Themen / Innere Sicherheit

Flüchtlinge als Terroristen und die Anschläge von Paris als Argument

15. August 2016

in: vorgänge Nr. 214 (Heft 2/2016), S. 111-119

Die jüngsten Attentate haben die Debatte um die Beobachtung und die Ausweisung von Gefährdern erneut angeheizt. Allein die Vorstellung, dass sich unter den derzeit so zahlreich nach Europa kommenden Flüchtlingen auch potenzielle Attentäter einschleichen könnten, führt zu heftigen Reaktionen. Jannik Rienhoff untersucht in seinem Beitrag, welche Bedeutung die verschiedenen Maßnahmen der Überwachung von Gefährdern haben – und welche rechtsstaatlichen Kosten damit verbunden sind.

Einleitung

Die Anschläge von Paris und Brüssel haben einmal mehr die Gefahr von islamistischem Terrorismus mitten in Europa gezeigt. Wenn hierzu noch die sogenannte Flüchtlingskrise kommt, also die vergleichsweise große Migrationsbewegung aus Kriegs- und Krisengebieten nach Nord- und Westeuropa, dann folgt eine mediale Auseinandersetzung, die ihresgleichen sucht. Debatten vermischen sich, Berichte über einige wenige Terroristen, die sich als Geflüchtete tarnen, und mehr oder weniger konkrete islamistische Anschläge in Deutschland stehen auf der Tagesordnung. So substanzlos, abstrakt und aufgeladen der Diskurs auch ist, am Ende läuft es meistens auf eines hinaus: Der Ruf nach einem starken Staat, der „uns“ schützt. Dieser Ruf meint zumeist Gesetzesverschärfungen, vor allem im Strafrecht, mehr Polizei und mehr Geheimdienst mit mehr Befugnissen (trotz aller Skandale), die Bundeswehr im Inneren und vieles mehr. Die Verschärfungen im (Straf-)Recht sollen im Folgenden im Mittelpunkt der Analyse stehen. Hierbei werden verschiedene Beispiele herangezogen, um eine Tendenz zu beschreiben, die sogleich einer kritischen Reflexion unterzogen wird. Untersucht werden das Ausreiseverbot, die Überwachung von Fluggastdaten und die sogenannte Gefährderüberwachung. Der Hauptfokus liegt mithin bei der Entwicklung in Deutschland in den letzten Jahren und einer Kritik aus bürgerrechtlicher Perspektive, die Freiheitsrechte, Persönlichkeitsrechte und Datenschutz trotz allem zu verteidigen sucht.

Straf­ver­schär­fungen als Konsequenz aus terro­ris­ti­schen Anschlägen

Deutschland hat nicht zuletzt mit dem Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (GVVG)(1) sein Strafrecht weiter verschärft. Die Normierungen im StGB gehen dabei vor allem auf zwei Resolutionen des UN-Sicherheitsrates (Resolution 2170 [2014] und 2178 [2014]) zurück. Diese fordern die Einreise, den Transit sowie die Ausreise von TerroristInnen zu verhindern und entsprechende Taten unter Strafe zu stellen.

Die erste vorgebrachte Kritik äußert sich darin, dass der Sicherheitsrat quasi legislativ tätig wird und den Mitgliedsstaaten konkrete rechtliche Rahmenbedingungen vorgibt, obwohl ihm keine eigene Rechtssetzungsbefugnis zusteht.(2) Seine Entscheidungen unterliegen keiner rechtlichen Kontrolle. Die Debatte über die Möglichkeit, den Staaten konkrete Straftatbestände vorzuschreiben, wird nicht zufällig seit dem 11. September 2001 geführt. Die genannten Resolutionen des Sicherheitsrates sind dabei sehr weit formuliert. Nicht nur Versuche, sondern auch Taten weit im Vorbereitungsstadium sollen unter Strafe gestellt werden. Insgesamt hat der deutsche Gesetzgeber seit dem 11. September sukzessive das Strafrecht verschärft und auch die Befugnisse der Sicherheitsbehörden erweitert. Dies wird zum Teil mit UN-Resolutionen und zum Teil mit Unionsrecht begründet, doch in einigen Fällen ging der deutsche Gesetzgeber deutlich über das gebotene Maß hinaus.(3) Dabei ist nicht einmal der Begriff des Terrorismus einheitlich definiert, da er historisch und politisch wandelbar ist.(4) Das deutsche StGB spricht unter anderem (vielleicht aber auch gerade wegen dieser begrifflichen Unklarheiten) von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten (z.B. § 89a StGB).

Terrorismusbekämpfung heißt also Ausweitung und Verschärfung des Strafrechts und Ausweitung von Eingriffsbefugnissen. Hierbei geht es vor allem um eine Vorverlagerung der Strafbarkeit.(5) Die §§ 89a, 89b und 91 StGB sind die zuletzt eingeführten Normen und betreffen die Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat. Schon die Ausreise in ein von terroristischen Gruppierungen beherrschtes Gebiet soll verhindert werden, wie es die Resolution fordert. Ebenso wie die Tathandlung, finanzielle Mittel für eine terroristische Organisation sammeln zu wollen i.S.d. § 89c StGB, liegt dies weit vor einer Vorbereitung einer Straftat. Mit den neuen §§ 89a II Nr. 2a (Besuch eines „Terrorcamps“) und 89c StGB wird das bisherige Terrorismusstrafrecht rechtsstaatlich noch unterboten.(6) Dementsprechend führte die Einführung zu Kritik in der rechtswissenschaftlichen Literatur. Auch der BGH(7) sieht die nur vage Nähe zu einer konkreten Rechtsgutsgefährdung als verfassungsrechtliches Problem.

Trotz der Vorfeldkriminalisierung geht es bei den Regelungen des GVVG, den §§ 89a ff. StGB und den §§ 129 ff. StGB um Strafverfolgung. Die Folge sind weiterhin Festnahmen und Verurteilungen. Gleichwohl geht es im Kern auch um Prävention, also um das Verhindern von zukünftigen möglichen Straftaten durch die Inhaftierung von Verdächtigen.(8) Nicht die Ahndung vergangener Taten steht im Vordergrund, sondern die eigentlich polizeiliche Aufgabe(9) der Verhütung zukünftiger möglicher Rechtsgutsverletzungen. Dabei gehen die Normen weit über die bisherige Vorfeldahndung nach z.B. § 30 II StGB (Verabredung zur Straftat) oder gar §§ 66 ff. StGB (Sicherungsverwahrung) hinaus, sonst wären die neuen Tatbestände obsolet.

Eine präventive Ausrichtung des Strafrechts ist zwar denkbar und eine Orientierung an negativer Spezialprävention ist auch allgemein anerkannt. Allerdings bewegt sich diese immer in der Grauzone zu einem maßlosen Sicherheitsrecht, weil sie straftheoretisch grenzenlos ist. Deswegen normiert § 46 I StGB auch die Schuld als Grundlage der Strafzumessung. Gefährlichkeit ohne Unrechtsgehalt ist (noch) kein Strafgrund. Zahlreiche strafrechtliche Grundsätze basieren hierauf.(10)Die neuen Verschärfungen scheinen an diesem Grundsatz zu rütteln.

Problematisch ist überdies, dass die Normen als Grundlage für strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen dienen. Die weit vorgelagerte Strafbarkeit eröffnet den Sicherheitsbehörden zahlreiche Methoden und Maßnahmen. Schon der § 129a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) gilt unter bürgerrechtlichen Gesichtspunkten als Ermittlungsparagraph und nicht als Verurteilungsparagraph, weil sich zwar viele polizeiliche Maßnahmen auf den Verdacht hierauf beziehen, es vor Gericht aber selten zu einer Verurteilung nach den §§ 129 ff. StGB kommt.

Insgesamt ist die Strafrechtsverschärfung im Kontext einer Zunahme von Prävention sowie den Debatten um ein Risiko- oder Gefährdungsstrafrecht zu sehen, in denen Sicherheit als oberste Maxime gilt.

Beispiele für konkrete präventive Maßnahmen und außer­straf­recht­liche Verschär­fungen

Eine Maßnahme der Verschärfung sind die sogenannten Ausreiseverbote. Am 30. Juni 2015 ist das „Gesetz zur Änderung des Personalausweisgesetzes zur Einführung eines Ersatz-Personalausweises und zur Änderung des Passgesetzes“(11) in Kraft getreten, welches identisch mit dem Entwurf der SPD und der CDU/CSU-Fraktion ist. Ziel ist laut Beschlussempfehlung und Gesetzesentwurf die effektive Verhinderung staatsschutzrelevanter Reisen von radikalisierten Personen, insbesondere im Zusammenhang mit dem dschihadistischen Terrorismus, also dem islamistischen Kampf gegen sogenannte Ungläubige. Außerdem sollen die Sicherheit der aufzusuchenden Staaten geschützt und diplomatische Spannungen verhindert werden.

Einschlägig soll das Gesetz für drei Personengruppen sein, so § 6a PAuswG (Fassung seit 2015): Es richtet sich erstens gegen Personen, die in Krisenregionen reisen, somit die §§ 129a bzw. 129b StGB verwirklichen und damit die Sicherheit Deutschlands gefährden. Hierbei ist anzumerken, dass der Islamische Staat (IS, ISIS/ISIL, ad-Daula al-islāmīya) als terroristische Vereinigung eingestuft wird.(12) Zweitens soll es Personen betreffen, die Gewalt für internationale politische oder religiöse Belange anwenden, unterstützen oder hervorrufen. Die dritte Gruppe umfasst Personen, die sich nach § 89a StGB strafbar gemacht haben könnten.

Laut Gesetz kann dann der Personalausweis entzogen werden. Betroffene erhalten einen Ersatz-Ausweis, der nicht zum Verlassen der Bundesrepublik berechtigt. Der Entzug des Passes ist darüber hinaus gemäß §§ 7 und 8 PassG möglich. Die Passentziehung und die räumliche Beschränkung des Geltungsbereichs des Personalausweises stellen einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dar und gelten auch für die Zukunft.(13)

Diskutiert wird zudem, ob Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft die deutsche entzogen werden kann. Allerdings ist es mehr als fraglich, ob dies als Sanktion sinnvoll bzw. überhaupt zulässig sein kann.(14)

Damit folgt nun auch das Recht über Pässe und Ausweise der strafrechtlichen Devise, Gefahren weit im Voraus zu begegnen sowie die Grenzen zwischen Sicherheitsrecht, Rechtsgüterschutz und strafrechtlicher Reaktion zu verwischen.(15) Ausreichend für eine Passversagung oder Entziehung ist nicht eine belegbare objektive Voraussetzung, sondern eine positive Gefahrenprognose.(16) Die Prognose muss lediglich auf konkreten Tatsachen beruhen.

Der Zweck der Gefährdung der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik kann jedoch als Einschränkung der Vorschrift gesehen werden. Schließlich verlangt auch die Gesetzesbegründung einen überragend wichtigen Grund.(17) Dies kann im Wege der Auslegung dazu führen, dass die Vorschrift abgemildert wird. Hier sind die Gerichte gefragt. Problematisch aus kriminologischer Perspektive ist vor allem die Stigmatisierung durch eine Kennzeichnung bzw. ein Sonderdokument für Verdächtige. Auch in der Praxis wird sich die Regelung noch beweisen müssen. Allein die Einschätzung, wann z.B. eine geplante Reise eine terroristische Ausreise ist, erscheint schwierig. Insgesamt ist die Praxistauglichkeit und Präventionswirkung mehr als fraglich.(18)

Ironischerweise ist ein Ausreiseverbot (hier für AusländerInnen) kein Grund, eine Ausweisung nicht vorzunehmen. So argumentierte beispielsweise ein Kläger vor dem VGH München:(19)Er wollte sein Ausreiseverbot wegen Sympathie für den IS als Argument gegen seine Ausweisung nach § 53 AufenthG vorbringen. Dies ließ das Gericht aber nicht zu. Eine Ausweisung eines mutmaßlichen Terroristen in die Türkei sei dann doch besser, als ihn von einer Beteiligung an kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien abzuhalten.

Die Fluggastdatenspeicherung kann als weiteres Beispiel für gesetzliche Verschärfungen angesehen werden. Die neue Richtlinie zur Speicherung und Auswertung von Passagierdaten (Passenger Name Records)(20) in der EU wird dieses Jahr in Kraft treten. Die Bemühungen werden  auch mit den Anschlägen in Paris gegen die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo legitimiert.(21) Es scheint möglich, dass sich hierdurch die Gelegenheit ergab, das lange geplante Projekt endlich durchzusetzen. Damit folgt die EU einer anlasslosen Massenüberwachung von allen Personen, die EU-Hoheitsgebiet betreten oder verlassen. Doch diese Pauschalisierung war gerade Kritik des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Urteil zur Vorratsdatenspeicherung(22). Wie genau die Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt wird, ist bisher unklar, und auch die Reaktion der Justiz offen. Die Anschläge vom 11. September und die allgemeine Bedrohungslage reichten für eine Legitimation der Rasterfahndung beispielsweise nicht aus.(23) Ob die Anschläge von Paris und Brüssel an der Einschätzung des BVerfG etwas ändern, wird sich zeigen. Bundesinnenminister de Maizière erklärte nach den Anschlägen auf den Flughafen von Brüssel im März 2016, dass Datenschutz zwar „schön“ sei, aber Sicherheit wichtiger.(24) Allein die Wortwahl zeigt deutlich den Trend und die Prioritätensetzung.

Eine relativ neue Entwicklung im Bereich der polizeilichen Überwachung von sogenannten Gefährdern sind die Gefährderansprachen. Diese sind inzwischen fester Bestandteil der Polizeiarbeit und zugleich gutes Beispiel für die Verlagerung einer staatlichen Intervention weit vor eine konkrete Rechtsgutsverletzung.(25) Ziel ist das Aufbauen einer Hemmschwelle und das Erzeugen von Druck und des Gefühls, überwacht zu werden. Wie viele polizeiliche Maßnahmen wurde sie zunächst im Bereich des Fußballs angewendet – vielleicht sogar ausprobiert. Dabei ist die Grenze zwischen Beratung und Information durch die Polizei und einem eingreifenden Akt, der die Freiheitsrechte des Betroffenen einschränkt, fließend.(26) Rechtsgrundlage ist allein die Generalklausel der Gefahrenabwehr, was einerseits für einen Grundrechtseingriff eher dünn erscheint und andererseits eigentlich hinreichend konkrete Gefahren voraussetzt.(27)

Um die islamistische Szene und die hiervon möglicherweise ausgehende Gefahr zu kontrollieren, sollen relevante Personen überwacht und auch angesprochen werden. Das BKA spricht von einer wachsenden Gefahr „mitten unter uns“(28) und zahlreiche PolitikerInnen fordern eine stärkere Überwachung, sodass mögliche AttentäterInnen vor allem auch abgeschreckt werden und einen „stärkeren Druck merken“ (Herrmann, CSU). Dies betrifft vor allem sogenannte RückkehrerInnen aus Syrien. Diese sind teilweise kampferfahren und ideologisch stärker geprägt als vorher. Jedoch besteht immer noch die Frage, ob eine Beteiligung an Kampfhandlungen in Syrien auch terroristische Aktivitäten in Deutschland oder Europa zur Folge hat bzw. haben muss. Dabei gehen die Sicherheitsbehörden von über 400 Rückkehrerinnen(29)aus, jedoch soll nur ein Teil von diesen überhaupt aktiv an Kampfhandlungen teilgenommen haben.

Eine vollständige Überwachung aller GefährderInnen ist schon aus praktischen Erwägungen nicht zu leisten. Auch die französische Variante, rein aus der Gefährlichkeit einen Hausarrest zu verhängen, erscheint rechtlich bedenklich und praktisch kaum durchführbar. Von der SPD kommen aber auch Vorschläge wie Meldeauflagen (bei Fußballfans nicht unüblich) oder vergleichbare Reisebeschränkungen sowie die Nutzung von Kommunikationsmitteln temporär zu unterbinden, was praktisch kaum durchführbar wäre.(30) Gefordert werden neben Drohnenüberwachung auch die Befugnisse von Polizei und Verfassungsschutz gegenseitig anzunähern. Insgesamt geht der Diskurs in eine klare Richtung, und diese ist bei weitem keine zur Stärkung von BürgerInnen- oder gar Freiheitsrechten.

Neuer Diskurs: Flüchtlinge als Terro­ris­tInnen

Vergleichsweise neu hinzugekommen ist die Debatte, ob sich unter den Geflüchteten, die in den letzten Jahren nach Europa und Deutschland gekommen sind, auch AnhängerInnen islamistischer Gruppierungen befinden. Innerhalb der Politik und Medien in Deutschland wird über die Gefahr diskutiert, dass sich unter den Geflüchteten – vor allem aus Syrien – auch TerroristInnen befinden könnten. Im Juni 2015 mussten die Chefs deutscher Geheimdienste bereits im Parlamentarischen Kontrollgremium Auskunft geben, ob unter den hierher reisenden Menschen nicht auch IS-KämpferInnen seien. Allerdings verneinten sie eine Gefahr. Außerdem bestehe für diese ein leichterer Weg nach Europa, nämlich per Flugzeug und nicht via Schlauchboot. Das Thema wird trotzdem genutzt, um weiter Angst zu schüren, so auch beispielsweise durch den tschechischen Präsidenten Zeman, den US-Präsidentschaftskandidaten Trump oder den früheren deutschen Innenminister Friedrich.(31)

Bisher gibt es nur wenige Fälle, in denen Kämpfer des IS nach Deutschland eingereist sind. Jedoch war einer der Attentäter von Paris mit einem (gefälschten) syrischen Pass als Flüchtling getarnt nach Europa gelangt. Die meisten AttentäterInnen kamen jedoch aus den EU-Ländern selbst. Die sogenannten home-grown-TerroristInnen sind immer noch ein marginalisiertes Phänomen.

Die Menschen, die vor dem IS fliehen, mit selbigen gleichzusetzen, ist mehr als fragwürdig und populistisch. Außerdem muss bei polizeilichen Maßnahmen klar differenziert werden, ob die IS-AnhängerInnen auch tatsächlich gekommen sind, um hier terroristisch aktiv zu werden. Zudem ist die Zahl der als fliehende SyrerInnen getarnten KämpferInnen und der hier aufgewachsenen IS-AnhängerInnen extrem niedrig im Vergleich zur großen Zahl der vor dem IS fliehenden Menschen. Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen, wäre daher völlig falsch. So musste auch Justizminister Heiko Maas nach den Anschlägen von Brüssel umgehend deutlich machen, dass die Attentäter keine Flüchtlinge waren.

Die oben genannten Bedenken bzgl. der Überwachung potenzieren sich nun, wenn diese auf der wackeligen Basis einer Vermutung zulasten der Geflüchteten noch weiter ins Vorfeld gezogen werden.

Kritik am Sicher­heits­recht

Die Debatte um Präventionsstaat und Risikostrafrecht wird innerhalb der Strafrechtstheorie seit langem geführt. Der Wandel im materiellen Recht führt zu einer anderen Maxime der Kriminalpolitik. Die Bearbeitung von Konflikten, die Verhinderung von Rechtsgutsverletzungen oder von sozialschädlichen Abweichungen – wie es die liberale, bürgerliche Rechtstheorie fordert – stehen nicht mehr im Vordergrund, sondern eine Risikobeschränkung und Regulierung, die einer Kontrolle von Abweichungen und damit einer Normalisierung dienen.(32) Wahrscheinlichkeitsüberlegungen für ein Risiko werden zum Maßstab. Der fordistische Kontrollstaat, der Abweichungen unterbinden sollte, wandelt sich zum post-fordistischen Präventivstaat.(33) Kritisch dabei ist, dass mit der Zunahme der staatlichen Verantwortung für Risiken auch der staatliche Handlungsauftrag vergrößert wird. Die Bekämpfung jedes Risikos wird zur Staatspflicht und Aufgabe kriminalpolitischer Entscheidungen. Zunehmend werden deshalb neutrale und sozialadäquate Handlungen pönalisiert. Die aktuelle Kriminalpolitik wird zur »hyperpräventiven und umfassenden Gefahrenabwehr«, für die von einigen Autoren eigens ein Grundrecht auf Sicherheit(34) proklamiert wurde.(35) Dieses Grundrecht wurde nun sogar auf europäischer Ebene bestätigt. Der EuGH liest aus Art. 6 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) ein Recht auf Sicherheit heraus, was eigentlich vor dem Staat schützen soll und nicht Schutz durch den Staat gewährt. Dies wurde bzgl. der Vorratsdatenspeicherung bereits erwähnt und am 15. Februar 2016 in einem Streitfall um die Inhaftierung eines Asylsuchenden ausdrücklich bestätigt.(36) Ob sich hieraus ein Anspruch ableiten lässt, bleibt offen. Die Folgen wären fatal. Durch die Entscheidung, nationale Sicherheit als eigenständiges Grundrecht zu deklarieren, entfalten sich Schutzansprüche, die jetzt neben dem Recht auf Freiheit stehen. Sicherheit wird zum Selbstzweck.(37) Dabei werden Grenzen zwischen Polizei und Verfassungsschutz verwischt und die Aufgabenfelder vermischt. Angst wird zur Grundlage für das Strafrecht und das Sicherheitsrecht. Terrorismus beeinflusst das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung immens, was jedoch nicht zwingend mit einer veränderten Gefährdungslage einhergeht. Risiken werden anders wahrgenommen. Die Kriminalitätsfurcht steigt, obwohl sich die objektive Lage nicht verändert. Dies ermöglicht einen breiten Konsens für Strafverschärfungen(38) und führt zu mehr Schäden am Rechtsstaat als zu Gewinnen für die Sicherheit.(39)

Nicht nur im Falle der Anschläge auf Charlie Hebdo waren die Täter keine Unbekannten und standen sogar z.B. auf der Fahndungsliste für den Schengen-Raum oder auf der No-Fly-Liste der USA. Trotzdem wird Überwachung durch den neuen Diskurs und die neue Zielrichtung zur Massenüberwachung und nicht zur konzentrierten Überwachung Einzelner. Trotzdem steht weiterhin eine massenhafte Überwachung ohne eine konkrete Zielrichtung auf der Agenda. Hierbei spielen mediale Diskurse und Unterstellungen gegen Geflüchtete eine nicht unwichtige Rolle. Dem muss konsequent entgegen gewirkt werden, insbesondere weil der Diskurs gegen Geflüchtete von Vorurteilen und unsäglichen Argumentationen überflutet ist. Verschärfungen sind dabei keine Beschwichtigung der Bevölkerung, sondern untergraben Integrationsdiskurse und letztendlich auch den Rechtsstaat.
Wichtig ist, dass die Beweislast bei den BefürworterInnen einer Gesetzesverschärfung bleiben muss. Auch wenn die Verhinderung von terroristischen Aktivitäten ungemein wichtig ist, muss jede Novellierung des StGB rechtspolitisch sinnvoll, verfassungsrechtlich zulässig und zweckdienlich sein. Während progressive Ideen Freiheit als Grundlage für Sicherheit sehen, gilt in der liberalen, bürgerlichen Rechtstheorie Sicherheit als Garant für Freiheit. Bei den aktuellen Entwicklungen wird Sicherheit aber zu einem eigenen, unabhängigen Gut erhoben. Es scheint, als hätte Benjamin Franklin 1775 bereits vorausgesehen, dass wir am Ende beides verlieren werden.

DR. JANNIK RIENHOFF   ist Jurist und Politikwissenschaftler. Er arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philipps-Universität Marburg sowie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift Forum Recht.

Anmerkungen:

(1)  Bundesgesetzblatt I, 2015, Nr. 23, 926.

(2)  Payandeh, ZRP 2014, 241 (241).

(3)  Payandeh, ZRP 2014, 241 (242).

(4)  Payandeh, ZRP 2014, 241 (242).

(5)  Puschke, vorgänge #212, 36.

(6)  Puschke, StV 2015, 457 (464).

(7)  Der BGH sieht z.B. eine verfassungskonforme Auslegung als notwendig an: BGHSt 59, 218.

(8)  Sieber, NStZ 2009, 353 (354).

(9)  Das heißt aber keinesfalls, dass Terrorismus außerhalb des Strafrechts bekämpft werden müsse.

(10) Sieber, NStZ 2009, 353 (357).

(11) Bundesgesetzblatt I, 2015, Nr. 24, 970.

(12) Siehe z.B. BGH, Beschluss vom 2. Juli 2014, Az. AK 16/14.

(13) VG Berlin, Urteil vom 06.03.2012 – VG 23 K 59.10.

(14) Payandeh, ZRP 2014, 241 (243).

(15) Kugelmann, NVwZ 2016, 25 (25).

(16) VG Berlin, Urt. v. 6.3.2012–23 K 59/10, BeckRS 2012, 49190.

(17) BT-Drs. 18/3831, 1; Kugelmann, NVwZ 2016, 25 (26).

(18) Künast, vorgänge #212, 34.

(19) VGH München, Beschluss vom 03.02.2016 – Aktenzeichen 10 ZB 15.1413.

(20) Hierzu gehört neben der Reiseroute auch z.B., ob das Essen halal oder koscher war und mit wem man sich ein Hotelzimmer geteilt hat.

(21) Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. Februar 2015 zu Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung (2015/2530(RSP)).

(22) EuGH, Urteil vom 08.04.2014, Aktenzeichen C-293/12 und C-594/12.

(23) BVerfG, Beschluss vom 4.4.2006, Aktenzeichen 1 BvR 518/02.

(24) Die tageszeitung, „Getrennte Datentöpfe“ vom 24.3.2016.

(25) Jasch, KJ 3/2014, 237 (239).

(26) Der „Rat“, an einer Demonstration nicht teilzunehmen, ist z.B. unzulässig: OVG Lüneburg, Urteil vom 22. September 2005, Aktenzeichen 11 LC 51/04.

(27) Jasch, KJ 3/2014, 237 (240); ausführlich: Kießling, DVBl 19/2012 1210, die eine Einordnung als Gefahrenabwehr ablehnt und eine Rechtsgrundlage als Gefahrenvorsorge fordert.

(28) BKA-Chef Münch, Die Welt vom 22.11.15.

(29) Münch im ARD-Morgenmagazin, Januar 2016, https://www.tagesschau.de/inland/bka-muench-gefaehrder-101.html (letzter Zugriff: 3.3.16).

(30) Bewarder, Die Welt vom 6.12.2015, http://www.welt.de/politik/deutschland/article149660751/ SPD-will-Gefaehrder-mit-Drohnen-ueberwachen-lassen.html.

(31) http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-in-deutschland-die-maer-vom-eingeschlichenen-terroristen-1.2691972 (letzter Zugriff: 3.3.16).

(32) Foucault, Überwachen und Strafen, 1976, 382 f.; Singelnstein/Stolle, Die Sicherheitsgesellschaft, 2012, 34; Prittwitz, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, 2005, 131 (136 f.); Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, 2004, 17; Rosa/Kottmann/ Strecker, Soziologische Theorien, 2013, 301; Dollinger, ZJJ 2012, 28 (30).

(33) Kannankulam, PROKLA 2008, 413 (417); Poulantzas, Staatstheorie, 2002, 217 f.
(34) Grundlegend: Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983.

(35) Frankenberg, Kritische Justiz 2005, 370 (374); siehe auch: Haffke, Kritische Justiz 2005, 17 (20); Sander, Grenzen instrumenteller Vernunft im Strafrecht, 2007, 253 ff.

(36) Leuschner, VerfBlog, 2016/2/22, http://verfassungsblog.de/es-ist-wieder-da-der-eugh-bestaetigt-das-grundrecht-auf-sicherheit/ (letzter Zugriff: 3.3.16).

(37) Leuschner, VerfBlog, 2016/2/22, http://verfassungsblog.de/es-ist-wieder-da-der-eugh-bestaetigt-das-grundrecht-auf-sicherheit/ (letzter Zugriff: 3.3.16).

(38) Sieber, NStZ 2009, 353 (353).

(39) Sieber, NStZ 2009, 353 (354).

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