Themen / Innere Sicherheit

Hühner­hof­men­ta­lität und Narren­frei­heit

04. Mai 2017

Interview mit Wolfgang Neškovic über die Lage des Verfassungsschutzes in der Bundesrepublik, in: vorgänge Nr. 217 (Heft 1/2017), S. 87-94

Hühnerhofmentalität und Narrenfreiheit

WOLFGANG NEŠKOVIC   war viele Jahre Richter, zunächst am LG Lübeck, von 2002 bis 2005 am Bundesgerichtshof. Im Anschluss war er bis 2013 parteiloses Mitglied des Deutschen Bundestags, bis 2012 gehörte er der Linksfraktion an. Von 2005 bis 2012 war Neškovic Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums, das die deutschen Nachrichtendienste kontrollieren soll; zwei Jahre lang war er außerdem Mitglied im BND-Untersuchungsausschuss der 16. Legislaturperiode. Er ist Herausgeber der deutschen Ausgabe des CIA-Folterberichts.
Auf die Wissenslücken der parlamentarischen Kontrolleure machte Neškovic aufmerksam, als er vor Ort beim BND (eine Woche) als auch beim Bundesamt für Verfassungsschutz (drei Tage) jeweils ein „Praktikum“ absolvierte. Er ist damit einer der wenigen, wenn nicht der einzige Parlamentarier, der die Arbeit unserer Geheimdienste zumindest ansatzweise aus der Binnensicht kennt. Auf die Defizite der parlamentarischen Kontrolle hat er mehrfach aufmerksam gemacht, zuletzt in den vorgängen Nr. 215 (Heft 3/2016).

Die Geheimdienste sind im Zusammenhang mit dem NSU-Verfahren kritisiert worden. Es geht um das Verhalten in der Zeit, in der die Morde begangen wurden, aber auch um die Zeit der Aufklärung dieser Versäumnisse und Fehler. Welche Bedeutung messen Sie dieser Kritik zu?

Ich stimme der heftigen Kritik zu, die an dem desaströsen Versagen der Nachrichtendienste, der Polizei und der zuständigen Staatsanwaltschaften im Rahmen der Aufklärung der Mordserie des NSU geübt worden ist. Der frühere Verfassungsschutzpräsident Fromm hat zu Recht von einem „Waterloo der Sicherheitsbehörden“ gesprochen. Diverse Untersuchungsausschüsse haben die öffentliche Kritik bestätigt. So hat zum Beispiel die in Thüringen eingesetzte Schäfer-Kommission dem Thüringischen Landeskriminalamt eine chaotische Aktenführung attestiert. Dem Thüringischen Landesamt für Verfassungsschutz wird eine mangelhafte Kommunikation innerhalb der Behörde vorgeworfen. Eine effektive Zusammenarbeit zwischen beiden Ämtern soll nicht existiert haben. Das Verhältnis sei von Konkurrenzdenken geprägt. Quellenmeldungen seien nicht im Gesamtzusammenhang erfasst worden, das Thüringische Landeskriminalamt sei nicht ausreichend unterrichtet worden, eine Weitergabe der Informationen an das Bundeskriminalamt sowie den Generalbundesanwalt sei unterblieben. Das Thüringische Landesamt für Verfassungsschutz sei seinen Übermittlungspflichten nicht nachgekommen.

Es kann davon ausgegangen werden, dass der „Schäfer-Bericht“ beispielhaft das allgemeine Kompetenz-, Organisations- und Kooperationschaos der zuständigen Sicherheitsbehörden belegt. Ich halte die Kritik für berechtigt, die an den Nachrichtendiensten wegen ihres Verhaltens bei der Aufklärung der Versäumnisse und Fehler im Kontext der NSU-Morde vorgebracht wurde. Auch hier hat sich weitgehend die Erkenntnis bestätigt, dass die Nachrichtendienste nur insoweit zuverlässig arbeiten, wenn es darum geht, ihre eigenen Versäumnisse zu löschen.

Ist das für Sie überraschend?

Nein.

Sehen Sie konkrete Fehler auch über die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungsausschüsse hinaus? Und wenn ja, welche?

Im Kern haben die verschiedenen Untersuchungsausschüsse das Versagen und die Fehlerquellen zutreffend ermittelt und beschrieben. Hervorzuheben sind jedoch für die öffentliche Diskussion neben den vielen organisatorischen und handwerklichen Fehlern zwei Aspekte: Zum einen offenbart sich in den festgestellten Fehlerquellen gleichzeitig ein Versagen der entsprechenden Kontrollinstanzen bei Verfassungsschutz, Polizei und Staatsanwaltschaften. Zum anderen bin ich davon überzeugt, dass bei den betreffenden Behörden – insbesondere bei den Verfassungsschutzbehörden – eine latente Unterschätzung rechtsextremistischer Straftaten die Fehler und Fehleinschätzungen dieser Behörden begünstigt hat. Hier sind die zuständigen Kontrollinstanzen aufgefordert, zukünftig für eine nachhaltige Sensibilisierung zu sorgen. Es muss einer Mentalität entgegengewirkt werden, die linksextremistische Gewalttaten mit dem Elektronenmikroskop und rechtsextremistische mit getrübtem Blick wahrnimmt.

Die Verfassungsschutzbehörden gelten als abgeschlossen – nach außen und nach innen. Sie haben beim BND und im Bundesamt für Verfassungsschutz vor Ort Einblick in deren Arbeit erhalten. Ist Ihnen eine Abschottung der Abteilungen zueinander aufgefallen? Oder eine Abschottung nach oben?

Wenn es mir aufgefallen wäre, dürfte ich darüber öffentlich nicht reden. Generell ist aber festzuhalten, dass bei Nachrichtendiensten das Prinzip „need to know“ – also das Abschottungsprinzip – gilt. Dieses Prinzip ist ein wesentlicher Bestandteil nachrichtendienstlicher Arbeit. Ob und in welchem Umfang es nach dem Versagen bei den NSU-Morden fortgeführt wird, kann ich nicht beurteilen. Hier ist sicherlich ein sorgfältiges Abwägen der Vor- und Nachteile im Einzelfall einer schematischen Anwendung vorzuziehen.

Was ist Ihnen sonst noch aufgefallen?

Wie bereits gesagt, kann ich nicht öffentlich über das reden, was ich dort vor Ort gehört und gesehen habe. Ich kann allerdings darüber reden, was dieser Besuch bei mir ausgelöst hat. In meinem Beruf als Richter habe ich es immer als die größte Herausforderung angesehen, mich gegen meine eigenen Vorurteile – so gut es geht – zu schützen. Mein Besuch diente auch dazu, dieser prinzipiellen Schwachstelle menschlichen Urteilsvermögens entgegenzutreten. Unter diesem Gesichtspunkt war er lohnend. Er hat nicht nur zu einer Relativierung meiner Vorurteile geführt, sondern mir auch eine authentische Einschätzung über die dort arbeitenden Menschen und ihre Denk- und Verhaltensstrukturen vermittelt.

Wie erklären Sie es sich, dass Sie bislang der einzige Abgeordnete bzw. Kontrolleur sind, der über  bei den Nachrichtendiensten vor Ort hospitiert hat?

Warum andere Kollegen von dieser Möglichkeit bislang keinen Gebrauch gemacht haben, kann ich nicht beantworten, da ich sie nicht danach befragt habe. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass ich von Ihnen auf meine „Praktika“ angesprochen worden bin.

Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang jedoch festzuhalten, dass sich die Tätigkeit eines Abgeordneten in einem parlamentarischen Gremium zur Kontrolle der Nachrichtendienste atypisch von anderen Tätigkeitsfeldern parlamentarische Arbeit unterscheidet: Eine verantwortungsvolle und ernsthafte Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeiten erfordert einen gewaltigen Arbeitseinsatz, ohne das sichergestellt wäre, dafür öffentlich (insbesondere im Wahlkreis) belobigt zu werden. Die strenge Geheimhaltungspflicht verhindert im Regelfall den öffentlichen Applaus. Das ist für Politiker die Höchststrafe: Viel Arbeit, ohne darüber reden zu dürfen.

Verstärkt wird dieses prinzipielle Dilemma noch dadurch, dass Zeit das kostbarste Gut eines Abgeordneten ist. Wer seine Wiederaufstellung als Abgeordneter sicherstellen will, der muss sich genau überlegen, für welche Tätigkeiten er sein knappes Zeitbudget verwenden will. Da ist eine Woche im Wahlkreis sicherlich eine bessere Investition als eine Woche beim BND.

Im Kontext der NSU-Ermittlungen gab es Vorwürfe, das verschiedene Landesämter für Verfassungsschutz (etwa aus Brandenburg) ihre Erkenntnisse nicht an die Strafverfolgungsbehörden weitergegeben und damit eine frühere Festnahme der drei Neonazis ermöglicht haben. Hat diese Weigerung der Geheimdienste, ihr Wissen an die Polizei weiter zu geben, System?

In den einschlägigen Gesetzen gibt es Rechtsnormen, die die Weitergabe von Informationen, über die die Geheimdienste verfügen, an andere Behörden regeln. Diese sogenannten Übermittlungsvorschriften regeln den Informationsverkehr zwischen unterschiedlichen Behörden – also auch zwischen Polizeibehörden und den Verfassungsschutzämtern. Ob und in welchem Umfang diese Vorschriften gesetzeskonform angewandt werden, darüber können nur die zuständigen Kontrollorgane Auskunft geben, die dabei jedoch an ihre Geheimhaltungspflichten gebunden sind. Erkenntnisse über systemische Fehler können daher regelmäßig nur dann in die öffentliche Diskussion einfließen, wenn sie Gegenstand eines Untersuchungsausschusses werden. Der eingangs von mir zitierte „Schäfer-Bericht“ aus Thüringen liefert dafür einen anschaulichen Beleg. Er benennt systemische Fehler. Ich empfehle, diesen Bericht zu lesen.

17 Dienste des Verfassungsschutzes arbeiten in der Bundesrepublik. Arbeiten diese effizient zusammen oder hütet jedes Land seine Erkenntnisse wie einen kostbaren Schatz?

Diese Frage veranlasst mich zu einer grundsätzlichen Aussage: Sämtliche Landesämter sollten aufgelöst und zu Außenstellen des Bundesamtes umgebaut werden. Damit erreicht man eine zentrale Bearbeitungsperspektive und bewahrt sich gleichzeitig länderspezifische Ortskenntnisse. Mit uneinsichtiger Hartnäckigkeit und abstrusen Argumenten verteidigen die Länder hier jedoch gegen alle Vernunft ihre „Hühnerhöfe“.

Es ist offenkundig, dass die Länder, um ihre gesetzlichen Aufgaben (Bekämpfung von Extremismus, Terrorismus, Spionage, Proliferation, Sicherheitsüberprüfungen usw.) erfüllen zu können, personell überfordert sind. Bei umfangreichen und komplexen Sachverhalten reicht die Personalausstattung nicht aus, um den nötigen Überblick zu gewinnen. Manche Länder verfügen nicht einmal über 100 Mitarbeiter, Bremen sogar weniger als 50 Mitarbeiter. Das Bundesamt hingegen beschäftigt ca. 2700 Mitarbeiter. Allein diese Zahlen verdeutlichen die unterschiedlichen Handlungsoptionen und die Notwendigkeit eines zentralen Bundesamtes mit Außenstellen.

Wie hemmend sich der Föderalismus im Bereich des Verfassungsschutzes auswirken kann, ist am Fall des NSU belegbar. Das Trio hat über die Landesgrenzen hinweg gemordet – die Verfassungsschützer haben ihre Tätigkeit jedoch nur innerhalb ihrer Landesgrenzen entfaltet. Observationen wurden an Landesgrenzen abgebrochen, denn dort endeten die Kompetenzen der Verfassungsschützer. In Bayern haben Profiler angenommen, dass die Täter „Türkenhasser“ aus der rechten Szene sein könnten. Jedoch wurden diese Überlegungen nicht weiterverfolgt, weil sie – wegen bestimmter Tatortkenntnisse – vermuteten, dass die Täter aus Nürnberg stammten. Ihnen fehlte eine zentrale Bearbeitungsperspektive.

Wenn die Länder im Streit um eine solche Reformperspektive das Gespenst einer „Monsterbehörde“ an die Wand malen, dann fragt sich, warum dieses „Argument“ nicht schon gegen den BND vorgebracht worden ist, der über ca. 6000 Mitarbeiter verfügt. Bei einer Zusammenlegung der 16 Landesämter mit dem Bundesamt kämen auch nicht mehr Mitarbeiter zusammen.

In der Vorbereitung der NPD-Verbotsverfahren war zu hören, die Dienste hätten ihre V-Leute voreinander verschwiegen. Halten Sie diese Praxis für möglich und wie erklären Sie sich dies?

Ich halte das für möglich. Einer der Gründe könnte die von mir angeprangerte „Hühnerhofmentalität“ von Landesämtern sein.

Über den früheren Direktor des Verfassungsschutzes in Thüringen war über sonderbares Verhalten zu lesen: Halten Sie das für einen Ausnahmefall? Er soll sich selbst mit V-Leuten getroffen haben. Halten Sie das für einen Ausnahmefall?

Ich glaube schon, dass es sich hier um einen Ausnahmefall handelt. Andererseits haben mich auch andere Leiter von Verfassungsschutzämtern bzw. entsprechender Abteilungen in den jeweiligen Innenministerien – von Ausnahmen abgesehen, etwa  Claudia Schmid in Berlin – insbesondere fachlich nicht überzeugt. Mein Eindruck ist, dass die Verfassungsschutzämter auf der Führungsebene ein grundsätzliches Personalproblem haben. Nicht ohne Grund haben im Zuge des NSU-Komplexes mehrere Verfassungsschutzchefs ihre Ämter verloren. Es spricht einiges dafür, dass diese Positionen, die überwiegend von Juristen (gelegentlich auch von Juristinnen) besetzt werden, von den Parteien weitgehend zur Versorgung für karriereorientierte Parteimitglieder der zweiten und dritten Reihe benutzt werden. Immerhin sind diese Ämter – im Verhältnis zur Aufgabe und dem jeweiligen Personalstand – überproportional gut dotiert und daher für karrierebewusste Parteikader ausgesprochen lukrativ.

Die V-Leute erhalten Geld, zum Teil erhebliche Summen, die sie z.B. in Thüringen zum Aufbau von Strukturen genutzt haben, zu deren Aufklärung sie eigentlich eingesetzt werden. All die inzwischen bekannten V-Leute haben die NSU-Taten jedenfalls nicht verhindert. Gehört das V-Leute-System daher nicht ganz abgeschafft?

Ich bin aus mehreren Gründen für eine Abschaffung des V-Leute-Systems:

Ob V-Leute einen tatsächlichen Nutzen für die Arbeit des Verfassungsschutzes erbringen, hat der Verfassungsschutz bisher nicht nachgewiesen. Unter Verweis auf die Geheimhaltung wird jede Evaluation des Einsatzes von V-Leuten und anderer geheimdienstlicher Mittel abgeblockt. So wird verhindert, genaue Feststellungen darüber zu treffen, wie ergiebig die Informationen von V-Leuten tatsächlich für die Aufgabenwahrnehmung des Verfassungsschutzes sind, z.B. frage ich, welche Anschläge  konkret allein durch die Hinweise von V-Leuten verhindert wurden. Eine solche Evaluierung ist schon deshalb erforderlich, weil die Vorgänge um die NSU gerade die Erfolglosigkeit des V-Leute-Systems beweisen. Solange die Geheimdienste den Nachweis der Notwendigkeit des V-Leute-Systems nicht führen können, sollte auf deren Einsatz verzichtet werden, also Umkehr der Darlegungslast.

Außerdem wird die behauptete Nützlichkeit der V-Leute für den Verfassungsschutz grundsätzlich schon dadurch in Frage gestellt, dass ihren Informationen im Regelfall kein ausschlaggebender Beweiswert zukommt. V-Leute im Nazimilieu sind keine Demokraten mit lauteren Motiven, sondern bleiben Nazis, die gegen Geld oder sonstige Vergünstigungen dem Staat Informationen liefern. Sie sind schon deswegen prinzipiell unglaubwürdig, denn sie sind belastet mit dem moralischen Defizit der Szene, aus der sie stammen.

Der Einsatz von V-Leuten ist nicht nur ein rechtsstaatlich unvertretbares, sondern auch ein untaugliches Mittel zur Bekämpfung verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Es stehen andere effektivere Mittel der Überwachung zur Verfügung: Observation, Videoüberwachung, Einsatz von verdeckten Ermittlern, Lauschangriff, Online-Durchsuchung usw. Diese Maßnahmen sind teilweise ebenfalls rechtsstaatlich höchst fragwürdig bzw. unverhältnismäßig. Doch selbst die Verfechter des Überwachungsstaates, die all diese Mittel für erforderlich halten, haben bislang nicht den Nachweis erbracht, warum sie angesichts dieser üppigen Überwachungsmöglichkeiten dennoch den Einsatz von V-Leute benötigen.

Das „Gesetz zum besseren Informationsaustausch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus“ soll dem Bundesamt für Verfassungsschutz das Anlegen gemeinsamer Personendateien mit ausländischen Nachrichtendiensten ermöglichen. Muss man nicht befürchten, dass Menschen, die in Deutschland ohne konkreten Straftatenverdacht nachrichtendienstlich beobachtet werden, zukünftig in anderen Ländern mit polizeilichen Ermittlungen oder administrativen Sanktionen wie Einreise- oder Flugverboten konfrontiert werden?

Diese Gefahr besteht in der Tat. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Rechtssysteme und dem damit verbundenen unterschiedlichem Rechtsstaatsniveau der Staaten, mit denen ein solcher Informationsaustausch stattfindet, ist es deswegen zwingend geboten, die schutzwürdigen Interessen der betreffenden Personen mit den Sicherheitsinteressen des Empfängerstaates sorgfältig abzuwägen. Um hier einen  achtsamen Abwägungsprozess sicherzustellen, sollten entsprechende verfahrensrechtliche Sicherungen, etwa Dokumentationspflichten, Zustimmung der entsprechenden parlamentarischen Kontrollgremien usw. gewährleistet sein.

Jede andere Behörde in Deutschland wäre nach einer Skandalgeschichte, wie sie der Verfassungsschutz auch bereits vor dem NSU-Versagen vorzuweisen hatte, umgewandelt oder in seiner jetzigen Form abgeschafft worden. Was macht ihn denn angeblich so unentbehrlich vor dem Hintergrund dieser Geschichte von Pannen, Verfehlungen und struktureller Defizite?

Es stimmt, die Skandalgeschichte des Verfassungsschutzes ist verstörend. Der Dienst scheint von jeher ein Eigenleben im Staat zu führen. Die unheimliche Heimlichkeit der Geheimdienste und ihr unkontrolliertes Agieren im Schatten beflügeln die Forderungen nach ihrer Abschaffung. Zudem entsteht der Eindruck, dass jeder Skandal in seiner Konsequenz den Verfassungsschutz nicht schwächt, sondern sachlich und personell stärkt. Dieses Paradoxon hängt mit dem gesellschaftlichen Aberglauben zusammen, dass Nachrichtendienste allein schon aufgrund ihrer Existenz unentbehrlich seien. Seit seiner Gründung wurde der Verfassungsschutz jedoch noch nie umfassend daraufhin überprüft, ob und in welchem Umfang er als Frühwarnsystem für Politik und Sicherheitsbehörden tatsächlich nennenswerte Erfolge vorzuweisen hat. Das mittlerweile in jeder anderen Behörde übliche „Controlling“ findet nicht statt. Das ist ein deprimierender Befund.

Wir müssen jedoch darauf achten, „das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten“. Denn das Gegenteil fehlender Kontrolle ist nicht Abschaffung, sondern eine umfassende Reform, die in einer wirksamen rechtlichen und tatsächlichen Kontrolle besteht. Schließlich fordert auch niemand die Abschaffung von Staatsanwaltschaft und Polizei, obwohl das Versagen der Sicherheitsbehörden bei den Mordtaten der NSU vorrangig ein Versagen dieser beiden war. Denn sie sind für die Verfolgung von konkreten Straftaten und die Festnahme von Tatverdächtigen zuständig und nicht der Verfassungsschutz. Dies wird in der öffentlichen Diskussion teils übersehen und teils ignoriert.

Deshalb sollte – unabhängig von der Frage, ob die Abschaffung des Verfassungsschutzes politisch und verfassungsrechtlich überhaupt durchsetzbar ist – vorrangig die von mir geforderte umfassende Reform der Nachrichtendienste erfolgen. Erbringt in der Folgezeit eine umfassende empirische Untersuchung, dass die Nachrichtendienste – trotz dieser Reform – die von ihr stets behaupteten Erfolge gar nicht oder nur in kaum nennenswertem Umfange erzielen, dann hätte eine Diskussion über die Abschaffung der Dienste eine tatsachenbasierte und rationale Basis.

Unter dem Schlagwort „Extremismusbekämpfung“ forschte der Verfassungsschutz seit vielen Jahren zahlreiche Bürgerinnen und Bürger aus (unter vielen Rolf Gössner und Bodo Ramelow), die der Regierungspolitik kritisch gegenüberstehen und für grundlegende Änderungen eintreten, ohne unsere Verfassungsordnung in Frage zu stellen. Ist der Verfassungsschutz selbst damit nicht zu einer Gefährdung unserer demokratischen Verfassungsordnung geworden, weil freie und unüberwachte politische Betätigung unverzichtbar für ein demokratisches System ist, wie das Bundesverfassungsgericht u.a. in seinem Volkszählungsurteil unmissverständlich deutlich gemacht hat?

Ein nicht ausreichend kontrollierter Verfassungsschutz kann zu einer Gefährdung unserer demokratischen Verfassungsordnung führen. Deswegen sind weiterreichende Reformen erforderlich. So müssen die Rechtsvorschriften, die die Arbeit der Nachrichtendienste regeln, umfassend reformiert werden. Die gegenwärtige Gesetzeslage schafft mit ihren vielen unbestimmten Rechtsbegriffen „entgrenztes“ Recht und so „Narrenfreiheit“ für die Dienste. Die administrative und parlamentarische Kontrolle muss deutlich personell und sachlich ausgeweitet werden.

Für die Gefahrenabwehr, also auch für die Verhinderung von Straftaten sowie deren Aufklärung ist seit jeher die Polizei unter Anleitung der Staatsanwaltschaft zuständig. Für Situationen, in denen ausnahmsweise heimliche Ermittlungsmethoden notwendig sind, verfügen Polizeien und insbesondere das Bundeskriminalamt längst über entsprechende Befugnisse. Wozu bedarf es des Verfassungsschutzes in diesem Bereich?

Diese Frage ist mehr als berechtigt. Sie wird weder in der Öffentlichkeit, damit meine ich auch die parlamentarisch-politische, noch in der juristischen Fachöffentlichkeit mit dem notwendigen Engagement geführt. Wer in die Polizeigesetze der Länder schaut, muss mit Erstaunen feststellen, dass das sogenannte Trennungsprinzip – also das Prinzip der organisatorischen und funktionellen Trennung zwischen Polizei und Geheimdiensten – rechtlich und faktisch nicht mehr existent ist. Es taugt allenfalls noch zu Übungszwecken für juristische Seminare, um entsprechende Unterschiede und Unterscheidungen herauszuarbeiten. Es wäre lohnend, entsprechende Doppelzuständigkeiten konkret zu benennen und eine ehrliche Diskussion darüber zu führen, ob und in welchem Umfang das Trennungsprinzip aufrechterhalten werden soll.

Kann der Verfassungsschutz wirklich die Funktion eines Frühwarnsystems erfüllen angesichts der Tatsache, dass einschlägige Forschung und Initiativen der Zivilgesellschaft sehr viel früher und genauer im Bilde sind über politisch bedenkliche Strömungen wie Rassismus und antidemokratische Einstellungen in unserer Gesellschaft?

Solange die von mir geforderte Evaluation der Nachrichtendienste nicht stattgefunden hat, bin ich mir nicht sicher, ob Ihre Behauptung gerechtfertigt ist, es sei eine „Tatsache“, dass einschlägige Forschung und Initiativen der Zivilgesellschaft über politisch bedenkliche Strömungen sehr viel früher und genauer im Bilde seien als die Nachrichtendienste. Ich habe keinen Zweifel, dass die von Ihnen angeführten Institutionen im Bereich extremistischer Bestrebung über fundierte Erkenntnisse verfügen. Mir fehlt jedoch das entsprechende Wissen, um beurteilen zu können, dass sie in der Lage wären, „früher und genauer“ als die Nachrichtendienste relevante Informationen zu generieren.

Aber selbst, wenn das der Fall sein sollte, könnte das nicht die Abschaffung des Verfassungsschutzes rechtfertigen. Es könnte allenfalls ein Argument dafür sein, diesen Bereich aus dem Aufgabenkreis des Verfassungsschutzes herauszunehmen. Für andere Bereiche (Terrorismus und Proliferation) dürfte das jedoch nicht gelten. Diese Personen oder Personengruppen arbeiten überwiegend heimlich, so dass in diesen Aufgabenfeldern der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel eine wesentliche Grundlage für die Informationsgewinnung bildet. Über den Einsatz dieser Mittel verfügen die von Ihnen genannten Organisationen nicht, so dass sie hier regelmäßig nicht in der Lage sein werden, relevante Informationen zu gewinnen.

Vielen Dank, Herr Neškovic.
Die Fragen stellte Herbert Mandelartz.

Dateien

nach oben