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Forum Menschen­rechte: Stellung­nahme zur EU-Grund­rech­te-Charta

01. Juni 2000

Mitteilung Nr. 170, S. 36-38

Das Forum Menschenrechte (FMR) umfaßt derzeit ca. 40 Bürger- und Menschenrechtsorganisationen. Die HU ist Mitglied im FMR und mit Ingeborg Rürup im Steuerungsgremium des FMR, dem Ko-Kreis vertreten. Über die von Ingeborg Rürup initiierten Arbeitsgruppe zur EU-Grundrechtecharta (Teilnehmende: amnesty international, Diakonisches Werk der EKD, FIAN, Gesellschaft für bedrohte Völker, Gustav Heinemann-Initiative, HU, Heinrich-Böll-Stiftung, missio und Pro Asyl) hat sich die HU an der Erarbeitung des folgenden Textes beteiligt, der als Stellungnahme bei der Anhörung der Europa-Ausschüsse von Bundestag und Bundesrat am 5. April in Berlin vorgelegt wurde. Im folgenden dokumentieren wir den Wortlaut der Stellungnahme.

Das FORUM MENSCHENRECHTE begrüßt den Beschluss des Europäischen Rates vom Juni 1999, eine Charta der Menschen- und Bürgerrechte auszuarbeiten, wie wir schon 1997 gefordert haben. (1)

Transparenz und Parti­zi­pa­tion

Der Europäische Rat hat dem Konvent, der die Grundrechte-Charta ausarbeiten soll, jedoch einen sehr engen Zeitplan gesetzt: schon im Oktober 2000 will der Konvent seinen Entwurf vorlegen, im Dezember soll die Grundrechte-Charta vom Europäischen Rat „feierlich erklärt“ werden. Dies lässt uns daran zweifeln, dass die immer wieder eingeforderte starke Bürgerbeteiligung zum Tragen kommt. Ein transparenter und partizipativer Prozess kann nicht so aussehen, dass von den 350 Millionen EU-Bürgern gerade mal ein paar Dutzend Experten an diesem Prozess beteiligt sind. Dies wird sich auch nicht durch die Internetseite des Rates (http://ue.eu.int) ändern. Als Zusammenschluß von 43 Menschenrechtsorganisationen in Deutschland ist es dem FORUM MENSCHENRECHTE wichtig, angesichts der wachsenden Macht der EU-Institutionen die Rechte der Einzelnen zu stärken.

Verbindlichkeit

Dieser Grundrechtsschutz kann nur gewährleistet werden durch eine Charta, die für alle Organe und Behörden der EU sowie ihrer Mitgliedsstaaten unmittelbar verbindlich gilt. Dies gilt gerade auch in Hinblick auf die neu hinzukommenden Bereiche der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Innen- und Justizpolitik. So muß z.B. im Bereich der Militärpolitik die Gewissensfreiheit von Kriegsdienstverweigerern geschützt werden. Die Charta muß in den Vertrag selbst aufgenommen werden, damit die in ihr verankerten Menschen- und Bürgerrechte durch die einzelstaatlichen Gerichte und letztlich durch den EuGH, zu dem die Bürger direkt Zugang haben, nachprüfbar sind. Eine bloße Proklamation der Grundrechte-Charta wäre ohne Rechtsverbindlichkeit eher kontraproduktiv und würde

nicht zu der angestrebten Identifikation der Menschen mit der EU beitragen.

Es muß Ziel sein, einen Großteil der in der Grundrechte-Charta verankerten Rechte allen Menschen zuzusprechen und nur einige ausgewählte Rechte den Unionsbürgerinnen und –bürgern vorzubehalten. Das Grundrecht auf diplomatischen und konsularischen Schutz muß auch auf anerkannte Asylbewerber ausgedehnt werden, da diese den Schutz des Herkunftslandes nicht mehr in Anspruch nehmen können. Gleichzeitig darf das Asylrecht Staatsangehörige der EU-Mitgliedsstaaten auf keinen Fall ausschließen.

Das Verfahren zur Einschränkung der in der Charta verankerten Menschen- und Bürgerrechte muß so ausgestaltet werden, dass das Europäische Parlament massgeblich beteiligt ist.

Den Grund­rech­te­schutz stärken

Keine Neuformulierung einer Charta zum Schutz der Menschen- und Bürgerrechte kann im 21. Jahrhundert auf die Berücksichtigung neuer Probleme und Gefahren verzichten, wie z.B. Umweltprobleme, informationelle Selbstbestimmung und Bio- und Gentechnologie. Eine bloße Kodifizierung bereits bestehender Grundrechte reicht deshalb nicht aus. Dabei dürfen die Errungenschaften aus früheren Zeiten nicht vergessen werden. Wir möchten auf vier Bereiche aufmerksam machen, in denen nach Stand der aktuellen Diskussion ein Rückschritt droht: wirtschaftliche und soziale Menschenrechte, das Menschenrecht auf Asyl, das Verbot der Todesstrafe und Minderheitenrechte.

Wirtschaft­liche, soziale und kulturelle Menschen­rechte

Die Unteilbarkeit der Menschenrechte gehört zu den Grundlagen der Menschenrechtsidee auf denen die internationalen Menschenrechtserklärungen aufbauen. In Kontinuität dieser Tradition wurde auf der Wiener Menschenrechenrechtskonferenz 1993 festgestellt: „Alle Menschenrechte sind universell, unteilbar, bedingen einander und hängen miteinander zusammen“. Diese Grundübereinkunft hat in den letzten Jahren zu einer erheblichen Stärkung der Anerkennung wirtschaftlicher, sozialer und kulturelle Menschenrechte geführt. In den neuen Verfassungen der letzten 15 Jahre werden wirtschaftliche und soziale Menschenrechte selbstverständlich und gleichberechtigt integriert.

Wir wenden uns gegen das Missverständnis, dass die Durchsetzung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte den Aufbau eines zentralen Versorgungsstaates erfordert. Vielmehr geht es dabei um die Schaffung und Sicherung sozialer und wirtschaftlicher Teilhabe. Der Staat hat in dieser Hinsicht Verpflichtungen auf drei Ebenen: die Respektierungspflicht, die Schutzpflicht und die Gewährleistungspflicht. Da das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich dem nationalen Recht vorausgeht, ist eine Bindung der gesetzgebenden und ausführenden Organe auf EU-Ebene und in den Mitgliedsstaaten an die Respektierung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zwingend notwendig. Die Respektierung dieser Menschenrechte muß auch Grundlage in der Beziehung zu Drittstaatenangehörigen und für alle Menschen einklagbar sein. Sozial benachteiligte Personen haben das Recht auf besondere Unterstützung. Ziel muss es sein, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte als Maßstab für politisches Handeln im Auge zu haben, auf nationalstaatlicher wie auf europäischer Ebene. Um dies zu gewährleisten, müssen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte Bestandteil der Grundrechte-Charta werden, basierend auf den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte.

Das Menschen­recht auf Asyl

Die Frage nach dem Maßstab für politisches Handeln stellt sich zur Zeit insbesondere in der Weiterentwicklung einer gemeinsamen Innen- und Justizpolitik. Grundlage für diese Politik bietet der Amsterdamer Vertrag, der am 1. Mai 1999 in Kraft trat. Bis zum Jahr 2004 sollen zentrale Bereiche der Asyl- und Migrationspolitik Gemeinschaftsrecht werden, das für alle EU-Mitgliedsstaaten bindend sein wird. Bedeutend ist die Frage nach dem Maßstab für politisches Handeln deshalb, weil der Vertrag von Amsterdam zwar eine weitgehende Verlagerung der Asyl- und Migrationspolitik auf den ersten Pfeiler anstrebt, es aber unterlassen wurde, wirkungsvolle Mechanismen der demokratischen und gerichtlichen Kontrolle bereits für die fünfjährige Übergangszeit zu installieren. Durch die Beibehaltung des reinen Anhörungsrechts für das Europäische Parlament und durch die geringen Kontrollmöglichkeiten des Europäischen Gerichtshofes bleibt es bei der untragbaren Situation, daß Regierungen im Rat als Legislative beschließen und zu Hause als Exekutive die Regelungen umsetzen, ohne einer demokratischen Kontrolle unterworfen zu sein.

Der Schutz vor Verfolgung ist ein bedeutender Rechtsfortschritt im System des allgemeinen Menschenrechtsschutzes seit 1948. Die Entwicklung des Flüchtlingsrechts bildete sich gegen vielfältige staatliche Widerstände heraus. Sein Aushöhlung ist vorprogrammiert, wenn der Flüchtlingsschutz allein, wie im Fall der EU, vom staatlichen bzw. politischen Willen der Regierungen abhängig wird. Der völkerrechtliche Bezugsrahmen des Flüchtlingsrechtes, der höhere Rang des internationalen Flüchtlingsschutzes als besondere Form des allgemeinen Menschenrechtsschutzes ist ins Zentrum zu rücken. Die Genfer Flüchtlingskonvention wird zu Recht als Magna Charta des Flüchtlingsrechtes bezeichnet. Insgesamt haben 137 Staaten die Konvention ratifiziert. Alle Mitgliedsstaaten der EU sind Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention.

Dieser völkerrechtliche Mindeststandard bildet außerdem die Grundlage für die europäische Gestaltung des Asyl- und Flüchtlingsrechtes. Auf dem Sondergipfel in Tampere sind die Staats- und Regierungschefs der EU „… übereingekommen, auf ein Gemeinsames Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stützt“ (2 ).

Die Zukunft des europäischen Asylrechts hat Auswirkungen nicht nur auf den Menschenrechtsstandard in Europa, sondern auch weit darüber hinaus, wie Jean Noel Wetterwald, Vertreter des UNHCR kürzlich feststellte: „Die zukünftige EU-Asylpolitik wird maßgeblich auch darüber entscheiden, wie im nächsten Jahrhundert das internationale Schutzsystem für Flüchtlinge überhaupt aussehen wird. Die politisch Verantwortlichen müssen sich bewußt sein: Die Wertegemeinschaft Europäische Union steht hier in der Verantwortung für einen Grundwert, nämlich für die Institution des Asyls, deren Einrichtung man durchaus auch nach den Erfahrungen in diesem Jahrhundert als Antwort der Zivilisation auf die Barbarei begreifen kann.“

Ein grundrechtlich garantiertes Recht auf Asyl und eine Rechtsschutzgarantie sind die beste Garantie dafür, daß die Europäischen Union und ihre Mitgliedsstaaten ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen gerecht werden. Die Rechtswegegarantie ist das Rückgrat des modernen Rechtsstaates. Die Aufnahme des Flüchtlingsschutzes in die Grundrechte-Charta ist die beste Gewähr, daß die EU ihren eigenen Ansprüchen gerecht würde. Der Text der Charta sollte unbedingt einen expliziten Verweis auf die Genfer Flüchtlingskonvention enthalten.

Das Verbot der Todesstrafe und der Folter

Ebenfalls explizit verankert werden muß das Verbot der Todesstrafe und der Folter. Die Verankerung des Verbots der Todesstrafe und der Folter muß unabhängig von Spekulationen über eine Wiedereinführung der Todesstrafe als ein Menschenrecht in der Charta verankert werden. Mit einer Grundrechte-Charta, die das Verbot der Todesstrafe und der Folter nicht explizit enthält, würde die EU ausserdem die Bemühungen um ein weltweites Verbot der Todesstrafe und der Folter negativ beeinflussen.

Das Prinzip des individuellen Abschiebeschutzes entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention muß in die Charta aufgenommen werden. Hier muß ein Verweis auf das Verbot der Todesstrafe und der Folter erfolgen.

Minderheitenrechte

Niemand darf wegen seiner Rasse, Abstammung, Nationalität, Sprache, seines Geschlechts, seines Alters, seiner sexuellen Identität, seiner sozialen Herkunft oder Stellung, seiner Behinderung, seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung bevorzugt oder benachteiligt werden.“

Die besonderen Bedürfnisse von Minderheiten müssen im Sinne der Gleichbehandlung Eingang in der EU-Grundrechtecharta finden. Denn Minderheiten sind Bestandteil einer jeden Gesellschaft. Minderheiten werden immer wieder Opfer von Diskriminierungen, die von Intoleranz bis hin zu physischer Vernichtung reichen.

Das A und O des Minderheitenschutzes ist das Prinzip der Gleichbehandlung. Das daraus abgeleitete Diskriminierungsverbot muss für die EU-Bürgerinnen und Bürger wie für Drittstaatenangehörige in gleicher Weise gelten. Richtig verstanden bedeutet Gleichbehandlung, dass Personen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Minderheit Nachteile erlitten haben, eine besondere Unterstützung zusteht. Dies gilt für alle Minderheiten, seien sie ethnische, sprachliche, religiöse oder soziale Minderheiten.

Unbewältigte Minderheitenfragen, wie die Missachtung von sprachlichen Minderheiten, gibt es sowohl in den EU-Mitgliedsstaaten als auch in den Ländern, die der EU möglichst bald beizutreten wünschen. Die Aufnahme von Minderheitenrechten in die Grundrechte-Charta würde klar signalisieren, dass sich die künftige Politik der EU am Schutz von Minderheiten und an dem Prinzip der Nicht-Diskriminierung ausrichtet. Dies schließt insbesondere die Respektierung und den Schutz sowie die Förderung der Minderheitensprachen ein.

Für eine glaub­wür­dige Menschen­rechts­po­litik

Die EU-Grundrechte-Charta wird Auswirkungen haben auf die internationale Menschenrechtsdiskussion, insbesondere auf die konzeptionelle Weiterentwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte, auf das Asylrecht, das Verbot der Todesstrafe und auf den Umgang mit Minderheiten. Hier wird die EU ihre Glaubwürdigkeit als ein politisches Gebilde, das sich an den Menschenrechten orientiert, beweisen müssen. Nur dann sind menschenrechtliche Klauseln in internationalen Verträgen überzeugend.

Die EU muss in Zukunft eine kohärente und konsequente Menschenrechtspolitik betreiben: nach außen und nach innen.

Fußnoten:

(1) Siehe Dokumentation des Kongresses „Für ein Europa der politischen und sozialen Rechte“ (Bonn, 2.-3.Juni 1997; Materialien Nr. 8)

(2) Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Europäischer Rat Tampere. Oktober 1999

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