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Gedanken nach Nizza

01. März 2001

Mitteilung Nr. 173, S. 6-7

Die so mühsam ausgehandelten Verträge sind seit kurzem unterzeichnet; das keinesfalls optimale Ergebnis kann also in die Umsetzung gehen. Es betrifft insbesondere die Voraussetzungen für die wichtige und gewollte Erweiterung nach Osten.
Teil dieser Voraussetzungen soll ja auch die Grundrechtecharta sein, die in Nizza ohne weitere Diskussion unterzeichnet und damit verabschiedet wurde – nur: was wird nun aus ihr?
Verglichen mit den von Seiten der Regierungen ausgehenden Vorbereitungen auf den Europäischen Rat in Nizza war sie vom Konvent unter Vorsitz von Roman Herzog erarbeitet worden, in welcher Zusammensetzung und unter welchen Bedingungen haben wir schon berichtet. Der Konvent hat viele gesellschaftliche Gruppen, Bürgerorganisationen, darunter auch die gemeinsam mit anderen Bürgerrechtlern erarbeiteten Stellungnahmen der HU, sowie Hunderte von Eingaben gehört, zum Teil mit eingearbeitet, und er informierte bis zum Abschluss der Arbeiten ständig im Internet – also insgesamt der Versuch, den Bürgern Mit-Wissen und Mit-Arbeit zu ermöglichen.
Dennoch war die Wahrnehmung in der Bevölkerung offenbar wenig verbreitet, und viele haben nur „am Rande mal“ davon gehört.
Und das Ergebnis, jedenfalls Teile der Charta, stieß bei vielen Gruppen auf Widerspruch, den sie auch formulierten und während des Europäischen Rates in Nizza deutlich vertraten: der Europäische Gewerkschaftsbund und viele Bürgerrechtsgruppen, darunter Amnesty International, Médecins du Monde, die Europäischen Grünen, die Europäischen Märsche gegen die Arbeitslosigkeit, alle mit deutscher Beteiligung – und viele andere, mehr als 50.000 reklamierten ein bürgernahes Europa: „Gemeinsam, alle zusammen, für ein solches Europa“ war die Devise in den Straßen von Nizza – wo es leider auch, insbesondere durch militante Mitglieder der ATTAC1 zu Gewalt kam, die aber von den Allermeisten verurteilt wurde.
Natürlich hat es vor der Unterschrift unter die Charta Abänderungen des Textes nicht mehr gegeben. Die Paragrafen, die z.B. soziale Rechte von Arbeitnehmern zum Inhalt haben, sind in der Formulierung deutlich vager und weniger präzise als jene zur Sicherung von Eigentum und Besitzständen: die Ausformulierungen sind – mit einer ganzen Reihe anderer – bereits während der ICC-Tagung in Achberg vom 6.-8. Oktober 2000 unter Mitwirkung der Europabeauftragten der HU herausgearbeitet und in Veränderungs-vorschläge umgewandelt worden.
Die Arbeitsgruppe Grundrechtecharta im Rahmen des Forums Menschenrechte hat nach Nizza beschlossen, weiter zu arbeiten und hat sich seither auch einmal kurz getroffen. Viele sehen in der Grundrechtecharta die Basis für die Ausarbeitung einer europäischen Verfassung. So auch Jacques Chirac, der dem Europäischen Parlament (EP) anlässlich der Unterrichtung der Abgeordneten über die Ergebnisse von Nizza versprach, dass das „Parlement de Strasbourg serait ‘étroitement associé‘ á  la réflexion sur lávenir de l‘ူurope prévue dans le traité de Nice qui pourrait déboucher en 2004 sur une constitution européenne”
Wie wir im Dezember letzten Jahres alle lesen konnten, hatte das Straßburger Parlament seiner Enttäuschung über die Ergebnisse von Nizza deutlich Ausdruck gegeben und Jacques Chirac „dans une atmosphére glaciale“, also eiskalt, empfangen.
Es muss und wird also weitergehen in Sachen Grundrechte und europäischer Verfassung. Auch „die SPD-Landtagsfraktion (in Mainz) beabsichtigt, die Debatte über die Entwicklung eines europäischen Verfassungsgefüges fortzusetzen“ (Vorwärts, 12/2000).
Jo Leinen, MdEP und dort zuständig für die Charta der Grundrechte meint, dass es noch vor den nächsten Europawahlen im Sommer 2004 eine Europäische Verfassung geben könnte, die ein zweiter Konvent ausarbeiten sollte und wozu es im Jahr 2001 eine große öffentliche Debatte mit allen interessierten Bürgern geben müsse.
Wie viele mögen das sein? „Das soziale und demokratische Europa ist nur mit unserer aktiven Beteiligung zu verwirklichen“ (Leinen).
Oder hat Regis Debray recht mit seinen Nach-Nizza-Thesen, die er Mitte Februar in einer vom Kanzleramt in Berlin ausgerichteten Diskussion vorstellte? Nämlich dass u.a. „gerade die Inkonsistenz Europas .. seine öffentliche und private Akzeptanz .. ermöglicht“? Und dass weitergehen zu wollen nur zu Enttäuschungen führen würde? Dass es „zu viele nutzlose Worte und Wortgefechte gibt? Aber das hindert das Denken und die Dinge nicht, Fortschritte zu machen. Zum Glück.“ (DIE ZEIT Nr. 8/2001).
Jedenfalls hat Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Nizza am 19. Januar 2001 klargestellt, „dass die Diskussion um Europa weitergehen wird“, … u.a. über „den künftigen Status der Grundrechtecharta.“
Kurzinformationen
Das Europäische Parlament (EP) beschäftigt sich z.Zt. unter vielen anderen Themen mit einem Vorschlag für eine Richtlinie des EP und des Rates über die Genehmigung elektronischer Kommunikationsnetze, und es beteiligt sich aktiv an der Gen-Debatte. Es hat in seiner ersten Sitzungswoche 2001 im Januar einen nichtständigen Ausschuss für Humangenetik eingesetzt. Vorsitzender ist der deutsche Abgeordnete Dr. Peter Liese. (EUP/ED).
EUROPOL
Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin hat bei den Max-Planck-Instituten Freiburg und Heidelberg ein Gutachten in Auftrag gegeben, das die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Kontrolle einer mit umfassenden Kompetenzen ausgestatteten EUROPOL-Behörde aufzeigen soll.
Frau Däubler-Gmelin: „Bei einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung muss auch die wirksame Kontrolle der Ermittler garantiert sein.“
Bei den kommenden Verhandlungen für eine Kompetenzausweitung von EUROPOL soll also zugleich die rechtsstaatliche Einbindung dieser wichtigen europäischen Polizeibehörde gesichert werden. Das Gutachten der beiden Max-Planck-Institute liegt jetzt vor und heißt: Justizielle Einbindung und Kontrolle von EUROPOL.
Und last but not fine:
Siehe da, das EP geht unter die Leute!
Im Mainzer Rosenmontagszug (dem hundertsten) entdeckte mein hocherfreuter Blick – und wollte es kaum glauben – einen großen, langen, sehr geschmackvoll gestalteten und richtig schönen Motiv-Wagen, wie sich´s gehört blau auf weiß, des EP, mit diesen seinen „Insignien“ und einer großen Schar venezianisch anmutend gewandeter „Mitstreiter“, klar und herausragend erwähnt von den beiden kompetenten Kommentatoren (ZDF) des Mainzer Rosenmon-tagszuges. Welch´ höchst erfreuliche Art, sich darzustellen!
                                                                                   Gisela Goymann

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