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Zur Bedeutung des nationalen Schutz­re­gimes für trans­na­ti­o­nale Koope­ra­ti­onen des BND

18. April 2016

Fragen an Kurt Graulich, den unabhängigen Sachverständigen zur Begutachtung der NSA-Selektorenliste. In: vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 140-152

Durch Edward Snowden wurde 2013 aufgedeckt, dass der us-amerikanische Nachrichtendienst NSA auch staatliche Stellen in Deutschland ausspioniert hatte. Nach dieser Enthüllung wurde die Bundeskanzlerin mit den Worten zitiert: „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht.“ Doch sehr bald war klar, dass NSA und BND bei der Kommunikationsüberwachung zusammen gearbeitet hatten. Ein „Memorandum of Agreement“ (MoA) regelte die Bedingungen ihrer Kooperation. Darin verpflichteten sich beide Seiten, bei dieser Zusammenarbeit die nationalen Interessen und die Rechtsordnung des jeweiligen Partnerlandes zu respektieren.

Auf der Grundlage dieses Memorandums wurde in der gemeinsam betriebenen Anlage in Bad Aibling der satellitengestützte Datenverkehr überwacht. Die NSA stellte dafür zahlreiche Suchbegriffe, sog. Selektoren, bereit, die zur automatischen Überwachung des Datenverkehrs dienen. Darunter waren zahlreiche Selektoren – so viel wissen wir heute -, mit denen europäische Regierungsstellen und europäische Firmen ausgespäht werden konnten. (Später musste der BND einräumen, selbst solche Selektoren entwickelt und benutzt zu haben, die sich gegen europäische Partner wie beispielsweise den französischen Außenminister richteten.)

Um zu verhindern, dass in die Abhöranlage Suchbegriffe eingespeist werden, die den Festlegungen aus dem MoA zuwider liefen, sah die Vereinbarung einen dreistufigen Filtermechanismus vor, mit dem die juristische und politische Unbedenklichkeit der übermittelten Selektoren vor ihrem Einsatz geprüft werden sollte. Im Laufe der Jahre kam so beim BND eine Liste von Selektoren zustande, die als bedenklich eingestuft und teilweise vor ihrer Aktivierung im System, teilweise nachträglich aussortiert wurden. Diese Liste wollten ursprünglich die Mitglieder des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur NSA-Affäre selbst einsehen. Das verweigerte ihnen die Bundesregierung und beauftragte im Gegenzug den ehem. Richter am Bundesverwaltungsgericht, Dr. Kurt Graulich, diese Liste in Augenschein zu nehmen und gutachterlich zu bewerten. Mit ihm sprach Rosemarie Will über seinen Untersuchungsauftrag, dessen Ergebnisse und deren mediale Wahrnehmung.

Zu Auftrag und Arbeits­weise

Sie haben ihren Bericht im Auftrag des NSA-Untersuchungsausschusses des Bundestags erarbeitet. Bezahlt und bestellt aber wurden Sie von der Bundesregierung, gegen den Willen der Opposition.

Der Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag hat mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen die Entscheidung der Bundesregierung als sachgerecht bewertet, einer von ihm zu benennenden unabhängigen sachverständigen Vertrauensperson Einsicht in die notwendigen Unterlagen zu gewähren. Der entsprechende Beschluss des Untersuchungsausschusses war auch mit dem meine Person betreffenden Personalvorschlag verbunden, und die Bundesregierung hat ihn aufgegriffen. Daraus ergab sich die vertragliche Beziehung mit der Bundesregierung. In der parlamentarischen Demokratie gilt das Mehrheitsprinzip, wenn es keine Übereinstimmung gibt.


Haben Sie sich darum bemüht das Vertrauen der Opposition zu gewinnen?

Allen Fraktionen wurde Zusammenarbeit angeboten; das bezog sich insbesondere auf die Teilnahme an den wöchentlichen Arbeitstreffen mit den Regierungsvertretern. Auf diese Weise bestand für die Parlamentarier durchgängig die Möglichkeit, sich über Stand und Fortgang der Arbeiten zu informieren und ihre Vorstellungen einzubringen. Die Mehrheitsfraktionen haben davon in einem gewissen Umfang Gebrauch gemacht. Die Oppositionsfraktionen haben nur am ersten Treffen teilgenommen und sind danach ankündigungsgemäß ferngeblieben. Die Opposition hat sich während der mehrmonatigen Arbeit an der Erstellung des Gutachtens konsequent der Zusammenarbeit verweigert, um dann im Nachhinein ein politisch aussagearmes Lamento zu veranstalten.


Da Sie als Gutachter im politischen Streit von der Regierung durchgesetzt wurden, war vorprogrammiert, dass auch die Ergebnisse ihres Gutachtens in den politischen Streit geraten. Warum haben Sie den Auftrag dennoch angenommen?

Die Grundannahme der Frage ist unzutreffend: „von der Regierung durchgesetzt“ stimmt nicht. Ich habe erläutert, dass Verfahren und Auswahl der Sachverständigen Vertrauensperson dem Willen der Ausschussmehrheit folgten; ohne dieses Votum hätte die Bundesregierung anders vorgehen müssen. Im Übrigen gab es keinen von der Opposition benannten Gegenkandidaten. Streit ist im politischen Prozess normal und sollte einen Demokraten nicht irritieren. Auch Gesetze sind zu befolgen, wenn sie nicht einstimmig, sondern nur von einer parlamentarischen Mehrheit beschlossen werden. Fehlende Einstimmigkeit kann deshalb auch für die Übernahme einer solchen Funktion kein beachtlicher Einwand sein. Eher wäre es umgekehrt schwer zu begründen gewesen, wenn dem Beschluss der überwältigenden Mehrheit der Abgeordneten im Untersuchungsausschuss nicht gefolgt worden wäre.


Soviel zur formalen Legitimation des Einsetzungsauftrags. Stimmen Sie dem Auftrag auch inhaltlich zu?

Die Haltung der Bundesregierung, die Selektoren nicht einfach dem Parlament vorzulegen, hat gewichtige Gründe für sich. Diese beschränken sich nicht auf die Frage, ob es zwischen Regierung und Parlament „Geheimnisse“ geben darf; darüber lässt sich mit guten Gründen streiten. Hinzu kommt, dass es sich bei den NSA-Selektoren um geistiges Eigentum eines ausländischen Vertragspartners handelt. Nur dieser kann darüber bestimmen, ob und wem gegenüber die Diskretion aufgehoben wird. Der Streit um die Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen kann nicht einfach dem verfassungspolitischen Verhältnis von Parlament und Regierung nachgeordnet werden. Die Bundesregierung war gut beraten, sich hier nicht über fremde Eigentumsrechte hinweg zu setzen.

Der Ansatz der Mehrheitsfraktionen und der Bundesregierung war außerdem für die Versachlichung des politischen Streites wichtig: Der von mir vorgelegte, 262 Seiten lange Bericht bietet der Öffentlichkeit einen tiefen Einblick in einen vieldiskutierten Sachverhalt. Dazu wäre es andernfalls nie gekommen. Ohne Whistleblowing (!) ist es gelungen, mit Hilfe des deutschen Auslandsnachrichtendienstes umfangreiches Material der NSA zu analysieren und zu bewerten. Die Einsetzung und Arbeit der Sachverständigen Vertrauensperson waren Voraussetzung für diesen Aufklärungsakt. Sollte das Bundesverfassungsgericht tatsächlich die Offenlegung des Materials verlangen, wäre diese Mühe auch nicht überflüssig gewesen, denn sie erspart auf alle Fälle eine mehrmonatige Aufarbeitung, wie sie Gegenstand meiner Tätigkeit sowie des vorgelegten offenen Berichts war.

Andere Gründe für die Übernahme der Aufgabe liegen in meiner fachlichen Disposition. Ich beschäftige mich seit mehr als 15 Jahren justitiell und wissenschaftlich mit dem Sicherheitsrecht des Bundes. Der Untersuchungsgegenstand war für dieses Beschäftigungsfeld sehr interessant.

Als langjähriger Richter sind Sie mit den Voraussetzungen unabhängiger Wertungen und Entscheidungen vertraut. Wie war ihre Unabhängigkeit als Gutachter abgesichert? Nach welchen Maßstäben haben Sie begutachtet: nach denen, die Sie auch als Richter verwendet hätten, oder nach anderen?

Aufgrund vertraglicher Zusicherung war ich in der Einteilung meiner Arbeitszeit, der Methodik meiner Prüfung und insbesondere in meiner Bewertung unabhängig und weisungsfrei. Diese Zusicherungen wurden von allen respektiert. Sämtliche verlangten Auskünfte wurden erteilt. Der vertraglich vereinbarte Untersuchungsgegenstand übernahm einen Aufklärungsbeschluss – der Mehrheit – des Untersuchungsausschusses. Dieser enthielt überwiegend auf Tatsachen gerichtete Fragen, aber auch bewertende und solche mit klärungsbedürftigen rechtlichen Gesichtspunkten. Die Selektoren allein waren nach 16 vorgegebenen Kriterien zu analysieren. Es war also kein „Urteil“ zu sprechen, sondern es waren Tatsachenfeststellungen zu erarbeiten und zu erläutern.

Wie haben Sie ihre informationstechnische Kompetenz abgesichert? Hat Sie dazu jemand von außerhalb des BND beraten?

„Informationstechnische Kompetenz“ in nachrichtendienstlicher Fernmeldeaufklärung besitzen nur Nachrichtendienste. Zur Untersuchung der NSA-Selektoren lag es nahe, sich des Sachverstandes im BND zu bedienen. Die einschlägigen Fachleute des BND standen mir jederzeit zur Verfügung, und ich habe sie auch dauernd beansprucht. Mir ist kein alternativer Vorschlag zu den Mitarbeitern des BND gemacht worden. Das Parlamentarische Kontrollgremium und die G10-Kommission haben auch keine anderen Experten für entsprechende Fragen zur Verfügung. Mit ihnen arbeiten die Oppositionsabgeordneten in diesen Gremien seit Jahren zusammen; deshalb kommen mir dahin zielende Kritiken nicht glaubwürdig vor.

In den deutschen Verhältnissen von Telekommunikation und ihrer Überwachung kenne ich mich aus, weil ich u.a. die einschlägigen Normen des TKG kommentiere. Dem für die justitielle Kontrolle der nachrichtendienstlichen Arbeit zuständigen Senat am Bundesverwaltungsgericht habe ich 15 Jahre lang angehört.

Sie haben ihr Gutachten in drei Varianten vorgelegt: eine für die Bundesregierung (460 Seiten), eine für den NSA Untersuchungsausschuss und eine öffentliche Variante (262 Seiten) Die für den Untersuchungsausschuss und die für die Regierung sind mit demselben Sperrvermerk „VS“ (Verschlusssache) versehen. Was unterscheidet die beiden? Enthält der für die Regierung erstellte Bericht eine Liste mit den rechtswidrig Ausgespähten?

Ein Bericht über nachrichtendienstliche Sachverhalte bewegt sich unvermeidbar in einem Material, das als „geheim“ eingestuft ist. Dabei kann es um einzelne Informationen gehen, aber auch um die Beschreibung technischer Vorgänge oder die Verwendung geheim zu haltender Texte. Gründe für die unterschiedlichen Textformate der drei Berichtsvarianten lagen in solchen Bereichen. Die untersuchten NSA-Selektoren sind natürlich auch geheim, ihre detaillierte Auswertung enthält nur die längste Fassung des Berichts. Sämtliche Textversionen sind aber identisch gegliedert und somit aus sich heraus in jeweils gleicher Weise verständlich.

Der Gegenstand der Unter­su­chung

In den Medien war vor allem von der Selektorenliste die Rede. Können Sie kurz erläutern, was ein Selektor ist und wer sie wozu einsetzt?

Selektoren lassen sich als formale oder inhaltliche Suchbegriffe bezeichnen, die für die Telekommunikationsüberwachung eingesetzt werden. Wer unter den Bedingungen einer digitalisierten und globalisierten Telekommunikation nachrichtendienstliche Fernmeldeaufklärung betreibt, hat es mit denkbar vielen Erscheinungsformen der Telekommunikation zu tun. Diese folgen nicht den technischen und gesetzlichen Regeln und Definitionen eines Landes, sondern der weltweiten Vielfalt. Dem tragen die Techniker Rechnung, indem sie zahlreiche Variationen ein und desselben Telekommunikationsmerkmals erstellen, etwa 10 bis 25 für ein einziges solches Merkmal. Ein Selektor ist eine solche Variation. Bildlich gesprochen nutzt man unterschiedlich gestaltete Fanginstrumente, weil man nicht sicher weiß, wie der gesuchte Gegenstand aussieht.

Mit Selektoren wird also die Kommunikation von Zielpersonen aus dem Datenstrom herausgefiltert. Werden dabei persönliche Daten erhoben, die vom Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung geschützt sind?

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung über die Vorratsdatenspeicherung den Vorrang von Art. 10 GG gegenüber dem informationellen Selbstbestimmungsrecht postuliert. Darüber hinaus sind die Maßstäbe aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung natürlich dann anzuwenden, wenn Selektoren personenbezogene Daten enthalten, die von deutschen Nachrichtendienst-Mitarbeitern gelesen und zugeordnet werden können oder wenn diese personenbezogenen Daten durch eine einfache Bestandsdatenauskunft herauszufinden sind. Das dürfte für Selektoren mit ausländischen Telekommunikationsmerkmalen auszuschließen sein, weil ausländische Provider einem deutschen Nachrichtendienst keine Bestandsdatenauskunft erteilen werden. Nach der sog. Doppeltürentheorie des Bundesverfassungsgerichts bedarf es zudem für die Bestandsdatenauskunft einer Befugnisnorm, die für den BND innerstaatlich in § 2b BNDG liegt; diese Regelung befugt aber nicht zu Auskünften über Selektoren ausländischer Nachrichtendienste wie der NSA. Dies zeigt, dass hier Diskussionsbedarf herrscht; eine entsprechende Diskussion habe ich seither vermisst.


Welche Selektoren haben Sie in Ihrem Gutachten untersucht?

Mein Gutachten befasst sich mit fast 40.000 NSA-Selektoren, die auf Internet- oder Telefonie-Verkehre ausgerichtet waren und vom BND als unvereinbar mit der deutschen Rechtslage abgelehnt wurden.


Heißt das, Sie haben die eingesetzten Selektoren gar nicht zu Gesicht bekommen? Welchen Sinn macht es, sich nur mit den aussortierten Selektoren zu beschäftigen?

Die Frage müssten Sie dem Untersuchungsausschuss stellen. Er hat diese Selektoren sehen wollen. Mir ist nicht bekannt, dass er ein weitergehendes Begehren formuliert hat.

Haben Sie geprüft, ob der BND ausgefilterte Selektoren dennoch für den Eigenbedarf verwendet hat?

Dies zu prüfen war nicht mein Auftrag.

Sie haben festgestellt, dass die NSA in der gemeinsam mit dem BND betriebenen Abhöranlage systematisch gegen die bilaterale Vereinbarung verstoßen hat, die dieser Zusammenarbeit zugrunde lag. Beschreiben Sie bitte die Systematik und den Umfang dieser Verstöße.

Auf Seite 205 des offenen Berichts [s. Anhang] befindet sich eine Matrix, die einen detaillierten Überblick vermittelt und auf die ich grundsätzlich verweise. Daraus ergibt sich, dass u.a. 4.971 Internet-Selektoren deutscher Grundrechtsträger in Deutschland und 3.269 Internet-Selektoren deutscher Grundrechtsträger im außereuropäischen Ausland herausgenommen wurden. Diese durften von vornherein nicht eingesetzt werden. Das Memorandum of Agreement sah darüber hinaus die nachrichtendienstliche Aufklärung in Europa nur für bestimmte Phänomenbereiche von unstreitiger Virulenz vor. Ein wichtiger Teil der abgelehnten Selektoren war jedoch systematisch auf allgemeine Bereiche europäischer Politik und Verwaltung gerichtet, welche niemals die Ausnahmevoraussetzungen erfüllten. Das politische Problem dieses Vorgehens liegt darin, dass hier gleichsam aus der Deckung einer Kooperation Aufklärung in befreundetem Gebiet betrieben wird. Darin liegt ein schwerwiegender Verstoß. Aus diesem Grund sind 22.024 Internet-Selektoren herausgenommen worden, die gegen Regierungseinrichtungen und staatliche Stellen von EU-Staaten gerichtet waren.

Haben Sie empfohlen, die Betroffenen zu informieren, um die Rechtswidrigkeit gerichtlich feststellen zu lassen?

Die „Informationsfrage“ ist leichter gestellt als beantwortet. Das beginnt schon damit, dass die Zahl der Selektoren nicht gleich der Zahl der rechtlich Betroffenen ist. Man kann ganz ungefähr davon ausgehen, dass auf einen Rechtsträger zwischen 10 und 25 Selektoren kommen; demnach ist die Zahl der rechtlich Betroffenen erheblich kleiner als die Zahl der Selektoren. Dann muss beachtet werden, dass der größte Teil der untersuchten Selektoren nicht eingesetzt wurde; dieser Teil konnte also schon deshalb keine Individualrechtskreise stören und keine wie auch immer gearteten Informationspflichten auslösen. Ferner handelt es sich um US-amerikanisches Aufklärungsmaterial, auf das nicht ohne weiteres deutsche Rechtsregeln anwendbar sind.

Soweit die Selektoren eingesetzt wurden, ist dem BND nicht bekannt, welche Rechtspersönlichkeiten dahinter stehen, denn es sind ja nicht seine eigenen Suchbegriffe gewesen. Und die deutschen Regeln zur Bestandsdatenabfrage – mit denen sich die Inhaber der Suchbegriffe ermitteln ließen – passen weder auf ausländische Selektoren noch auf Provider im Ausland. Aus diesen Gründen gibt es keine „Liste mit den rechtswidrig Ausgespähten“ und kann sie auch nicht geben. Daran würde selbst eine Offenlegung der Selektorenliste nichts ändern. Mit all diesen Fragen habe ich mich im Gutachten übrigens auseinander gesetzt.

Das Verfahren zur Prüfung der Selektoren

Die Überprüfung der eingesetzten Selektoren erfolgte beim BND durch ein automatisiertes Prüfverfahren. Können Sie kurz erläutern, nach welchen Kriterien das dreistufige Filtersystem arbeitet?

Aufgabe der sog. Datenfilterung (DAFIS) ist es, vom Fernmeldegeheimnis des Art. 10 GG geschützte Rechtsträger vor nachrichtendienstlichen Eingriffen zu bewahren. Dieser Schutz setzt formal an, d.h. auf einer ersten Stufe werden nationale Kennungen wie die Vorwahl 049 bei der Sprachtelefonie, die 262 bei IMSI-Nummern, Top-Level-Domains wie „.de“, „.bayern“ usw. als Ausschlusskriterium genommen. Eine zweite Stufe kommt erfahrungswissenschaftlich zustande: bei ihr wird aussortiert, was der BND an Zufallswissen über sich im Ausland befindliche deutsche Rechtspersonen hat, die deshalb dem Schutz von Art. 10 GG unterstellt sind. Eine dritte Stufe geht politisch vor und schützt „deutsche Interessen“, ungeachtet der Einschlägigkeit von Art. 10 GG.

Sie bescheinigen dem DAFIS, dass es die verfassungsrechtlichen und einfachrechtlichen Maßstäbe, die für die Arbeit des BND gelten, richtig umsetzt. Nach welchen verfassungsrechtlichen Maßstäben arbeitet es?

Leicht ist diese Frage hinsichtlich der Art. 10 GG-Verstöße zu beantworten: Von den 40.000 Selektoren wurde der größere Teil gar nicht nachrichtendienstlich genutzt, sondern bereits vor Beginn des Suchvorgangs aus dem System herausgenommen. Alle ungenutzten Selektoren auf der Ablehnungsliste verstießen nicht gegen Art. 10 GG, weil sie gar nicht in den Schutzbereich dieser Norm vordrangen. Soweit sie zu nachrichtendienstlichen Aufklärungszwecken eingesetzt und erst später aus dem System wieder entfernt wurden, verstießen sie gegen das deutsche Fernmeldegeheimnis. Alles, was dessen Schutz unterliegt und auf der ersten Filterstufe von DAFIS herausgenommen wurde, war laut Vertrag von der Aufklärung ausgenommen. Insoweit sind der Schutz durch die deutsche Verfassung und durch die Bestimmungen des MoA deckungsgleich.

Bei den Regierungseinrichtungen und staatlichen Stellen von EU-Staaten greift kein Grundrechtsschutz, weil der schon nach deutschem Verfassungsrecht nur gegen staatliche Gewalt und nicht für sie gilt. Insoweit greift nur der „einfache“ vertragsrechtliche Schutz durch das MoA. Diese beiden Gruppen machen – wie dargelegt – den mit Abstand größten Teil der zu Recht herausgenommenen Selektoren aus.

Bezüglich der Grundrechtsprüfung durch das DAFIS schreiben Sie, dass sich die von der NSA automatisch eingespeisten Selektoren bis zu ihrer Entfernung „in einem geschlossenen System ohne menschliche Kenntnisnahme von intelligiblen Inhalten [befanden]. In dieser Phase wurden deutsche Grundrechtsträger nicht verletzt.“ Liegt nach Ihrer Auffassung bei einem vollautomatischen System gar kein Grundrechtseingriff vor? Wie verhält sich ihre Rechtsauffassung zu der These, dass es keine anlasslose Überwachung geben soll?

Es liegt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung kein Grundrechtseingriff vor, wenn und solange die Daten im automatisierten System ohne menschliche Kenntnis bleiben. Das ist nicht anders als es jeder Nutzer einer deutschen Autobahn bei Unterquerung einer Mautbrücke des Toll-Collect-Systems erfährt, sofern er kein abgabepflichtiges Fahrzeug steuert: Das System erfasst automatisch das Kennzeichen und löscht es ebenso automatisch, ohne dass ein dahinter stehender Mensch Kenntnis erlangt. Damit ist der erste Teil der Frage zu verneinen. Dem zweiten Teil der Frage ist damit streng genommen der Boden entzogen. Ich will sie aber gerne als Anlass für den Hinweis nehmen, dass Selektoren gerade der Fall einer anlassbezogenen Überwachung sind, denn es gibt für jeden einzelnen eine Begründung; meine Kritik am Verhalten des BND fasst ja gerade in´s Auge, dass er die für die NSA-Selektoren vorhandenen Begründungen schlicht und einfach nicht lesen konnte. Vom Ausgangspunkt her handelte es sich trotz der großen Zahl um begründete und somit anlassbezogene Maßnahmen.

Nach welchen Menschenrechtsstandards beurteilt sich dies bei Nichtdeutschen?

Der größte Teil der „Nichtdeutschen“ waren Regierungsstellen, die grundsätzlich keinem Menschenrechtsstandard unterliegen. Deshalb werden sie in völkerrechtlichen Verträgen durch Vertragsrecht geschützt; das ist ja der tiefere Sinn in der Diskussion um sog. No-Spy-Abkommen. Ansonsten hängt dies von dem Schutzbereich supranationalen und internationalen Rechts ab. In Bezug auf nachrichtendienstliche Aufklärung ist dieser Schutz weitgehend ausgenommen. Dies habe ich im Gutachten auseinandergesetzt (dort S. 53 ff.).

Soll das heißen, dass gegen ausländische Regierungsstellen rechtlich alles erlaubt ist?

Objektives Recht ist ungeachtet der Nichtanwendbarkeit von Grundrechten zu beachten. Allerdings gibt das Völkerrecht gegenwärtig für den Schutz vor Spionage nicht viel her. Diese Situation verantworten aber alle Staaten gemeinsam, insbesondere all jene Regierungen, die keine entsprechenden Abmachungen zum Schutz vor Spionage abgeschlossen haben und deshalb rechtsfehlerfrei ausspioniert werden dürfen.

Der Streit um die Rechts­grund­lagen

Im Streit über ihr Gutachten geht es im Kern darum, welche Rechtsmaßstäbe für Kooperationen mit ausländischen Geheimdiensten gelten. Dabei wird Ihr Umgang mit der sogenannten Weltraumtheorie, wie sie der BND vertritt, kritisiert. Nach dieser Theorie sind die bei der satellitengestützten Kommunikation erhobenen Daten, die gewissermaßen im Weltraum erhoben werden, nicht durch das Grundgesetz geschützt, da sich die Satelliten außerhalb der Reichweite der deutschen Rechtsordnung befinden. Welchen verfassungsrechtlichen Bindungen unterliegt ihrer Meinung nach die Auslandsaufklärung des BND?

Zur Valenz der sog. Weltraumtheorie habe ich mich im Gutachten nicht geäußert. Bei meinem Lösungsansatz kam es auf sie nicht entscheidend an. Die maßgeblichen rechtlichen Erklärungen ergeben sich nach meiner Ansicht aus dem MoA, und das spielt auf dem Boden, weder im Weltraum des BND noch im Universum der gegenteiligen Auffassung. Wer mir die Parteinahme für eine dieser Theorien unterstellt, hat das Gutachten nicht gelesen oder nicht verstanden. Ich vertiefe gerne das Verständnis für meinen Lösungsansatz, enthalte mich aber der dafür nicht nützlichen Kritiken an anderen Auffassungen.

Warum glauben Sie, dass es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Selektoreneinsatzes nicht auf die Weltraumtheorie ankommt?

Das von BND und NSA geschlossene MoA zur Kooperation in Bad Aibling begründet einen Durchleitungsvertrag, demzufolge der BND die fernmeldetechnische Anlage betreibt und die NSA die Aufklärungszwecken dienenden Selektoren zur Durchleitung anliefert; dies geschieht automatisch und in einem geschlossenen System, das – ebenso automatisch und geschlossen – erfasste Daten an die NSA ausleitet. Ein solcher Vertrag, insbesondere ein völkerrechtlicher, scheidet die Rechtsregime des Anlagenbetreibers und des Inhalte Verwertenden. Wir kennen die damit verbundenen Fragestellungen aus den Diskussionen um Soziale Netzwerke oder Suchmaschinen und Netzbetreiber, aber auch von Kabelinhabern und Rundfunkveranstaltern etc. Für all diese Fälle gilt: Die rechtliche Verantwortlichkeit für die Anlage und für die Inhalte sind nicht gleichzusetzen. In Bezug auf eine transnationale nachrichtendienstliche Fernmeldekooperation gilt daher vorrangig die vertragliche Vereinbarung und lediglich nachrangig das nationale Recht.

Aus der Befassung mit den Rechtsfragen um solche Durchleitungsanlagen oder Plattformen wissen wir aber, dass es Interventionspunkte geben muss, nicht nur wenn gegen Vertragsrecht verstoßen wird, sondern auch wenn hochrangige Rechtsgüter und -grundsätze verletzt werden. Nach der von mir im Gutachten vertretenen Rechtsauffassung gelten – ungeachtet des Streites um die sog. Weltraumtheorie oder die Theorie von der universellen Geltung deutscher Grundrechte – jedenfalls, aber nicht abschließend, der aus der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) folgende Kernbereichsschutz des Fernmeldegeheimnisses und der dem Rechtsstaatsprinzip entspringende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als zwei zu beachtende rechtliche Schranken. Damit derartige Grundsätze überhaupt geschützt werden können, bedarf es der Möglichkeit und Notwendigkeit kontrollierender Einblicke durch den Anlagenbetreiber. Und an dieser Stelle setzte meine Kritik an der Steuerungspraxis des BND ein. Der BND konnte die Begründungen für gelieferten Selektoren bei der größten Datenbank der NSA nicht lesen. Das war kein Problem der NSA, sondern der unzulänglichen deutschen Software. Unter diesen Umständen war keine Entscheidung über den rechtsförmigen Charakter dieser Selektoren möglich, ihr Einsatz hätte unterbleiben müssen. Das habe ich im Einzelnen im Gutachten ausgeführt (S. 206 ff.).

Kann sich ein internationaler Kooperationsvertrag von den Rechtsbindungen lösen, die für den BND generell gelten? Muss ein solcher Vertrag nicht den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Bindungen genügen, denen der BND unterliegt? Wenn bei einem völkerrechtlichen Vertrag der gesamte Vertragsinhalt über das Zustimmungsgesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit geprüft werden kann – wie sollte es dann möglich sein, dass ein internationaler Kooperationsvertrag, den die Exekutive verantwortet diese Bindungen unterläuft? Wie stellt das hier einschlägige Vertragsrecht diese Bindungen sicher?

Die Rechtsbindungen des BND müssen bei der Verbands- und Abschlusskompetenz für eine internationale Vereinbarung geprüft werden. Der materielle Prüfungsmaßstab ergibt sich aus der Aufgabenbeschreibung in § 1 Abs. 2 BNDG. Bislang hat niemand dargelegt, weshalb das MoA dagegen verstößt. Bei Ausführung des MoA können das Tun des BND und dasjenige der NSA nicht gleichgesetzt werden, weil sie für unterschiedliche Handlungsebenen in der Kooperation zuständig sind. Handlungen der NSA können dem BND nicht ohne weiteres zugerechnet werden und umgekehrt.

Aber was soll sich speziell aus der Spezifik eines „Durchleitungsvertrages“ für die Rechtsbindungen ergeben? Meinen Sie, dass wegen der inhaltlichen Verantwortung der NSA für die Selektoren der BND dafür keine oder nur eine abgeschwächte Verantwortung hat? Die von Ihnen beschriebene Nachrangigkeit nationalen Rechts leuchtet mir nicht ein. Warum sollte bei einem internationalen Durchleitungsvertrag etwas zulässig sein, was nach der Verfassungsordnung der Bundesrepublik nicht erlaubt ist, nur weil der ausländische Vertragspartner für die Inhalte zuständig ist? Übernimmt er deswegen tatsächlich die alleinige Verantwortung?

Der deutsche Bundesstaat liefert die naheliegende Anschauung für eine solche differenzierte Verantwortlichkeit im Sicherheitsrecht. Soweit Länderbehörden auf Plattformen des BKA eingriffsintensive Informationen einstellen, trifft die Passivlegitimation im Falle der Rechtsfehlerhaftigkeit solcher Informationen das entsprechende Bundesland und nicht den Bund. Nun setze ich die föderalen und die völkerrechtlichen Verhältnisse aber gar nicht gleich. Die Suche nach Bewertungsmaßstäben ist bei Durchleitungsverträgen und Plattformen nach meiner Beobachtung noch im Fluss. Daher habe ich im Gutachten zunächst einmal für notwendig erachtet, dass der durchleitende Partner den jederzeitigen verständigen Einblick haben kann. Ferner halte ich unabdingbare und international unstreitige Rechtsgrundsätze für beachtlich. Das sind für mich mindestens der Schutz der Menschenwürde und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Hier sehe ich Diskussionsbedarf, denn es handelt sich um rechtliches Neuland, das erst durch das Gutachten sichtbar geworden ist.

Fazit

Worin sehen Sie die Wirkungen ihres Gutachtens und wie beurteilen Sie diese nach dem Fegefeuer des parlamentarischen und medialen Streites über Ihr Gutachten?

„Fegefeuer“ – glaubt die Humanistische Union neuerdings daran? Die Reaktionen auf das Gutachten habe ich unterschiedlich erlebt. Neben Kritik gab es eine Menge Zuspruch. Die Regierungsfraktionen, die ja nun immerhin die überwältigende Mehrheit stellen, haben das Gutachten begrüßt. Die von der Opposition vorgebrachten und in den Medien stellenweise unterstützen Kritiken haben vor allem taktische Bedeutung. Die Opposition muss ja darlegen, weshalb sie die Selektoren nach Vorlage des Gutachtens immer noch sehen will und warum sie ihren Antrag auf Einsicht beim Bundesverfassungsgericht noch aufrecht erhält. Mir ist – bei aller Lautstärke des Vorbringens – nicht klar geworden, was sie denn inhaltlich noch vermisst. Im Hinblick auf die oben ausgeführte eigentumsrechtliche Situation halte ich ihre Chancen auf Einsichtnahme ohnehin nicht für überzeugend. Ein Teil der sog. investigativen Medien weist analytisch geringe Tiefe auf und hängt an der Veröffentlichung von „skandalhaften Geheimnissen“. Wer jedoch tiefer graben will, findet in dem Gutachten jede Menge Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung des Schutzregiments durch und gegen nachrichtendienstliche Arbeit. Diese Chance sollte genutzt werden.

Was wäre eine solche Chance?

Eine im Gutachten erörterte Ebene ist in der öffentlichen Diskussion viel zu kurz gekommen: Die Selektoren sind in einer nachrichtendienstlichen Kooperation angefallen. Solche Kooperationen bestehen aus sicherheitspolitischen Gründen, weil sie multilateral und somit strukturell friedenssichernd sind. Sie verlegen die zunächst nur bis an die eigene nationale Grenze reichende Sicherheitszone nach außen, an die Grenze des Bündnisses. Solche Kooperationen bestehen aber auch aus finanziellen Gründen, weil sie Kosten sparen. Die Bundesrepublik hat den mit Abstand kleinsten Auslandsnachrichtendienst der deutschen Geschichte. Ohne Kooperationen müsste dafür viel mehr eigenes Geld und Personal aufgewendet werden.

Inzwischen hat eine „Taskforce“ im Auftrag des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) die Liste jener Selektoren überprüft, die der BND selbst entwickelt und in der Anlage in Bad Aibling eingesetzt hat. Sehen Sie Unterschiede zwischen den Bewertungsmaßstäben der „Taskforce“ und den in Ihrem Gutachten verwendeten Maßstäben?

Zu diesen Bewertungsmaßstäben liegen mir nur spärliche Mitteilungen aus der Presse vor, eine geschlossene Darstellung kenne ich nicht. Es handelt sich insofern aber um einen anderen Sachverhalt, als die Selektoren in diesem Fall von einem deutschen Nachrichtendienst stammten und nicht von einem Partnerdienst. Daher dürften ein MoA und ein Durchleitungsvertrag keine Rolle gespielt haben.

Würden Sie eine solche Untersuchung noch einmal machen? Und wenn ja: was würden Sie anders machen?

Ich würde es noch einmal machen, wenn es wieder versprechen würde, spannend und anregend zu sein und wenn die Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen in Parlament, Regierung und Verwaltung stimmt. Bei diesem Durchgang hat die Opposition bedauerlicherweise ihre Möglichkeiten unterschritten.

Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Der Bericht zum Nachlesen:

Dr. Kurt Graulich: Nachrichtendienstliche Fernmeldeaufklärung mit Selektoren in einer transnationalen Kooperation. Prüfung und Bewertung von NSA-Selektoren nach Maßgabe des Beweisbeschlusses BND-26, Bericht im Rahmen des 1. Untersuchungsausschusses des 18. Deutschen Bundestags; abrufbar unter: http://www.bundestag.de/blob/393598/b5d50731152a09ae36b42be50f283898/mat_a_sv-11-2-data.pdf.

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