalition kommt sogar nur auf ein Drittel der Wahlberechtigten. Vermutlich sind wir bei einer solchen Rechnung seit 1949 ganz überwiegend von Minderheitsregierungen regiert worden. Dass Parlamentsgesetzgebung inhaltlich mehrheitsaffin sein soll, kann nur jemand behaupten, der die Zeitungen nicht liest. Bis auf die allgemeinen Rechtsgrundlagen des Staates dürfte die überwiegende Teil staatlicher Gesetzgebung sich mit Minderheiten befassen, seien es Pendler oder Eltern mit Kleinkindern, um zwei aktuelle Gesetzesplanungen oder Gesetzeswünsche zu nennen.

6. Der Vorwurf der sozialen Selektivität, die bei Volksabstimmungen stärker sein soll als bei den Wahlen, scheint eine moralische Wucht zu haben, die als Antwort eher Schweigen nahe legt. Man mag darauf verweisen, dass es bei der Wahl inhaltlich um das ganze Spektrum der Politik geht, bei Volksentscheiden aber nur um punktuelle Sachfragen, die vielleicht auch nur selektives Interesse hervorrufen. Wichtiger ist freilich, dass eine auf vier Jahre gezielte Personal- und Richtungsentscheidung mit einer Sachentscheidung verglichen wird. Platter gesprochen, der Einwand vergleicht Äpfel mit Birnen. Würde man bei den Äpfeln bleiben, so müssten man parlamentarische Sachentscheidungen mit Sachentscheidungen bei Volksentscheiden vergleichen und käme zu dem ja nicht erstaunlichen Ergebnis, dass die soziale Selektivität im Parlament fast absolut ist. Sollten wir es deshalb abschaffen? Ich weiß nicht, wie die Zahlen und ihre Bewertung für die Behauptung zustande gekommen sind. Ich vermute fast, dass das Phänomen einer über Monate andauernden werbenden Materialschlacht, welche Wahlen begleiten, mit auch darum hohem öffentlichen Interesse nicht in das Kalkül eingegangen sind. Wenn der über die Parteifinanzierung nicht unerheblich staatlich finanzierte materielle Aufwand auch bei Volksentscheiden möglich wäre, könnte die Beteiligung sich durchaus angleichen. Schließlich scheint es mir grundsätzlich nicht erlaubt, das Maß faktischer sozialer Selektivität gegen ein Instrument demokratischer Entscheidung ins Feld zu führen. Man käme leicht auf die schiefe Ebene zur Propagierung einer Diktatur, in der niemand, gleich welchen sozialen Standes, etwas zu sagen hätte, soziale Selektivität insofern also aufgehoben wäre.

VI. Welche Anfor­de­rungen sind zwingend an das Verfahren zu stellen und welche empfehlen sich zusätzlich?

Die Verfahrensgestaltung muss sich daran ausrichten, dass der Volksentscheid ein von der Verfassung vorgesehener demokratischer Entscheidungsmodus ist. Das hat, wie zu zeigen sein wird, eine Reihe von zwingenden Verfahrenskonsequenzen. Sie muss dar-über hinaus dem Konkurrenzcharakter des Volksentscheids – ich rede immer noch vom Gesetzesentscheid – im Verhältnis zur parlamentarischen Gesetzgebung Rechnung tragen. Sie sollte zudem mögliche Gefahren für das demokratische System insgesamt im Auge behalten. Da es sich um ein neues demokratisches Instrument mit bundesweiter Organisation wie Auswirkung handelt, ist zu überlegen, ob für die Verfahrensregeln oder für einige von ihnen, ein Experimentierzeitraum festgelegt werden soll, nach dem Dauerregeln fixiert werden. Schließlich ist zu klären, welche Regeln in die Verfassung aufzunehmen sind und welche besser dem einfachen Gesetz überlassen bleiben sollen. Man muss sich dabei bewusst bleiben, dass mit der Verfahrensgestaltung mögliche negative Effekte ausgeschaltet oder weitgehend vermieden werden können. Mit ihr kann das Instrument freilich auch ausgebremst werden.

Da der Bürger sich beim Volksentscheid an einem von der Verfassung vorgesehen Verfahren beteiligt, ist er wie ein Citoyen zu behandeln, nicht wie ein Bourgeois. Eine schlechtere Behandlung als bei der Wahl ist grundsätzlich unzulässig und wäre besonders begründungsbedürftig. Dass die Parlamentsparteien Volksrechte außerhalb der Wahl nicht sonderlich goutieren, ist also kein zulässiger Grund, die Ausübung zu er-schweren. Das hat konkrete Konsequenzen. So ist heftig umstritten, ob freie Unterschriftensammlung zulässig sein soll oder eine Amtseintragung vorgeschrieben werden kann. Letztere zwingt den Abstimmenden zweimal aufs „Amt”. Die Thüringische Verfassung taxiert die damit gegebene Erschwerung auf ein Fünftel. Da die Evidenz der Abstimmungsberechtigung in beiden Fällen gegeben ist, existiert für eine solche Beschwernis kein triftiger Grund außer den unzulässigen, die Abstimmung zu erschweren und zugleich die Kommunikation zwischen den Sammlern und den Bürgern zu unter-binden.

Die Organisation von Abstimmungen ist außerordentlich aufwändig, erst recht auf Bundesebene. Da für die Sammlung der Unterschriften ein erhebliches ehrenamtliches Personal benötigt wird- was durchaus positiv zu werten ist, da es notwendig kommunikationsfreundlicher zugeht als bei einer Wahl – stellen sich Finanzierungsprobleme. Da die allgemeine staatliche Parteienfinanzierung auch für die Funktion der Parteien bei den Wahlen ausgeworfen wird, liegt es nahe, dass der Staat auch die Initianten einer – zulässigen – Volksabstimmung finanziell unterstützt. Dagegen sollte eine strengere als bei den Parteien geltende Regel über die Fremdfinanzierung angeschlossen werden, worauf noch zu kommen ist.

Eine wichtige Weichenstellung für eine leichtere oder schwerere Handhabbarkeit des Instruments sind die Quoren. Da auf Bundesebene noch keine Erfahrungen gesammelt werden konnten, liegt es hier nahe, zunächst eine vorläufige Regel zu treffen. Da bedeutet vor allem, von einer Festlegung in der Verfassung zumindest vorerst abzusehen. Eine Gefahr geht davon nicht aus, weil der parlamentarische Gesetzgeber von vor-ne herein gegenüber einem potentiellen Konkurrenten nicht großzügig sein wird. Ein Verfassungsvorbehalt besteht nicht, wie man an der Parallelregelung beim Wahlrecht sieht, bei dem die wichtigste Festlegung, nämlich die des Wahlsystems, dem einfachen Gesetzgeber anheim gegeben ist.

Zur Höhe der Quoren gibt es hinreichende Erfahrungen; daher beschränke ich mich auf einige Feststellungen. Einleitungsquoren, die auchdem Schutz der Antragsteller vor von vorne herein aussichtslosen Kampagnen dienen, sind zu Recht traditionell niedrig angesetzt. Das wichtigste Quorum entscheidet über den Erfolg des Volksbegehrens. Es ist daher das Maß für das Misstrauen, das man dem Institut entgegenbringt. Ehe man sich für ein Abstimmungsquorum entscheidet, sollte man bedenken, dass das Parlament ein solches jedenfalls nicht kennt. Die Mehrheitsregel des Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG stellt nicht auf das Verhältnis der Zahl der positiv Abstimmenden zu den Mitgliedern des Parlaments ab. Insgesamt zeigen die Erfahrungen in den Ländern, dass prohibitiv hohe Quoren unter politischen Druck geraten, dem die Parteien schließlich doch nachgeben müssen. Das Landesrecht kennt, soweit ich sehe, nur selten besonderen Kollisionsregeln für das Verhältnis von Parlaments- und Volksgesetz. Man geht davon aus, dass die üblichen Regeln der lex posterior und der lex specialis ausreichen. Sie reichen aber nur aus im Verhältnis der Gesetze desselben Gesetzgebers oder desselben Typs von Gesetzgeber. Mit Einführung der Volksgesetzgebung haben wir ein im Verfassungsrecht neues

Phänomen, dass nämlich zwei unterschiedliche Organe für dieselbe Sache zuständig sind. Das verlangt über die genannten beiden Regeln zur Sache zumindest eine Kollisionsregel im Verfahren. Zur Erkenntnis dieser Notwendigkeit hat 2008 ein Thüringer Fall geführt. Sechs Tage vor Verkündung des Erfolges eines Volksbegehrens über eine Änderung der kommunalrechtlichen Regeln für Bürgeranträge trat ein abweichendes Parlamentsgesetz in Kraft, das die Anschlussfähigkeit des Volksbegehrens an das nun neue Kommunalrecht zerstörte. Die Kollision wurde erst nach Erhebung von entsprechenden Verfassungsklagen durch eine weitere Novelle einvernehmlich gelöst.

Was die Gefahren angeht, so lässt sich gegen demagogisches Auftreten – nicht anders als bei der Wahl – von Staats wegen wenig ausrichten. Die Gefahr dürfte aber nach mehr als sechzigjähriger demokratischer Entwicklung beherrschbar sein. Kalifornische Erfahrungen legen aber nahe, eine Kommerzialisierung der Unterschriftensammlung zu untersagen: der Volksentscheid soll Ausdruck bürgerschaftlichen Engagements bleiben. Das legt auch die Verpflichtung nahe, die finanziellen Ressourcen ähnlich wie bei den politischen Parteien offenzulegen. Strenger als bei diesen sollte eine finanzielle Unterstützung durch juristische Personen und ähnliche Organisationen ausgeschlossen werden.

Es liegt sogar nahe, den politischen Parteien die Organisation und Finanzierung von Volksentscheiden zu untersagen. Sie allein haben nicht nur nach unserer Rechtsordnung das ausschließliche Privileg, sich an Parlamentswahlen im Bund zu beteiligen. Ihre politische Arbeit muss nach § 2 Abs. 1 PartG auch notwendig parlamentsgerichtet sein. Zudem werden sie in nicht unerheblicher Höhe wegen dieser Funktion als Organisation staatlich finanziert. Falls sie sich nach dem Wahlergebnis für vier Jahre mit der Oppositionsrolle begnügen müssen oder an der 5 Prozent-Sperre scheitern, würde es das parlamentarische Regierungssystem als solches widersinnigerweise belasten, wenn sie in der Lage wären, zwischenzeitlich die Regierungsmehrheit von außen durch verbindliche Akte anzugreifen. Zumal die Parlamentsparteien ihr Herrschaftswissen dabei einsetzen können. Mit Art. 21 Abs. 1 GG, der den politischen Parteien nur eine Mitwirkung bei der politischen Willensbildung zugesteht, wäre eine solche Regel zum Schutz des parlamentarischen Regierungssystems vereinbar. Frei steht es dagegen allen Parteien; sich zu anstehenden Volksbegehren zu verhalten und auf die Willensbildung einzuwirken.

Aus der Fülle weiterer Verfahrensprobleme sei zum Schluss nur auf zwei Fragen der Stellung des Staates gegenüber einem Begehren eingegangen. Zwiespältig ist ein vor-hergehendes Prüfungsrecht des Staates gegenüber einem Antrag. Es ermöglicht ihm einen vielleicht entscheidenden Zeitgewinn und führt nicht zu einer autoritativen Klärung. Mit weiteren Zeitverlusten kann nämlich das Verfassungsgericht angerufen werden. Bei allen Volksentscheiden, die Grundrechte tangieren, ist zudem ins Kalkül zu ziehen, dass deren Auslegung bekanntlich einen größeren Spielraum einräumt. Andererseits kann eine staatliche Vorprüfung auch rechtlich aussichtslose Begehren frühzeitig verhindern. Ich neige dazu, das Risiko bei den Initiatoren zu belassen.

Propagandaaktionen gegenüber einem Volksbegehren sollten dem Staat in all seinen Gliederungen untersagt werden, dagegen sollte er in dem Abstimrnungsheft seine Vorstellungen artikulieren müssen.

VII. Rück-und Ausblick

Theodor Heuss hat im Parlamentarischen Rat mit seinem „cave canem“ die Angst vor der bissigen Plebs beschworen: ein Ruf, der auf Bundesebene sehr lange nachgehallt hat. Dafür war nicht nur der Kalte Krieg mit seinem Lagerdenken hilfreich, der Verweis auf die bösartige Masse hatte auch die Funktion, das Versagen der politischen Klasse beim Niedergang Weimars und bei Hitlers Aufstieg zu kaschieren. Es scheint nicht zufällig zu sein, dass die Chance für eine Einführung von Volksentscheiden auch im Bund mit dem Aussterben der verantwortlichen Generation zusammenfällt.

Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrages, der auf dem Gustav-Heinemann-Forum in Rastatt am 11./12. Mai 2012 gehalten wurde.

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